Ein Bach. Ein Rauschen. Wasser. Das ist zu hören. Der Raum schattig und klein, das Fenster geöffnet, mein Bewusstsein groß. So groß wie nie. Ich liege allein in einem Glück und erkenne: Verzeihen ist eine Erfahrung des Körpers. Es ist Körper.
Das Gefühl dabei: Etwas fließt aus mir in mich hinein. Das mag grotesk anmuten, paradox auch. Gleichwohl ist es so ziemlich genau das, was ich wahrnehme, augenblicklich. Zellen ordnen sich neu. Begleitet von einer Bereitschaft zum Lächeln. So würde ich es erklären, wenn ich müsste. Dummkopf, so lache ich alsdann gänzlich über mich, habe ich doch jahrelang Staatsanwälte, habe Faschisten in mir wüten lassen. Jetzt, wenige Minuten zuvor, im Nebenraum, habe ich sie weggeblasen, mit Hilfe einer weisen Frau.
Nicht gänzlich ohne Mühe. Denn das Fließen setzt erst ein, lasse ich den Schreckensaugenblick zu und erwecke mit aller Entschiedenheit das Klingeln morgens um sechs, mich aus Kissen, Traum und Leben reißend, in mir aufs Neue. Im Augenblick dieses apokalyptischen Schlags, den Boden unter den Füßen zertrümmernd, muss die Verzeihung erfolgen. In den von den Irren und Mördern verursachten Giftstrahl durch den ganzen Körper hinein muss es geschehen. Denn die Verzeihung muss die Irren und Mörder in den Zellen beim Teufelswerk erreichen, beim Tun, das die Apokalypse bewirkt. Nur dann kann es gelingen, wie mir scheint. Ansonsten verstecken sich die Schergen erneut. Und das ist es, was die weise Frau tut: Sie koordiniert den Vorgang, leitet an bei der Wiederherstellung des Schlags und der Auslösung der Verzeihung.
Verzeihen heißt Wegblasen, heißt Stilllegen. Heißt, Irre und Mörder zu Termiten erklären. Nicht um sie zu zertreten. Vielmehr sind sie aus dem Lauf der Dinge und der Zeiten zu heben und der Gleich-Gültigkeit anheimzugeben.
Wäre das bei Corona so anwendbar gewesen? Hätte man die totalitäre Regulatur subito überlisten können? Hätte Julian Assange diese Freisprechung offen gestanden? Jederzeit? Hätte er sich Marter und Folter über mehr denn ein Jahrzehnt ersparen können? Gäbe es also eben doch einen anderen Ausgang aus dem „Process“, eine echte Freisprechung? Und wäre dies Teil des Menschenmöglichen, ebenso eine anthropologische Konstante wie das Bündeln und Jagen und also der Faschismus? Gegenkonstante gewissermaßen?
Und was ist mit jenen, die damals in einer Kammer realisierten: Da strömt Gas? Hätte überhaupt die Zeit noch gereicht, um den Mördern und Irren zu verzeihen? Verschränkt sich die Idee der Verzeihung am Ende nicht notgedrungen mit abgrundtiefem Zynismus? Mit Gewalt?
Ich rede von mir, Kinder, in diesem kleinen Raum liegend, ins Rauschen des nahen Baches gebettet:
Verzeihen bedeutet, sich selbst freisprechen. Nicht den Irren, nicht den Mördern gilt der Freispruch. Diese werden mit dem Glück, das aus dem Vorgang gewonnen, kurzzeitig überzogen und versiegelt.
Epiphänomen. Die Entlassung aus aller Jagd aber gilt mir, auf einer Matte liegend, die Füße gewärmt und von Wassern umgeben.
„Wenn du verzeihst, bedeutet das keineswegs, dass du den Widerstand aufgibst. Der politische Prozess in dir bleibt am Laufen, das Bewusstsein für Faschismus wach, mehr noch: der Widerstand gewinnt an Kraft.“
So sagt es die weise Frau. Als Systemlinge und Mörderbande sind die beiden Namensvetter, die an mir den Process vollzogen, keinesfalls aufgelöst. Sie hießen Brunner und hatten doch viele weitere Namen. Die Personen als zufällige Einzelne jedoch sind fort aus dem Prozess, sind aufgelöst, sind Termiten. Das ist ein Teil der Freiheit.
Zur Erklärung: Viele Jahre vor Corona, Kinder, sind die Systemdiener bei mir eingefallen und meine Zellen, meine Adern, mein Blut: die konnten allesamt nicht anders als ihnen ein Recht einzuräumen und ihnen Bedeutung zuzusprechen. Durch die weise Frau angestoßen, habe ich nun diese besetzten Zellen freigegeben. Soeben. Vor wenigen Minuten. Oder — es mag das bessere Bild sein — mich in ihnen wieder als Erzähler eingesetzt. Ein Vorgang übrigens, der gänzlich allein wohl nur schwerlich zu bewerkstelligen ist. Schon in wenigen Stunden, am Abend nach dem Freispruch, wird meine Tochter sagen: „Du bist plötzlich anders, so heiter, so vergnügt. Du bist so sanft im Gesicht.“ Und das nach den Coronajahren und mitten im Kriegsrausch.
