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Sandburgen gegen die Sturmflut

Sandburgen gegen die Sturmflut

Gründe, entrüstet gegen etwas zu protestieren, gibt es zur Genüge; selten aber ist dies von Erfolg gekrönt. Besser ist es, die geschenkte Zeit zu genießen.

Beim Ausmisten meines E-Mail-Ordners stieß ich auf einen Text, den ich gerade noch vor der endgültigen Vernichtung retten konnte. Eine Freundin hatte ihn mir geschrieben. Das ist zehn Jahre her. Ich erinnere mich, welch starken Eindruck diese Worte damals auf mich machten:

„Wir reißen das Theater ab! Wir denken nicht mehr. Wir wollen Hände und Umarmungen. Wir wollen uns auf den Boden schmeißen und uns lieben, die Häftlinge aus den Anstalten stürmen lassen. Lass uns atmen, geben wir uns hin. Wir bitten um den Wahnsinn des Wahnsinns wegen. Lass setzen, was schon lange modert.“

Großartig, immer noch. Erinnert mich an ein Zitat des rumänischen Philosophen Emil Cioran (1911 bis 1995), der als einer der radikalsten Kulturkritiker der Nachkriegszeit gilt:

„Derjenige, der weiß, hat sich von allen Fabeln getrennt, die die Begierde und das Denken schaffen, er hat sich aus dem Stromkreis ausgeschaltet, er willigt nicht mehr in den Trug ein.“

Warum fühle ich mich mit diesen Texten tief verbunden? Das wäre vor zwanzig, dreißig Jahren nicht der Fall gewesen. Damals war ich, wie viele andere auch, als engagiertes Mahnwesen unterwegs, das seine Energie in einem aussichtslosen Kampf gegen die globale Ausrottungsaktion, die der Mensch so systematisch betreibt, vergeudet hat. Der Versuch aufgeklärter Zeitgenossen, dem Tsunami der Zerstörung Einhalt zu gebieten, war und ist jämmerlich. Als würde man am Strand des Lebens noch schnell ein Büschel Seegras pflanzen, um die Wucht der tödlichen Welle zu brechen.

Jahrzehntelang haben wir uns mit immer neuen Parolen rüsten müssen: Rettet die Nordsee, rettet das Nashorn und das Klima, rettet den Regenwald, das Ahrtal, rettet den, die, das. Das Ergebnis? Die Liste dessen, was wir dringend zu retten haben, wird immer länger.

Das Seltsame ist nur, dass all diese aus unserem Entsetzen erwachsenen Parolen mit der Zeit zu hohlen Phrasen verkommen, bis sie ihre Bedeutung vollständig verlieren. Sie verschwinden einfach unter einem Berg nachgeschobener Schweinereien, für die es erst noch wohlfeile Worte der Empörung zu finden gilt. Aktueller Spitzenreiter auf den Transparenten von uns Verarschten: FREE ASSANGE. Aber auch dieser Aufschrei wird vermutlich im Mahlwerk der Mächtigen zerrieben werden und den Massen schon bald so viel Aufmerksamkeit abringen wie eine weggeworfene Zigarettenschachtel. Hilfe! Rette sich, wer kann!

Allen Ignoranten, die angesichts der globalen Ausrottungsaktion nicht einmal ein Gefühl des Verlustes empfinden, sei gesagt: Keine Sorge, der Zenit ist überschritten, bald wird sie wieder kürzer werden, die Liste, bald gibt es immer weniger bis gar nichts mehr zu retten. Keine Arktis, die Bienen nicht, keinen Spatz in der Hand und uns selbst wohl auch nicht mehr. Wen wundert es da, dass die Stimmen der Mahner und Warner immer hysterischer, immer radikaler werden? Gut so, aber ich stimme nicht mehr ein in den Chor der Empörten.

Umso überraschter war ich, als mich ein Bekannter jetzt auf Claudia von Werlhof hinwies, eine deutsche Soziologin und Politologin. Die Dame ist achtzig Jahre alt. Mein Jahrgang. Und was tut sie? Sie sucht und findet Erklärungen für den unfassbaren Wahnsinn, für diesen Orkan, in dessen Auge wir uns befinden. In ihrem Buch „Väter des Nichts. Zum Wahn einer Neuschöpfung der Welt“ geht sie folgenden Fragen nach: Wie kann es sein, dass die lebendige Natur überall auf der Welt systematisch vernichtet wird?

Und warum merkt es niemand, dass diejenigen, die Rettung versprechen, völlig ungeeignete, ja kontraproduktive Maßnahmen dagegen vorschlagen? Weshalb lassen sich die Menschen mehr und mehr von sich selbst und der Natur, der sie ja angehören, entfremden? Wo liegt die Quelle all der Verwirrung? Warum wird Letztere nicht erkannt und nichts dagegen unternommen? Wieso ist moderne Technik so umweltfeindlich? Kurz: Warum zerstört die Zivilisation der Moderne ihre eigene Welt? Die Erkenntnisse der Frau von Werlhof sind erschreckend:

„Vor unseren Augen und dennoch unerkannt vollzieht sich die Realisierung eines utopischen patriarchal-alchemistischen Projekts allumfassender Transformation, deren Ziel es ist, die gegebene Natur durch eine durch ‚Väter‘ geschöpfte und deshalb angeblich höhere und bessere zu ersetzen“, schreibt sie.

„Die Leitidee hierzu wurde bereits in der Antike formuliert, nachdem die friedliebenden matriarchalen Gesellschaften gewaltsam vernichtet worden waren. Mit den jüngsten technologischen Innovationen erreicht die Entwicklung nun ihren Höhepunkt und droht im Omnizid (die Vernichtung allen menschlichen Lebens) zu kulminieren, dem unumkehrbaren Nichts.“

Die Frage, die sich mir bei allem Respekt für Professorin Claudia von Werlhof stellt. ist: Brauche ich diese Erklärung noch? Ist uns inzwischen nicht ohnehin klar, was der römische Philosoph Seneca bereits vor zweitausend Jahren so formulierte:

„Ich nehme an, dass das Ziel die vollständige Vernichtung der Welt ist.“

Wollen wir in unserer Ohnmacht tatsächlich weiterhin in einem Gemütszustand verharren, der unsere Seelen verdunkelt und uns vom wahren Leben fernhält?

Machen wir uns bewusst, dass auch wir endlich sind. Und dass wir diese Tatsache nicht etwa als Chance begreifen, den uns geschenkten Augenblick zu lieben und zu leben, sondern ihn mit „Erdarbeiten“ ausfüllen. Wir errichten einen Wall aus Illusionen um die Wahrheit der eigenen Endlichkeit, hinter dem wir dann in Angst verharren. Als amorphe ängstliche Verfügungsmasse, die keinen Sinn mehr für die Schweinereien entwickelt, die ihr unverblümt zugefügt werden. Die eine Lüge nach der anderen wie Glückspillen schluckt, die nie erprobt wurden.

Der chinesische Astronaut Taylor Gangjung Wang erzählte nach seiner Rückkehr aus dem All:

„Ein chinesisches Märchen erzählt von einigen Männern, die ausgeschickt wurden, einem jungen Mädchen etwas Böses anzutun. Als sie aber sahen, wie schön es war, waren sie so gerührt, dass sie stattdessen seine Beschützer wurden. Ebenso erging es mir, als ich die Erde zum ersten Male erblickte: Ich konnte sie nur noch lieben und verschonen.“

Also: Lasst uns sie lieben und verschonen, auch wenn wir sie noch nicht umrundet haben. Tun wir uns selbst etwas Gutes, denn dafür ist es nie zu spät.


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