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Symbolische Wirklichkeiten

Symbolische Wirklichkeiten

Mythen enthalten wertvolle und zeitlose Mitteilungen über die Tiefenschichten der menschlichen Seele.

„Der Mensch zählt nur so viel, wie er die großen Symbole begreift“
Sándor Márai (1900 bis 1989).

Mythen sind lebendige Wesenheiten. Generationen namenloser Erzähler und Zuhörer haben an ihrer Ausgestaltung mitgewirkt, bis sie schließlich schriftlich niedergelegt und somit der Überlieferung zugänglich wurden. Auf verschlungenen Wegen, die sich über unvorstellbare Zeiträume erstrecken, haben die Kreativität, Wissbegierde und existentielle Not unserer Urahnen dazu beigetragen, symbolische Wirklichkeiten als unerschöpfliches Reservoir vieldeutiger Komplexe im kulturellen Gedächtnis zu verankern. So lange wurden die Mythen in allen ihren Varianten durchgespielt, bis ihr Substrat mit Fug und Recht beanspruchen durfte, den kollektiven Erfahrungshorizont der Menschheit widerzuspiegeln.

Unter abenteuerlichen Bedingungen gruben ab Mitte des 19. Jahrhunderts Archäologen die Scherben antiker Tontafeln aus der Erde und setzten sie in mühsamer Kleinarbeit wieder zusammen. Gelehrte und Autodidakten, die ihre Wissenschaft im Grunde erst selbst erfinden mussten, entzifferten die rätselhaften Zeichen und fertigten Übersetzungen und Neubearbeitungen an. Die Rezeptionsgeschichte ihrer Funde, die längst nicht abgeschlossen ist, zeugt von der Unbeirrbarkeit, mit der Menschen zu allen Zeiten versucht haben, die Fragen nach Herkunft, Sinn und Ziel ihrer Existenz sinnbildlich zu umkreisen: in den Chiffren ihrer eigenen Epoche, doch innerlich stets verbunden durch dieselben Ausgangsfragen.

Anders als in späteren Formen literarischer Weltaneignung — etwa dem Gedicht oder dem Roman — geht es in den antiken Mythen eben nicht um das Schicksal des Einzelnen zu einer bestimmten Zeit, sondern um das aller Menschen zu allen Zeiten. Dies ist das Geheimnis ihrer Übertragbarkeit und der Grund für die Unerschöpflichkeit ihrer möglichen Auslegungen.

Für den Philosophen und Psychoanalytiker Erich Fromm sind Mythen wichtige Mitteilungen von uns selbst an uns selbst. Geraten sie in Vergessenheit, verlieren wir unweigerlich ein uraltes Menschheitswissen, das sich jeder Dogmatik entzieht und deshalb niemals im Sinne einer herrschenden Ideologie instrumentalisiert werden kann.

Mythen sind keine Gebrauchsanweisungen. Im Gegensatz zu den sogenannten exakten Wissenschaften, die auf Unwiderlegbarkeit zielen, sind sie ihrer Natur nach polyvalent. Ihre Bedeutung ist niemals statisch, sondern variiert situationsbedingt.

Dabei kann das Pendel bald in diese, bald in jene Richtung ausschlagen. Es ist dann Sache des Lesers oder Zuhörers, den möglichen Sinngestalten in seinem eigenen Leben nachzuspüren.

Dass dies in einer Welt der klaren Ansagen und schlüssigen Antworten für die meisten Menschen alles andere als selbstverständlich ist, liegt auf der Hand. Doch nur zu demjenigen, der frei und furchtlos genug ist, seiner Wildheit ins Auge zu blicken, spricht der Mythos. Nur ihm kann er helfen, sich selbst und die Beziehungen, in denen er steht, auf einer tieferen Ebene zu durchdringen, niemals ein für allemal, sondern immer unter dem Vorbehalt, es könne morgen alles schon wieder ganz anders sein. So tief ruht der Mythos in sich selbst, dass er es sich leisten kann, unendlich beweglich zu bleiben.

Einer der ältesten überlieferten Mythen der vorderasiatischen Tradition, die ihrerseits die europäische Antike inspirierte, findet sich im Gilgamesch-Epos aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., das Rainer Maria Rilke das Epos der Todesfurcht nannte, und in dem wir bereits sämtliche Komplexe finden, die seit je die Suche des Menschen nach Orientierung in seiner Lebenswelt und im Kosmos vorantreiben.

Gilgamesch war, soweit wir wissen, König der Sumerer, eines Volkes, das im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris siedelte, dem antiken Mesopotamien, das heute zum Irak gehört. Sein Leben wird im Epos in Form einer abenteuerlichen Reise erzählt, die ihn Schritt für Schritt zu einer Persönlichkeit reifen lässt. Dieser Rahmen, der die Narration bis in die zeitgenössische Populärkultur hinein prägt, wird in manchen Kontexten auch als Heldenreise bezeichnet, wobei der Begriff Held hier nicht vorrangig äußere Stärke meint, sondern auf menschliche Selbsterkenntnis zielt.

Derjenige, der zu sterben gelernt hat, der hat zugleich verlernt, ein Sklave zu sein, heißt es einmal bei Michel de Montaigne, und genau darum geht es auch im Gilgamesch-Epos.