Wochen, Monate nach der Freisprechung allerdings, wie ich nun merke — ich liege inzwischen nicht mehr im kleinen Raum irgendwo im Jura, umgeben vom Rauschen eines Baches, bin längst zurück im Norden, in Deutschland —, gibt es durchaus Augenblicke, da versuchen sich die Irren und Mörder wieder einzunisten. Und dann gilt es körperlich dagegen zu halten, gilt es, sie mit der ganzen Kraft der Zellen und der Neuronen, mit der Kraft der Hautstraffung und des kaputten einen Zehs und der drangsalierten Augen über eine erneute Verzeihung in die Bedeutungslosigkeit zu hieven. Heißt: Nach der Trance wartet Arbeit. Und ich könnte mir denken, dass die weise Frau noch einmal hinzutreten müsste. Damit die Nähe zur Trance bleibt, der Ausgang in Sichtweite. Nicht für mich allein, für die Welt als Ganzes.
Am Ende dieses Buches steht also die Verzeihung, Kinder. Das ist ein politischer Entscheid und das Verzeihen eine politische Antwort auf die Frage: Lohnt es sich? Verzeihen muss und will ich den Corona-Irren und Mördern — und dass die Staatsanwälte da gänzlich mittaten, versteht sich, auch meine Staatsanwälte —, indes auch den Widerständigen, in die Muster der Jagd verfallend. Allein um politisch zu bleiben, muss ich es tun. Muss denen verzeihen, die mich müde machen und meinen Lebenswillen brechen, denen, die mir den Antrieb nehmen und die Kraft, aus dem Vollen zu schöpfen. Denn ich muss sie streichen und zu Termiten machen. Diese Termiten sind relativ und das letzte Urteil über sie liegt nicht bei mir.
Nun Kinder, eine Verzeihung mag nicht für alle Zeiten gelten, nicht einmal bis zum Urknall rückwärts. Für ein paar Tage, vielleicht Wochen jedoch durchaus.
Und weil diese Verzeihung die Liebe zum Leben zurückträgt und mich mit dem Wasser meiner Kindheit netzt, ist sie politisch. Denn die Verzeihung lässt mich wieder freie Sätze bilden, lässt mich die Schönheit fassen und selbst dem Ingrimm einen schwerelosen Ausdruck verleihen.
Und dass sie immer wieder ausgesprochen sein muss, die Verzeihung, das mindert ihre Wirkung nicht, ganz im Gegenteil.
Ich erkläre es so: Das Kind in sich befreien, das gescheite Kind, jenes Kind, das schwerelos zürnen und schwerelos träumen kann, niemals ein Gegenüber festnagelnd: Das ist ein politischer Auftrag. Das muss auch im Großen funktionieren, auf allen Schlachtfeldern, in der Ukraine, in Gaza, allüberall, denn funktionierte es nicht, bleibt kein Weg nach nirgendwo, sondern stets und immer die gleichen harten Steine, an die man stößt, ohne sie auch nur um Millimeter zu verschieben.
Und doch, ich muss es nochmals ansprechen: Kann ein Jude seinen Vergasern verzeihen, Kinder? Denen, die seine Eltern ermordet in Auschwitz? Kann eine Vera Sharav deutschen Staatsanwälten vergeben?
Es geht nicht um Juden bei dieser Frage, nicht um Schablonen. Das hat Vera Sharav bei ihrem Widerstand gegen den Corona-Totalitarismus deutlich formuliert. In ihrem Fall ein aus einem Auschwitz-Bewusstsein geborener Widerstand. Vielmehr ist es um ein Bewusstsein zu tun, das nicht erst im Nachhinein verzeiht, sondern die Verzeihung vorausschickt, auf dass die Taten, die zu verzeihen wären, implodierten, bevor sie zum Anschlag kämen.
Was mein eigenes, moderateres Schicksal betrifft — man muss vergleichen, so die Losung, die den Jungen Ingmar aus dem schwedischen Film „Mein Leben als Hund“ einen Weg ins Leben finden lässt, trotz misslicher Umstände —, so bleibt indes zu sagen: Da meldet sich durchaus ab und an ein Unwille beim Gedanken, meinen Mördern und Irren verziehen zu haben. Und Teile des Körpers beginnen dagegen zu arbeiten. Es sträubt sich in mir, ich kann das spüren. Du kannst die Brunners und Kloibers und wie sie alle heißen, du kannst die Irren und Mörder (so die Stimme, die ich höre) nicht von der Bedeutung abziehen. Falsch wäre dies, gegen einen Auftrag gesetzt, gegen Gott womöglich.
Dann aber nehme ich Abstand, so es gelingt, und erkenne: Das ist wohl richtig gesagt für ein Heil hier auf Erden, für eine Begrenzung auf Zeit, für den Kleinkrieg.
Für ein wahres Seelenheil hingegen, über dieses Leben hinausreichend und in der Vorstellung unbeschränkt, ist die Freigabe der Mörder alternativlos. Ich muss — mich entsetzt durchaus dies zu sagen — sie tatsächlich lieben.
Wie Jesus das womöglich versucht und vielleicht gar gekonnt hat. Nein, es reicht nicht, sie von aller Bedeutung abzuziehen, ich muss sie lieben. Daran werde ich scheitern. Der Vorsatz allein jedoch lässt den anderen Ausgang offen: den Ausgang zur Trance.
Mit „Raffen, Sterben, Trance“ ist die TEER-Trilogie vollendet; das Bild auf dem Cover stammt von der Kabarettistin und Malerin Sibylle Birkenmeier; Bildrechte beim Autor
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Quellen und Anmerkungen:
Die Rezension von Egon W. Kreutzer findet sich hier, diejenige von Angelika Gutsche hier.