Auf der gesellschaftspolitischen Ebene entscheiden die real existierenden Machtverhältnisse, welche Gewalt als gut und welche Gewalt als böse bewertet wird. Dass sich Regime weltweit auf Tugend beziehen, um der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig zu erklären, warum ausgerechnet ihre Gewalt notwendig und gerecht sei, ist keine Überraschung. Tugend ist — nicht nur im Christentum — der Gegensatz zu Laster und Sünde und bezeichnet sozial erwünschtes Verhalten und Denken. Somit kann eine Tugend der „guten“ Gewalt auch tauglich sein als Alibi für Tyrannei oder Krieg, weil der tugendhafte Mensch sittlich handelt durch die Verwirklichung des Guten.
Eine grobe Skizze
Die Legitimation für die Anwendung von Gewalt wird in sozialen Ordnungssystemen, die Herrscher und Beherrschte kennen, künstlich erschaffen und mithilfe von Glauben, Regeln, Recht, Gesetzen und der Betonung übergeordneter Ziele in Realität überführt. Es ist illusorisch anzunehmen, dass die beherrschten Subjekte in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden oder substanzielle Weichenstellungen vornehmen. Herrschaft muss danach trachten, ihren Willen gegen die Beherrschten durchzusetzen, um die eigene Position zu verteidigen und zu festigen. Sie lenkt deshalb die Entwicklungsrichtung des Ordnungssystems und bemüht Szenarien, die für die Mehrheit der in ihm erfassten Subjekte Perspektive oder Bedrohung darstellen. Bedürfnisse werden geweckt, deren Ausformung klar genug ist, um Hoffnung oder Furcht zu erzeugen, und gleichsam subtil, um die Herrschaft glaubhaft als Erlösung beziehungsweise Lösung anzubieten.
Das Wechselspiel aus Bedrohung und Erlösung findet sich in Staatsgebilden, deren Machtapparat zum Beispiel Sicherheit vor Gewalt offeriert, obwohl er selbst Gewalt ausüben darf, in Konzernen, die den Erhalt von Arbeitsplätzen versprechen bei Mehrarbeit und Lohnverzicht oder in der Vermarktung von Bio-Fleisch, dessen Verzehr gut für das Tierwohl sein soll, weil das arme Vieh eine halbe Stunde mehr Auslauf hat als sein Artgenosse in der Massentierhaltung. So destillieren sich reflexartige „Wenn-dann-Beziehungen“ heraus, die von sozial anerkannter Tugendhaftigkeit bis hin zu simpler Gewaltandrohung reichen. Das macht durchaus Sinn. Freie Menschen sind nur durch Gewalt beherrschbar oder durch das Versprechen, sie vor einem Übel zu schützen, vor dem sie sich nicht selbst schützen können. Die Schutzgelderpressung der Mafia oder das kirchliche Geschäftsmodell aus Paradies und Fegefeuer beruhen auf einem ähnlichen Prinzip.
Die dauernde Ausübung von Herrschaft ist aber nur denkbar, wenn sie entweder von den Beherrschten erwünscht ist und von ihnen verteidigt wird, oder aber, wenn sich die Herrschaft durch institutionalisierte Gewalt, die ausschließlich ihr dient, sowohl gegen externe als auch interne Widerstände und Bedrohungen absichern kann — also auch gegenüber den Herrschaftsansprüchen der Beherrschten.
Sie muss deshalb ihre Unverzichtbarkeit vermitteln und gleichzeitig jede Form des Zweifels an der Legitimität der eingesetzten Mittel zerstreuen oder diese unterdrücken. Das gilt in Nordkorea, China und dem Iran genauso wie in Russland, den USA oder irgendeinem Staat in der Europäischen Union oder sonst wo.