Zu Beginn der Handlung wird Gilgamesch, der zu zwei Teilen Gott und zu einem Teil Mensch ist, als kraftstrotzender Tyrann präsentiert, der den Gesetzmäßigkeiten der äußeren Welt nicht nur gehorcht, sondern sie als erster Mann im Staat beispielgebend vertritt. Durch seine Freundschaft zu Enkidu, der zu zwei Teilen Tier und einem Teil Mensch ist, erfährt er seine Komplementierung. Gemeinsam repräsentieren sie die Triade Gott-Mensch-Tier. Unbesiegbar sind sie deshalb aber noch lange nicht. Obwohl es ihnen gelingt, das Böse, das im Epos in Form des Waldungeheuers Humbaba auftritt, zu töten, sind dadurch längst nicht alle Probleme gelöst.

Nach ihrer Rückkehr in die Zivilisation erkrankt Enkidu schwer und stirbt schließlich. Im Angesicht seines Todes wird Gilgamesch der eigenen Sterblichkeit inne und beschließt nun, sich auf die Suche nach dem Geheimnis der Unsterblichkeit zu begeben. Die Erkenntnis, dass der Tod nicht zu besiegen ist, wird in diesem Urtext der Literatur, anders als in den meisten religiösen Schriften, zum Triumph der Endlichkeit umgedeutet. Worum es am Ende geht, ist, das Unabänderliche ohne transzendentale Tröstungen hinzunehmen und sogar zu bejahen. Nach Hause zurückgekehrt, beschließt Gilgamesch, seine Lebensreise für die Nachwelt aufzuzeichnen.

Im Gegensatz zu Sigmund Freud, der Mythen als Sublimierung seelischer Verdrängungsprozesse begreift, erkennt sein ehemaliger Schüler Carl Gustav Jung in ihnen die zeitlosen Archetypen des kollektiven Unbewussten, in denen kulturübergreifend die Grundkonflikte der menschlichen Existenz artikuliert werden. In seiner Interpretation erscheinen Mythen nicht als irrationale Vorstufen des Logos, sondern stehen selbst bereits für die Verobjektivierung innerer Vorgänge mit dem Ziel, sie dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Was sie von der Philosophie unterscheidet, ist ihre grundsätzliche Unabgeschlossenheit. Während wissenschaftliche Theorien auf Allgemeingültigkeit hin angelegt sind, appelliert der Mythos an die Fähigkeit jedes Einzelnen, die für ihn relevanten Komplexe zu erspüren und auf seine Weise zu bearbeiten. Er erzählt, statt zu belegen und steht in diesem Sinne, um es mit den Worten des Philosophen Hans Blumenberg zu sagen, für die Beschwörung der Dauerhaftigkeit der Welt im Ritual.

In der europäischen Tradition wird die Menschheitsgeschichte meist unter emanzipatorischer Perspektive beschrieben: Das Vertrauen in die sinnstiftende Kraft von Mythen und Märchen wird vom Glauben an Religionen abgelöst. Es folgen die Renaissance, die Aufklärung, das Wissenschaftliche Zeitalter und mit ihm die Proklamation des Individuums zum Subjekt der Geschichte. In dieser Abfolge können Mythos und Ritual eigentlich nur als hilfloser Versuch erscheinen, das Unwissen um die wahren Zusammenhänge in Beschwörungsformeln ohne jedes Erkenntnispotential zu bannen. Dagegen stehen die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik, die das Leben zwar sicherer und komfortabler machen, den Menschen aber zugleich von seinem inneren Selbst abspalten, das niemals vollkommen ausgeleuchtet, geschweige denn beherrscht werden kann.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägt Sigmund Freud für dieses Dilemma des Menschen in der Moderne das Wort vom Ich, das nicht Herr im eigenen Haus ist.

Die Unmöglichkeit, Vernunft und Intuition noch in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen, hat ein Gefühl existentieller Heimatlosigkeit zur Folge. Statt an Schicksal, Sterne und Dämonen glauben die Menschen nun an Formeln, Zahlen, Statistiken und — an die Unveränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Dies ist, in Grundzügen, die Argumentation von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem gemeinsamen Werk Dialektik der Aufklärung von 1947, das in den 1960er Jahren zu einem philosophischen Kultbuch avancierte und heute leider nur noch selten zitiert wird. Dabei ist gerade ihr Erklärungsmodell meines Erachtens in besonderer Weise dazu geeignet, das Dilemma der Jetzt-Zeit jenseits von Ideologie plausibel zu machen.

Worum es bei der Beschäftigung mit Mythen nicht gehen kann, ist Imitation und Folklore. Gesichtsbemalungen, Hausaltäre und schamanische Reisen im Pauschalangebot gehen eindeutig in die falsche Richtung. Kein Weg führt zurück ans Lagerfeuer. Die Gegenwart der Mythen, ihre Daseinsberechtigung heute und zu allen Zeiten, drückt sich vielmehr in einem grundsätzlichen Zweifel am Absolutismus der Wirklichkeit, so Hans Blumenberg, aus.

So, wie es ist, muss es nicht bleiben — ebenso wenig wie ich heute diejenige bleiben muss, die ich gestern war. Sich nicht aus dem Kramladen des Zeitgeistes bedienen zu lassen und die Ambivalenzen und Widersprüche, mit denen uns das Leben in jeder Sekunde herausfordert, anzunehmen, statt sie zu verjagen, sind nur einige der Anregungen, die Mythen für uns bereithalten. Vollkommen umsonst.

Denn sie, die vor dem Leben keine Angst haben, können es sich erlauben, großzügig zu sein. Steig furchtlos in deine eigenen Tiefen, flüstern sie, du bist dort auf keinen Fall allein, denn es sind in ihnen ja schon alle Menschen.


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In ihrem Berliner Tagebuch sammelt die Autorin Alltagsimpressionen, die Schrecken bergen, aber immer wieder auch aufblitzende Schönheiten im Kleinen.