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Das Virus der Moralisierung

Das Virus der Moralisierung

In seinem neuen Buch „Im Moralgefängnis“ erklärt der Philosoph Michael Andrick, wie die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen, die Menschen wieder zueinanderführen könnte.

Diagnose Kommunikationsverseuchung

Michael Andrick hat sich 2020 mit seinem ersten Buch „Erfolgsleere“ quasi aus dem Nichts in seine heutige erfolgreiche Position als Autor geschrieben. Mit „Erfolgsleere“ zeigte er die destruktiven Mechanismen eines Arbeitsklimas auf, in dem Anpassung höher gewertet wird als Sachverstand oder gar Mut zum Widerspruch.

Nun legt der promovierte Philosoph sowohl auf psychologischer, als auch sozialer und politischer Ebene eine Diagnose unserer öffentlichen Debatte vor. Seine These: Der Missbrauch moralischer Urteile ist zum Kommunikationsvirus geworden, der den Organismus Demokratie auf lebensgefährliche Weise befallen hat. Aber eins nach dem anderen.

Es gehört zur besonderen Kunst des Autors das Ineinanderwirken von Privatem und Gesellschaftlichem oder eben von Politik und Psychologie zu erkennen und aufzudecken. Der Untertitel seines neuen Buches verheißt, dass die Leser das viel diskutierte Phänomen der gesellschaftlichen „Spaltung“ nach der Lektüre verstehen werden, und dieses Versprechen wird — nach Meinung der Rezensentin — vollauf erfüllt.

Mit einem gedanklichen Salto am Anfang, nämlich der Feststellung: Die Spaltung sei als Zustand noch nicht vorhanden. Derzeit sei Deutschland nicht in streng voneinander getrennte Parallelgesellschaften zerfallen, noch belegen Umfragen, wie später im Buch angeführt wird, dass bis zu 70 Prozent der Bevölkerung extreme Positionen ablehnen. Doch enthält das Buch auch einen alarmierenden Befund: 81 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung bemerken in diesem Land Ängste, seine Meinung frei äußern zu können.

Und eben diese Ängste führt Michael Andrick auf das zerstörerische Wirken spaltender Kommunikation zurück. Die sei jedoch kein in Stein gemeißelter Zustand, sondern vor allem eine Handlung. Dieser Ansatz ist vor allem ein Appell an die Verantwortung jedes Einzelnen. Nicht Meinungen an sich spalten unsere Gesellschaft. Spaltung entsteht durch die moralische Abwertung einer Ansicht, die nicht der eigenen entspricht. Und das ist auf Dauer Gift für demokratische Verhältnisse.

Andrick definiert als wichtigste Voraussetzung einer Demokratie den „gleichberechtigten Interessensausgleich“ aller. Die pauschale Herabsetzung einer Interessengruppe sei damit auch immer ein Angriff auf die Demokratie.

Er führt uns vor, wie der Missbrauch moralischer Begriffe beziehungsweise moralischer Urteile in allen Bereichen unserer Gesellschaft Einzug gehalten hat.

Sein Buch ist eine fast abenteuerliche gedankliche Reise, die bei individuellen Abwehrstrategien gegen anstrengenden Streit beginnt und über den Missbrauch moralisierender Kommunikation von Medien und öffentlichen Institutionen bis zu alarmierenden Entwicklungen in der jüngsten Gesetz-gebung führt.

Das Virus der Moralinverseuchung

Spaltung durch Moralbegriffe kennt eigentlich jeder von uns: Was als Dialog gleichberechtigter Partner beginnt, gerät plötzlich in eine Situation, in der es einen „Guten“ und einen „Bösen“ gibt. Ein moralischer Begriff setzt sich über die Sachebene. Das Konkrete wird zum Abstrakten gemacht. Was gerade noch eine praktische Frage war, mündet im persönlichen Angriff.

„Nie hilfst du mir!“ „Nie hörst du mir zu!“

Das Gespräch ist damit meist beendet.

Eben jener Sprung vom Sachlichen zum moralischen Vorwurf führt auch in der öffentlichen Debatte zu deren Abbruch. Unterschiedliche Ansichten, die eben noch eine spannende Diskussion eröffnet hätten, werden entwertet. Und das — so eine wichtige Botschaft des Buches — auf allen Seiten. Die Klassiker — auch wenn im Buch nicht genannt — kennen wir alle: Begriffe wie „linkes Geschwafel“ oder „rechtes Geschwurbel“ machen den Anderen mundtot. Vergessen der Merksatz von Paul Va-lery:

„Wer den Gedanken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an.“

Vor diesem Hintergrund erinnert uns Andrick an die Coronajahre und macht eine der wichtigsten Ursachen für „moralinverseuchte Kommunikation“ aus: Die Angst. Sie mache uns „dümmer und böser“, als wir normalerweise sind.

Aus Angst vor dem Verlust von Demokratie und Freiheit wurden die Liebsten als Dummköpfe und Hysteriker beschimpft, diese wiederum attackierten die „Uneinsichtigen“ als unsolidarische Egoisten.