Das schon von den Philosophen John Locke (1632 bis 1704) und Baron de Montesquieu (1689 bis 1755) unter dem Eindruck von Feudalismus und Absolutismus durchdachte Konstrukt der Gewaltentrennung in gesetzgebende (Legislative), Recht sprechende (Judikative) und ausführende Gewalt (Exekutive), die die Macht des Herrschenden einschränken soll, erscheint mit Blick auf die heutige politische Ausgestaltung der Demokratien verunglückt. Denn aus welchem Grund und mit wem sollte ein Staatsvolk, das in einer Demokratie theoretisch alle Macht in Händen hält, diese Macht teilen, um seine eigene Macht einzuschränken? Das ergibt keinen Sinn, außer, wenn das Volk nicht herrscht. In der Gegenwart stellt das Kapital die überragende Macht dar.
Je ausdifferenzierter die Sozialstrukturen in den Gesellschaftsgebilden sind und je mehr Gegensätze und Widersprüche sich ausprägen, aus denen sich Kräfte entwickeln, die sich gegen die Herrschaft richten, desto mehr institutionalisierte Gewalt muss erschaffen und eingesetzt werden, um Herrschaft und Struktur zu erhalten.
Können die gegenüber den Beherrschten geweckten Erwartungen nicht mehr erfüllt werden, geht der Beleg für die Unverzichtbarkeit von Herrschaft verloren. Sie wird überflüssig. Erkennt sie ihren Endpunkt, kann sie sich selbst abschaffen, wie es Ende der 1980er-Jahre in der UdSSR passierte, um sich in die Zukunft zu retten und in einem neuen System aufzugehen. Als Option bleibt die sukzessive Verwandlung in eine Tyrannei, deren Existenz früher oder später durch die Einmischung fremder Mächte, Krieg, Bürgerkrieg und Revolution herausgefordert wird.
Die Befreiung von der Schuld
Im Laufe der Zivilisationsgeschichte, die geprägt ist durch technischen Fortschritt, zunehmende Arbeitsteilung, die Herausbildung von konkurrierenden Klassen und den aus den sozialen und materiellen Verhältnissen resultierenden Klassenkämpfen, kam es quasi zu einer Verrechtlichung der Tugend. Aus diesem Recht leitet die herrschende Bourgeoisie die kristalline Reinheit des Guten ab. Dieses Konzept führt in den modernen Staatskonstrukten zu der einzigartigen Situation, das kein Regime, und schon gar nicht die Protagonisten und Diener in den Institutionen, das eigene Handeln als böse verstehen. Reklamiert wird die Rolle des Opfers, das sich „nur“ verteidigt oder die des weißen Ritters, der das „Böse“ mit „guter“ Gewalt bekämpft. Dieses Muster ist als Selbstverständnis in den Strukturen der Herrschaft aufgegangen. Selbst die Vollstrecker, die ganz offensichtlich Drahtzieher von Gewalt und Terror sind, werden von persönlicher Schuld befreit.
Eine Blaupause lieferte die Französische Revolution (1789 bis 1799). Mit der Einrichtung des sogenannten Wohlfahrtsausschusses, der unter anderem der „allgemeinen Verteidigung“ diente, legte der Nationalkonvent im April 1793 den Grundstein für die von den Jakobinern um Maximilien de Robespierre, einem Juristen und vormals entschiedenem Gegner der Todesstrafe, zum Exzess orchestrierte Schreckensherrschaft. Zwischen Juni 1793 bis Ende Juli 1794 kostete sie bis zu 40.000 Menschen das Leben, mindestens 300.000 wurden in Gefängnisse gesperrt.
Feinde der Revolution und des Volkes, offensichtliche Konterrevolutionäre, Adlige, Geschäftsleute, reiche Bürger, radikale Atheisten und jeder, der irgendwie verdächtig war, die Revolution aufhalten zu wollen, wurde verfolgt, im Schnellverfahren abgeurteilt und mit der Guillotine ermordet. Das Volk schaute dem Gemetzel zu, jubelte, feierte, gab sich der blutigen Unterhaltung hin oder weinte leise. Die feine Nadel der Denunziation brachte unzählige aufs Schafott.
