Drei Taxifahrer
Nichts von alledem, und wirklich: die Stimmung in der Stadt wirkt gar nicht so umkämpft.
Unser dritter Taxifahrer an diesem Tag wird erzählen, wie er das wahrnimmt: Ja, sicher, die Leute würden diskutieren und das auch leidenschaftlich tun. Da hätten sich Lager gebildet, das Volk sei schon gespalten über die Frage der Unabhängigkeit. Aber das müsse man eben klären, da keiften die Leute nicht herum oder würden aggressiv untereinander deswegen.
Er selber zum Beispiel sei gar nicht unbedingt für die Unabhängigkeit. Aber was die spanische Seite da mache, die Polizeigewalt gegen das Referendum zum Beispiel, oder heute, diese Haftbefehle gegen die katalanische Regierung: „Das geht doch nicht!“
Er sei dafür, dass die Menschen selber entscheiden könnten. Das sei eben Demokratie, oder?
Der zweite Taxifahrer sah das ähnlich. Ganz ruhig und abgeklärt erklärte er uns in seiner Bassstimme die Situation. Vielleicht hätte man den Konflikt noch beilegen können, meint er, durch vernünftige Gespräche. Die habe Spanien grundsätzlich verweigert, und dann das mit der Gewalt und jetzt die Haftbefehle gegen die Minister der Regierung: das sei eindeutig zuviel, das könne man jetzt nicht mehr kitten. Und lächerlich sei das, völlig überzogen.
Überhaupt, sagt er kopfschüttelnd, was sei von einer Demokratie zu halten, die Leute verprügelt, die wählen wollen?
Dann diese Neuwahlen am 21. Dezember, die Rajoy ausgerufen habe. Da heiße es jetzt schon aus Madrid: wenn die so ausgehen, wie sie es nicht wollen und die Parteien der Unabhängigen wieder die Mehrheit bekommen, dann werde man gar keine neue Regierung zulassen, sondern Katalonien weiter unter Zwangsverwaltung stellen, mit dem §155 der spanischen Verfassung.
„Das können die vergessen“, sagt der Fahrer, lächelnd und sehr ruhig. Da werde sich demnächst ohnehin einiges ändern.
Der erste Taxifahrer, der uns vom Flughafen zum Hotel gebracht hat, hatte das ganz anders gesehen. Dem Dialekt nach war Spanisch nicht seine Muttersprache. Ein Einwanderer vielleicht, der sich hier einen bescheidenen Wohlstand und etwas Sicherheit erarbeitet hat. Er war nicht nur klar gegen die Unabhängigkeit, sondern ziemlich genervt von dem ganzen Durcheinander.
Das seien vor allem junge Leute, diese „Independistas“. Leute, die keine Verantwortung übernehmen müssten für eine Familie seien das, Studenten, mit lauter Flausen im Kopf.
Und sehr radikal sei diese Bewegung. Das sei nicht gut für den Tourismus, und die Wirtschaft habe sich gerade erst erholt und jetzt hätten 1.500 Firmen ihren Hauptsitz aus Barcelona wegverlegt wegen der Unsicherheit. Das könne doch niemand wollen!
Aber das werde sich schon wieder beruhigen, in einem Jahr sei das vorbei mit diesen Independistas und alles werde wieder beim Alten sein.
Eine Straßenbefragung
Die Erwartung, bald werde alles in den Normalzustand zurückkehren, können wir im weiteren Verlauf unseres ersten Tages in Barcelona eher nicht bestätigen.
Aus vielen Fenstern und Balkonen hängt die Fahne Kataloniens, aber man sieht auch die spanische Flagge. Als wir uns am Parc de l’Espanya Industrial aufstellen, um mit Mikrophon und Kamera wildfremde Leute zu befragen, ist es unproblematisch, ins Gespräch zu kommen.
Martha und Iwan sind 22 und 24 Jahre alt. Er ist ursprünglich aus Galizien. Sie ist Katalanin, geboren und aufgewachsen in Barcelona.
Martha ist eine Independista! Am 1. Oktober hat sie in einer Schule geschlafen, die ein Wahllokal des Referendums war. Mit vielen anderen war sie dort, um die Schule vor der Guardia Civil zu schützen.
Und dieser Puidgedemont? Erstens habe der eine unmögliche Frisur, damit fange es schon an. Zweitens habe er sie alle im Stich gelassen, er sei ein lausiger Anführer und wegen ihr könne er gleich in Brüssel bleiben, da passe er eh viel besser hin.
Ihr Freund Iwan dagegen hält diese ganze Unabhängigkeitsbewegung für Zeitverschwendung. Seine Begründung ist interessant: am Ende gehe es ganz einfach um „oben gegen unten“. Und oben und unten, das gebe es doch auf der katalanischen Seite genauso und deswegen müsste man das ganz anders angehen, wenn sich wirklich etwas ändern solle!