Angst oder zumindest übersteigerte Emotionalität führen zudem leicht zu Begriffsverwirrungen mit oft bizarren Blüten. Zitat:

„Die Interpretation schwammiger Begriffe ist immer das Einfallstor für Beurteilungswillkür.“

Dabei ist es ein Phänomen, wie hartnäckig sich so unsinnige Bezeichnungen wie „Corona- oder Klima-Leugner“ oder „Wissenschaftsfeinde“ halten können. Keiner dieser Begriffe hält einer sorgfälti-gen Prüfung auf Brauchbarkeit stand und doch tut das ihrer moralischen Wucht keinen Abbruch.

Schnell wird klar, dass die verbalen Coronakämpfe nur extremer Auswuchs bereits erlittener mora-linverseuchter gesellschaftlicher Debatten waren, wie wir sie bei Schlagwörtern wie „Finanzkrise“, „Flüchtlingskrise“, „Klimaschutz“ und in jüngster Zeit beim Schlagwort „russischer Angriff“ erlebt haben und immer weiter erleben.

Moralische Abwertung auf politischer Ebene, besonders da, wo sie sich mit der Macht der Exekutive verbindet, entlarvt Andrick als Demagogie.

Und diese habe (Zitat) „die ungute Eigenschaft, einen entscheidenden Grundsatz der Aufklärung zu verraten: das Prinzip der Trennung von Sprecher und Argument.“

Selbstverständlich verweist der Autor darauf, dass wir alle auf moralischem Boden leben und es angebrachte Moralurteile gibt. An anderer Stelle erinnert er daran, dass wir eben dafür ein Grund-gesetz formuliert haben

Eine Passage darüber, wo Moral ihren Platz und ihre Berechtigung hat, hätte ich mir für dieses Buch dennoch gewünscht. Das tut allerdings der systematischen Analyse vom Missbrauch des Moralisierens keinen Abbruch.

Zu Anwendungsgebieten und Wirkungsweisen von „Moralin“-Missbrauch

Auf systematische Weise führt uns das Buch „Im Moralgefängnis“ die einzelnen Spaltungspraktiken vor, die sich inzwischen schon fast als Normalfall in unser Sozialverhalten eingeschlichen haben und die öffentliche Debatte zusehends in ein „Moralgefängnis“ einschließen, zumindest dürfte vielen Lesern das Gefühl einer ideologischen Zwangsjacke bekannt sein. Vom Abkanzeln (Canceln), Vorabmarkieren (etwa „Corona- etwa Klimaleugner“) und „Umstrittenmachen“ bis zum „Kontakt-schuld-Vorwurf“ seziert der Autor diese Praktiken auf ihre psychologische, soziologische und politi-sche Dimension hin und prüft auch ihre linguistische Haltbarkeit.

Für Menschen, die Freude am Denken haben, sind diese Kapitel ein großes Lesevergnügen. Etwa wenn Andrick eine vermeintlich „gendergerechte Sprache“ zu Ende denkt, deren mindeste Konsequenz die Umbenennung des (der) „Duden“ zum (das) „Dudel“ sein müsste. Es ist der erleichternde „Der Kaiser ist nackt“-Effekt, der sich häufig beim Lesen einstellt.

Wenn der Autor allerdings im 5. Kapitel darlegt, wie die Abwehr unliebsamer Meinungen Gesetzes-kraft erhält, wird einem eher angst und bange. Die Einfallstore zu einer Gesinnungsdiktatur sind über neue, äußerst willkürlich anwendbare Gesetze wie die „gegen Hassrede“, „Verbreitung von Fakenews“ oder „für den Schutz der Demokratie“ weit geöffnet, zudem wenn dafür institutionalisierte Meldestellen das Denunziantentum beflügeln.

Die Angst des Autors, in einen Staat zu geraten, in dem die strafrechtliche Verfolgung willkürlich definierter „staatsfeindlicher Äußerungen“ juristische Praxis wird, ist deutlich zu spüren.

Zitat:

„Moralisierung riskiert zwischenmenschlich alles und gefährdet, wo sie als Demagogie an die Stelle von Politik als geordnetem Interessenausgleich tritt, sogar den friedlichen Fortschritt der Gesellschaft.“

Am Ende wird sein Buch zum Appell. „Spaltung lebt vom Mitmachen“ — lautet der Kernsatz. Sie überwinden hieße zuerst, das eigene spaltende Handeln zu erkennen, sich nach eigenen Ängsten zu fragen oder nach bestimmten emotionalen Bedürfnissen, die mit moralisierenden Beschimpfungen einhergehen. Sonst laufen wir Gefahr nur allzu bereitwillig einer Demagogie nachzulaufen, die keinen Respekt vor Andersdenkenden kennt und deren Rechte einschränkt, und gleichzeitig dem eigenen sinnlosen Leben einen vermeintlich höheren Sinn verleiht. Ähnlich wie Hannah Ahrendt es beschrieb.

Ob man die Hoffnung des Autors teilen kann, sein Buch könne helfen, die Spaltungspraktiken in unserem Land zu überwinden, sei dahingestellt, ein besseres Verständnis und eine Sensibilisierung für Spaltung und Moralmissbrauch bewirkt es allemal.


Hier können Sie das Buch bestellen: Im Moralgefängnis: Spaltung verstehen und überwinden


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