Das Schlachten mit dem Fallbeil wurde zur routinierten Fließbandarbeit. Dem durch den juristischen Zauber der Verteidigung zu erwartenden Zeitdiebstahl wurde mit einer Verfahrensverkürzung auf Anklage, Verurteilung und Vollstreckung begegnet. Wer gegen diese Form der „gerechten“ politischen Säuberung protestierte, konnte schnell selbst zum Opfer werden. Der Justizminister der Französischen Revolution und Mitinitiator der Terrorherrschaft, Georges Danton (1759 bis 1794), wurde hingerichtet, weil er den Wahnsinn des Terrors beenden wollte.
Anders ausgedrückt, und auch auf die Gefahr hin, dass Historiker und Staatstheoretiker toben, weil die Abläufe ja viel komplizierter gewesen sind und so weiter:
Die Tugend, Revolution und Nation zu verteidigen, verschaffte den Konstrukteuren des Terrors das perfekte Alibi für willkürlichen politischen Mord. Das Recht, geboren aus der Macht der revolutionären Gewalt, heiligte den Einsatz der Guillotine.
Die Vollstrecker erhielten ihren Freispruch, noch bevor der erste Kopf rollte. Und der Nationalkonvent wusch seine Hände in Unschuld wie einst Pontius Pilatus, weil mit Robespierre der „Verantwortliche“ gefunden war, der als mögliches Bauernopfer die Win-win-win-win-Situation veredelte. Dieser verschwörerische Vierklang ist bis heute hörbar.
Der Terror des Guten
Sind die Menschen, die durch ihre Tätigkeit „gute“ Gewalt ausüben und der Struktur dadurch Leben einhauchen, von ein und derselben Tugend beseelt, die sie von Schuld befreit, so wird die Struktur zum Selbstzweck. Sie schottet sich ab, schützt sich und die anderen „guten“ Gewalten, die sich in jeder beliebigen Herrschaft zu einer Faust vereinen, die auf die offenen Hände der Beherrschten und Unterdrückten trifft. Je stärker die ausführenden Personen mit dem Kern der Tugend, nämlich „gut“ zu sein, intellektuell verwachsen, desto mehr müssen sie sich selbst als Herrscher begreifen. Durch ihre Herrschaft ermöglichen sie Herrschaft, die sie im Eigeninteresse verteidigen. Der unterstellte Selbsterhaltungstrieb ist faktisch unvermeidbar, weil jede tugendhafte Macht, die aus dem Drang nach Befreiung entsteht, alle Strukturen der Herrschaft von Menschen über Menschen schleifen müsste, wenn sie nicht über Menschen herrschen will. Doch wer mag dieser Verlockung widerstehen?!
Das NS-Regime perfektionierte im Dritten Reich den Terror gegen das Leben. Bei der Einschüchterung und Nötigung der Bevölkerung, der Verfolgung politischer Gegner und dem organisierten Massenmord, konnten sich die Nazis sicher sein, dass die Diener in den Organisationsstrukturen, die den Staat abbilden, der „neuen“ Tugend der Herrenmenschen und ihrer „Rassenhygiene“ eifrig folgen — und zwar bis in die Hölle. Denn der tugendhafte Mensch handelt sittlich durch die Verwirklichung des Guten. Wie kurz der Schritt von der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zum Massenmord ist, wurde im Nationalsozialismus eindrucksvoll belegt durch die Beteiligung der Polizei am NS-Terror und an der Vernichtung von Menschen.
„In weniger als einem Jahrzehnt radikalisierten die Nationalsozialisten die deutsche Ordnungspolizei zu einer militarisierten und mörderischen Institution. Die Ordnungspolizei war in vielen Bereichen am Holocaust beteiligt. Sie bewachte Ghettos, unterstützte Deportationen, spürte Juden in ihren Verstecken auf und beteiligte sich an Massakern gegen Juden und andere Gruppen. Die Geschwindigkeit und Brutalität des Völkermords an den europäischen Juden ist in hohem Maß auf den Beitrag der Ordnungspolizei zurückzuführen.“ (1)
Dass die Polizei im Gegensatz zur SS, der Geheimen Staatspolizei oder dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland nicht aufgelöst und als verbrecherische Organisation verboten wurde, zeigt ein Grundproblem universeller Machtstrukturen.