Eine Frau um die 60 reagiert sehr emotional, als wir sie fragen, wie es ihr gehe. Wie soll es ihr schon gehen? Schlecht natürlich! Sie sei ganz erschüttert, sagt sie, den Tränen nahe. Diese Haftbefehle jetzt, das sei sehr schmerzhaft für sie und das könne doch alles nicht wahr sein. Dann sieht sie das Kreuz am Hals unserer Übersetzerin Mariana, die es wunderbar versteht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Sie sei auch Christin, sagt die Frau dann und sie bete jeden Tag, dass Gott für Gerechtigkeit sorge. Denn sie wisse zwar nicht, was das für Leute seien, die mit Gewalt und Unterdrückung auf Katalonien losgingen, aber Christen seien das jedenfalls keine!
Das Alter von Raphael ist schwer einzuschätzen. Er ist von der Arbeit gezeichnet. Mit krummem Rücken schiebt er einen beladenen Karren vor sich hin. Als ich frage, ob er uns trotz seiner schweren Arbeit einige Fragen beantworten wolle, lacht er und zischt durch seine kaputten Zähne: Das? Das sei doch keine schwere Arbeit. Da gebe es viel schwerere Arbeiten.
Sein harter Dialekt ist für Mariana eine Herausforderung und Raphael ist nicht nur gegen die Unabhängigkeit, sondern er ist längst gegen alles, weil sich eh nichts ändert für Leute wie ihn, aber damals, unter Franco, da hätte man mit dem eisernen Besen aufgeräumt!
Im Bahnhof treffen wir noch Alma und Samuel. Sie sind Kollegen und habe ebenfalls gerade mit ihrer Kamera zu tun, als wir sie ansprechen. Sie arbeiten für einen staatlichen spanischen Sender, und es sei schon schwierig: man versuche, seine Arbeit zu machen, aber die Leute seien sehr unzufrieden und am Ende sei man an allem schuld, egal wie man es anstelle.
Ja, natürlich, politischen Druck, den gebe es schon. Die katalanischen Medien berichteten sehr einseitig pro-katalanisch und die spanischen Medien sehr einseitig pro-spanisch, aber sie selber würden sich bemühen, möglichst neutral zu sein und sachlich zu berichten.
Zehntausende vor dem Parlament
Von Alma bekommen wir den Hinweis, dass es gleich eine Kundgebung im Park vor dem Parlament geben wird.
Die Menschen protestieren für die Freilassung der bereits Inhaftierten und gegen die neuerlichen Haftbefehle. Auch von Anna Garcia Santos kommt eine WhatsApp. Sie ist schon dort, ob wir auch hinkommen?
Der Park vor dem Parlament ist für sich bereits ein Politikum, das uns ins Herz der katalanischen Sache führt.
1714 war Barcelona erst nach dreizehnmonatiger Belagerung im spanischen Erbfolgekrieg gefallen. Philipp V. ließ daraufhin eine Festung mit schwerer Artillerie auf dem Hausberg Barcelonas, dem Montjuïc, errichten. Im Herzen der Stadt wurde eine sternförmige Zitadelle erbaut, die größte ihrer Zeit. Um für diese Zwingburg Platz zu schaffen, wurde ein ganzes Stadtviertel mit 1.200 Häusern und den Klöstern Sant Agustí und Santa Clara dem Erdboden gleichgemacht.
Die Zitadelle war das umkämpfte Symbol der spanischen Fremdherrschaft. 1841 befahl dann die Junta de Vigilancia befahl 1841 den Abriss. Zwei Jahre später ordnete die spanische Königin, die Bourbonin Maria Christina, die Restaurierung an.
Aber eine Volksaufstand in ganz Spanien trieb sie kurz darauf ins Exil. In der Revolution von 1861 wurde die Zitadelle im Herzen Barcelonas dann von den aufständischen Massen endgültig zerstört.
Aus der ebenen, freien Fläche, die nun weder eine Zitadelle noch ein Stadtviertel beherbergte, ist inzwischen ein wunderschöner Park geworden, mit herrlichem Baumbestand, kunstvollen Hecken und Blumenbeeten und Wasserspielen.
Am Ende dieses Parks steht nun, symbolträchtig genug und erneut schwer umkämpft, das Parlament Kataloniens.
Davor befindet sich jetzt eine große Menschenmenge. Die Polizei wird von 20.000 Teilnehmern sprechen. Wir selber können es nicht gut einschätzen, aber es sind sehr, sehr viele Menschen - und es sind Menschen aus allen Bereichen des Volkes, alte und junge, arme und wohlhabende, alternativ Gekleidete und sehr ordentlich Angezogene.
Die Behauptung unseres ersten Taxifahrers finden wir somit eher nicht bestätigt.
Ja, es sind viele junge Menschen hier. Aber wie eine reine Jugendbewegung kommt uns die Kundgebung vor dem Parlament nicht vor.
In die Masse sprechen!
Mich beeindruckt die Atmosphäre! Das wirkt ruhig, kraftvoll und entschlossen. Diese Kundgebung kommt völlig ohne die Pseudomilitanz und das Kraftgemeiere aus, wie man das in Deutschland kennt.
