Am heutigen Morgen bade ich in strahlendem Türkis, dieser geheimnisvollen Farbe zwischen blau und grün, die eine gewisse mineralische Kälte ausstrahlt. Die Wellen schlagen hoch, und die ruhige Linie des fernen Horizonts gerät fast in Vergessenheit. Sie leuchten transparent vor dem Himmelsblau, von weißer Gischt gekrönt.
Flüssige Weite des Himmels. Kristallklar tragende Kraft. Das sprechende Meer mit seinen umspielenden Kräften bringt mich tröstend zum Zuhören, vielleicht auch zum besseren Verstehen der eigenen inneren Stimme. Wie ausgebreitet sind wir? Bedrängnisse und Ängste lösen sich.
Zwanghafte Enge weitet sich. So auch die ideologischen Zuspitzungen unserer Zeit, die gleich Wahnsinnsgebilden an den Himmel gemalt werden. Grabenkämpfe, die das Kleine, das Punktuelle festzurren und zum Gradmesser mechanistisch zu handhabender Ideologien werden lassen, denen ein Wille zum Totalitären innezuwohnen scheint.
Stoff, an dem man sich verbeißen kann, vielleicht sogar verbeißen soll. Die allgemeinen Angstszenenarien, die uns eröffnet werden, korrespondieren jeweils mit den persönlichen Angststrukturen in jedem von uns, und nicht nur diese drohen derzeit zur psychostrukturellen Krankheit (Hans-Joachim Maaz) zu werden. Der Abgrund schaut zurück, wenn man lang genug hineinschaut.
Hinter all dem Shunyata, die Leere. Ich denke an den Roman von Alexandra David-Nèel „Der verborgene Türkis“, in dem es um diesen buddhistischen Begriff geht.
Schwimmend, gleitend nehme ich die strömenden Wellenbewegungen auf, verbinde mich mit der formenden Macht ihrer Rhythmen, spielerisch und achtsam zugleich, da die Welle kurz nach dem herrlich belebenden und erfrischenden, gischtpeitschenden Moment des Überschlags einen Untersog erzeugt und dann zurückrollt und die nächste herrliche und wieder andersartige Woge naht, die ich abschätzend und prüfend in Augenschein nehme.
Mit Freude und Lust überlasse ich mich erneut ihrer — immer auch überraschend — strömenden und überschlagend wirbelnden Gewalt. Das kraftvolle Tosen weckt alle Lebensgeister.
Um es mit dem Meer aufzunehmen, tritt eine gewisse Ichbehauptung ins Feld. So nehme ich es jedenfalls wahr. Es stellt sich das Gefühl her, die Bewegungen des Meerwassers wirken ordnend, spülend, reinigend auf mich zurück, seelisch und leiblich. Ja, ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Die wellenbildende Kraft wirkt formend.
Formgebung heißt im Menschlichen wohl immer auch Disziplinierung. Ich ordne mich in eine höhere Macht oder Gestalt ein, die mich sinnhaft einbindet. Ich höre mir zu, finde das tief geschützte Sein. Gefühle formen sich zu einem mentalen Gebilde, zu dem ich freundschaftlich Ich sagen kann.
Als ich aus dem Wasser komme, sehe ich, dass der Strand von Muscheln übersät ist, die das aufgebrachte Meer auf die Dünung geworfen hat. Das gebende Meer! Ich sammle sie in den zur Schürze gerafften Rock, laufe nochmals und nochmals und kann sie nicht alle bergen. So unüberschaubar viele sind es! Zuerst sammle ich nur die schönen und heilen.
Dann fällt mir auf, dass die Muscheln mit den unvollständigen Formen nicht kaputt oder gebrochen sind, sondern dass sie einem rückläufigen Prozess unterworfen sind. Das unentwegte Schleifen und Spülen im Meeresgeröll löst den Kalk und die anderen Mineralien, aus denen sie entstanden sind, wieder auf und gibt sie dem Meer zurück.
Diese älteren Gehäuse nenne ich Relikte und bin fasziniert, wie die jeweiligen Teilformen sich ähneln, weil sie dem gleichen Prozess der Rückschleifung unterliegen. Am Ende bleibt nur ein gleichmäßig geschliffener und tadellos kreisrunder Muschelschalenring übrig. Es verlockte mich, sicher auch durch das besondere glitzernd lebendige Licht Griechenlands bedingt, die Rückbaustufen der Gehäuserelikte durch Abzeichnen zu dokumentieren.
Es sind die Wellenformen, die in den Muscheln zur Anschauung gebracht werden. Das Meer spülte seine Schwünge in ihre amphorengleiche Formgebung hinein. Die abgetragenen Formen der Gehäuse bewahren ihre Schönheit. Noch das kleinste Relikt trägt das Maß der Wellen und ihrer quirlenden Kraft, den goldenen Schnitt.
Die im Meere aufragenden Felsen zeigen selbst ihren organischen Ursprung an. Köpfen gleich, fast sphinxartig blicken sie in die Weite. In ihren versteinerten Formen sind organische Gewebestrukturen deutlich erkennbar. Welche Ausmaße müssen diese Lebewesen gehabt haben? Auf welchem Boden laufen wir? So schaue ich dem Meer in die Augen und der Suche nach der Geschichte, die hinter allen Geschichten steht.
Im geflockten Schatten unter Bäumen, bergend und kühlend, stehen wir nicht an finsterem Ort. Dunst verweht, die Angst gebannt. Harze und Öle verbreiten Wohlgeruch.
So teuer ist mir der Tag in seinem kostbaren Licht, der vorübergehend strahlend das Gegenständliche auflöst. Es ist alles da, aber anders da nun. In der Ferne klingen die Glocken der Schafe und der kunstvolle Pfiff des Schäfers dringt herüber…
Die Chiffre wird zum Gleichnis, zu Poesie, zum Gedicht.
Fotos: Ulrike Kirchhoff
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