In allen Staaten wäre die Frage zu beantworten gewesen, ob Polizei vorbeugend abgeschafft werden muss, um eine Terrorherrschaft zu verhindern. Vielleicht war das der Grund, warum es die Chefankläger von Nürnberg bei ein paar Prozessen gegen Polizeiangehörige beließen.
Dergleichen verfuhr man mit andern Teilen des NS-Apparats und seiner Beamten sowie der Justiz, die dem NS-Terrorregime nützliche Dienste geleistet hatte. Eine Handvoll Richter und höherer Justizbeamte fand sich beim Nürnberger Juristenprozess auf der Anklagebank wieder. Keiner von ihnen wurde aufgehängt, einige mussten ins Gefängnis. Anders gesagt: Eine Armee aus Nazi-Polizisten, Nazi-Juristen und Nazi-Beamten, die für ihre direkte oder indirekte Beteiligung an übelsten Verbrechen nicht persönlich zur Verantwortung gezogen wurden, fanden Verwendung in den Institutionen der Bundesrepublik Deutschland und bauten den Rechtsstaat auf. Der „Schlussstrich-Mentalität“ und der „Schwamm-drüber-Haltung“ der Nachkriegszeit war das nicht abträglich.
Die Essenz der Widersprüche
Die eingangs genannte Mitteilungsbedürftigkeit der Regime wird zum Problem, wenn sich die Systeme strukturell und ideologisch angleichen. Hatte der Feudalismus die Leibeigenen an einen bestimmten Boden gebunden, damit sie für einen Grundherrn Dienste leisteten und produzierten, brachte der nach Karl Marx historische „Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“ (2) im 19. Jahrhundert die Klasse der lohnabhängigen Arbeiter hervor: das Proletariat. Es bietet seine Arbeitskraft am Markt an und ist gleichzeitig Konsument der produzierten Güter. Die Kapitalisten, die Eigentümer von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, fragen ihrerseits fremde Arbeitskraft nach, um durch ihr Eigentum Mehrwert zu erzielen. Fabrikschornsteine sind die stummen Zeugen des wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch des sozialen Elends. Wer seine Arbeitskraft nicht verwerten konnte, landete in der Gosse.
Die sich verschärfenden sozialen Unterschiede legten die Widersprüche der Klassengesellschaften frei. Sie entluden sich im 20. Jahrhundert in Aufständen, Revolutionen und zwei Weltkriegen. Das Kapital blieb im globalen Norden, wo Konsum zur Tugend wurde, unversehrt. Es konnte sich auf Strukturen stützen, deren Ursprünge viel weiter zurückreichen als die Anfänge der Industriellen Revolution und schon Königen und Kaisern den Thron retteten: Armee, Polizei, Justiz und Verwaltung.
Durch das Modell der repräsentativen Demokratie wurde es möglich, die reale Macht des Kapitals und der Bourgeoisie zu erhalten und formell den Herrschaftsanspruch auf die Beherrschten zu übertragen, ohne dass diese sich fragten, über wen oder was sie herrschen, wenn doch das ganze Volk herrscht, es also keine Beherrschten gibt.
Ein genialer Coup. Im kommunistischen Osten Europas sah es nicht viel besser aus. Die Grundstruktur wurde beibehalten, das Personal gewechselt und die Herrschaft der Parteikader installiert, die alles besser wissen als die bevormundete Masse. Immer mehr Vorgaben erwürgten die Eigeninitiative, am Ende standen die Räder still.
Während sich die Arbeiter in ihrer Lebensführung immer stärker flexibilisierten und den Konsum als Lebensinhalt verinnerlichten, brachte der Finanzkapitalismus auf der Suche nach Verwertung massenhaft „Finanzprodukte“ hervor, die den Menschen von der Freude am Leben entfremdeten. Die Tugend der materiellen Vorsorge wurde ihnen eingeimpft und die der emotionalen Verbundenheit ausgetrieben. Eine Sterbeversicherungen für Neugeborene abschließen zu können, um die Kosten für das Begräbnis vorsorglich abzudecken, um keine finanziellen Nachteile durch das frisch geschlüpfte Balg zu erleiden, ist da nur ein Beispiel.