Die Leute sind empört über die Haftbefehle. In Sprechchören sagen sie, dass sie keinen Meter zurückweichen werden, dass die Gefangenen nicht alleine sind, dass Europa endlich hinschauen soll, was hier geschieht - und sie rufen „No Pasaran“, den alten Schlachtruf des Bürgerkriegs gegen die Franco-Faschisten: „Sie kommen nicht durch!“
Aber diese Menschen scheinen mir sehr weit davon entfernt, sich zu irgendwelchen unüberlegten Aktionen hinreissen oder überhaupt provozieren zu lassen. Denn diese Bewegung ist stark, sie ist organisiert und in der Tiefe des Volkes verankert.
Sie hat es deshalb nicht nötig, ihre Schlagkraft in idiotischen Einzelaktionen unter einen wenig überzeugenden Beweis zu stellen. Man hat andere, bessere Handlungsoptionen.
„Generalstreik! Generalstreik!“, rufen die Leute immer wieder. Auch die Redner kommen immer wieder darauf zurück, dass man bald wieder streiken werden, das ganze Land lahmlegen.
Interessant ist die Sprechhaltung der Redner. In Deutschland ist sie immer dieselbe.
Auf unseren Demonstrationen und Kundgebungen sprechen die Redner fast ausschließlich nach oben. Sie klagen die Mächtigen an, kritisieren sie, halten ihnen vor, was sie alles zu verantworten haben und weisen sie auf die Konsequenzen ihres Tuns hin. Unsere Redner bitten, wehklagen und schimpfen. Sie fordern auch und machen Vorschläge - aber auch diese richten sie wiederum nach oben, an die Mächtigen.
Damit bliebt die Frage, wie man diese gesammelte, sehr richtige Kritik und diese noch richtigeren Forderungen durchsetzen könnte, immer eigenartig in der Luft hängen. Bis auf die Kundgebungsredner der Linkspartei: die sagen uns dann, dass wir sie wählen sollen, damit sie das dann alles machen, für uns…
Die Redner hier sprechen nach unten, sprechen sozusagen ins Innere der Masse. Sie unterbreiten sehr konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen.
Sie beschreiben auch die emotionale Haltung, die jetzt nötig sein wird, ruhig und entschlossen. Sie stellen in Aussicht, dass es jetzt eine Phase der harten Auseinandersetzung geben wird, durchaus auch mit Rückschlägen, mit bösen Angriffen des spanischen Staates. Dass man deshalb seine Kraft gut einteilen und sich nicht zu unüberlegten Haltung hinreißen, aber sich auch nicht einschüchtern lassen, sondern konsequent weiter die Bewegung aufbauen solle.
Sie verweisen auf die nächste Großdemonstration am 12. November, zu der wiederum Hunderttausende erwartet werden. Sie machen sehr konkrete Vorschläge für die weitere Organisation der Bewegung. Und sie sprechen über die nötige, praktische Solidarität mit den Inhaftierten und mit deren Familien - und geben Hinweise für die Vernetzung der Bewegung.
Als Leute herausfinden, dass wir Journalisten aus Deutschland sind, ist die Freude groß, aber auch die Erwartung. „Sagt den Leuten, was hier wirklich passiert.“ / „Die Gewalt geht nicht von uns aus!“ / „Wir fordern nur unsere Rechte ein!“ / „Europa muss wissen, was hier passiert.“
Lärmen für die Demokratie
Auch wir vernetzen uns weiter. Wir treffen nach langem Suchen endlich Ana Garcia Santos. Sie ist Deutschlehrerin in Barcelona.
Mit ihr und einer Freundin gehen wir etwas Trinken.
Im katalanischen Fernsehen hält Puidgedemont derweil eine Rede. Sie ist gut, wie ich finde. Er sagt, dass Madrid mit den Haftbefehlen einen schweren Fehler gemacht und die Würde einer wundervollen, europäischen Nation verletzt habe. Er ruft die Menschen auf, nicht zurückzuweichen.
Plötzlich bricht Lärm los! Überall klappert und scheppert es, auf den Balkonen sind lärmende Menschen, an den anderen Tischen des Lokals schlagen die Leute mit dem Besteck an die Gläser oder machen anderweitig Geräusche, auf der Straße beginnt ein Hupkonzert.
„Es ist zehn Uhr!“, sagt die Deutschlehrerin: „Da schlagen wir auf die Töpfe, um unseren Protest zu zeigen. Und wer keinen Topf zur Hand hat, macht das anders - oder benutz diese App.“
Tatsächlich gibt es eine Topfschlage-App, um sich an der Aktion zu beteiligen. In ganz Katalonien breche dieser Lärm los, jeden Abend, ab 22.00 Uhr, für eine Viertelstunde, erklärt uns die Deutschlehrerin.
Sind diese Katalanen „geizige, kleinliche, unsolidarische Wichte“, wie die Süddeutsche kürzlich einen Autoren nahelegen ließ? Ich bin noch nicht einmal sicher, ob die Frage der staatlichen Unabhängigkeit wirklich das Herz dieser Bewegung darstellt.
Mir scheint es im Kern viel eher ein Kampf um Demokratie und Selbstbestimmung zu sein. Es ist ein Kampf um die Würde und die Rechte des Bürgers im 21. Jahrhundert - der hier momentan in Form eines Konflikts um die Unabhängigkeit ausgetragen wird.
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