Gier wurde in den 1990er-Jahren zur Tugend. Insbesondere kleine Privatanleger wurden in das Paradies der Börsianer eingesaugt und mit dem Kapital verbrüdert, das sie normalerweise ausbeutet. Die T-Aktie der Deutschen Telekom wurde 1996 zur Volksaktie verklärt. Eine gigantische Werbekampagne wurde bemüht, um unterschwellig zu vermitteln, dass jeder Geld ohne Arbeit machen kann. Auf den Höhenflug der Aktie, die im März 2000 ihr Allzeithoch von rund 103 Euro erreichte, folgte der tiefe Fall. Ende Juni 2002 notierte das Papier bei 8,16 Euro. Ja, es gab auch ein paar Gewinner.
Der Knockout des Kapitalismus
Im Zuge der Globalisierung entwickelte sich ein monopolisierter Finanzkapitalismus, der jetzt eine alles überragende Position einnimmt und sich der Grundlage menschlicher Existenz bemächtigt: Bodenschätze, Ackerland und Trinkwasser. Der für seine Zwecke dienliche Schutz des Privateigentums und die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über Besitz breiteten sich durch den Ausfall seines kommunistischen Gegenspielers ab etwa Anfang der 1990er-Jahre ungehindert aus. Wissenschaft, Erfindergeist und technische Innovationen trieben den ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel auf die evolutionäre Spitze.
Konzepte für Gesellschaftsordnungen abseits von Ausbeutung und Klassenkampf sind nun unbedeutend geworden. Um die absolute Macht konkurrieren Variationen des Kapitalismus: Raubtierkapitalismus wie in den USA, Oligarchenkapitalismus wie in Russland und Staatskapitalismus nach dem Vorbild Chinas. Die Vierte Industrielle Revolution ist der Brennstoff dieser Auseinandersetzung, die zwischen leckerem Essen und kunterbuntem Showprogramm keine Türen zu Freiheit, Gleichheit und Frieden öffnet, sondern der Gewalt den roten Teppich ausrollt.
Der Verwertungsprozess von Kapital, der aus der kapitalistischen Produktion von Waren in verschiedenen wertschöpfenden Schritten durch arbeitende Menschen und der anschließenden gesellschaftlichen Verteilung der Waren besteht, das heißt, dem Verkauf der Produkte auf Märkten an konsumierende Menschen, findet durch den monopolistischen Kapitalismus sein Ende.
Dieser vernichtet sich unumkehrbar selbst, weil er den für seine Weiterexistenz notwendigen Kapitalgesamtkreislauf zerstört. Der Historiker Reinhard Paulsen beschrieb in dem Essay „Das Ende einer Menschheitsepoche“ (3) die Folgen dieser Selbstzerstörung:
„Der Kapitalismus funktioniert nur in der Doppelrolle der Menschen als Produzenten und Konsumenten. Der heutige Stand der Produktivkräfte ermöglicht weitgehende technisch-elektronische Rationalisierung und Roboterisierung der Produktionsabläufe. Die Maschine wird zum Taktgeber und ersetzt schließlich den arbeitenden Menschen bis auf wenige, hoch spezialisierte Experten. Diese Entwicklung durchdringt heute auch schon die Dienstleistungssektoren der Gesellschaft. Arbeitsplätze fallen ersatzlos fort und können heute nicht mehr durch Strukturreformen ausgeglichen werden, da dieser Prozess überall läuft und neue Branchen nicht mehr entstehen. Immer mehr Menschen werden ökonomisch überflüssig und verarmen im Heer der Arbeitslosen mit der Folge, dass die maschinenproduzierten Waren nicht mehr gekauft werden können. Die Märkte schrumpfen; die Unternehmen bleiben auf ihren Waren sitzen. Produktive Investitionen lohnen sich nicht mehr. Das Kapital findet in dieser Realwirtschaft immer weniger lukrative Anlagemöglichkeiten und vagabundiert durch die Finanzplätze. Der Kapitalismus hebelt sich selbst seine ökonomischen Grundlagen aus und ist nicht einmal mehr in der Lage, der vorhandenen ausbeutbaren Arbeitsbevölkerung ein Auskommen zu garantieren.“
Maschinen und Roboter verdrängen mehr und mehr Arbeiter aus der Produktion und zwingen sie in den Dienstleistungssektor hinein. Das Zertifikat des Büroarbeiters ersetzt die handwerkliche Fähigkeit. Die voranschreitende Optimierung und globale Verschmelzung der Arbeitsprozesse führt zur Überspezialisierung von Unternehmen, Personal und Facharbeitern. Der sogenannte Fachkräftemangel in Deutschland beispielsweise, der strukturell an dem einen oder anderen Ort auftreten mag, ist bei 2,8 Millionen Erwerbsarbeitslosen und einer stillen Reserve von mehr als 3,1 Millionen Menschen, von denen der überwältigende Anteil mindestens eine Fachausbildung hat, ein eindeutiges Symptom der Überspezialisierung. Wenn dem nicht so ist, muss ein komplettes Versagen der Manager-Elite vorliegen, die offenbar unfähig war und ist, eine triviale Entwicklung im Personalbereich zu erkennen.
Die letzte Phase
Die Herausbildung des Expertentums, die Verwissenschaftlichung unwichtigster Details, die explodierende Verwaltung und die Überbetonung der Karriere als Lebensinhalt wurden begleitet von einer materiellen wie sozialen Abwertung der Familie und einfacher, aber für eine Gesellschaft absolut notwendiger Tätigkeiten, insbesondere im Bereich der Care-Arbeit. Provokant gesagt, wurde eine konsumfreudige, hedonistische und antisoziale Bevölkerung herangezüchtet, in der sich immer weniger Menschen als Arbeiter verstehen, sondern als verkannte Genies positionieren, für die es auf dem Arbeitsmarkt kaum sinnvolle Verwendung gibt. Das fahrende Volk aus Experten, YouTubern, Instagramern, TikTokern und sonstigen Social-Media-Größen, deren Wertschöpfung sich in Klicks und Reichweiten bemisst, ist ein Spiegelbild der Entwicklung: Ökonomisch ist der Kapitalismus in seine letzte Phase eingetreten.
Maschinen produzieren die Waren und die künstliche Intelligenz (KI) erledigt mehr und mehr Routinearbeiten. Sie vernichtet sinnlose Bullshit-Jobs in der Privatwirtschaft und höhlt die alten Herrschaftsstrukturen aus. Notare, Steuerberater, Versicherungsmakler, Controller, Bankberater, Verwaltungsbeamte und Verwaltungsfachangestellte, Kaufleute, Rechtspfleger, Anwaltsgehilfen, Kassierer, Knöllchenschreiber vom Ordnungsamt und so weiter sind durch KI teilweise oder ganz ersetzbar — und sie werden überall ersetzt werden.
Dass die Deutsche Bahn in den kommenden fünf Jahren rund 30.000 Vollzeitstellen vor allem in der Verwaltung abbauen will, um durch Digitalisierung administrative Prozesse effizienter zu gestalten und die Kosten zu senken, ist ein Vorbote der unaufhaltsamen und dynamisch voranschreitenden Verdrängung menschlicher Arbeitskraft mittels KI (4). Dieser Vorgang findet weltweit statt und trifft insbesondere die junge Generation. Ihre Pauperisierung schreitet voran und bereitet den Boden für Bandenkriminalität, Revolution und Bürgerkrieg. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt weltweit bei über 13 Prozent — Tendenz steigend.
Das bringt die veralteten Ordnungssysteme, deren Kernaufgabe die Disziplinierung der Beherrschten ist, an einen historischen Wendepunkt: Sie müssten sich in kooperative und unterstützende Systeme verwandeln, um mit den Menschen, die im Arbeitsprozess nicht mehr oder nur noch sporadisch gebraucht werden, neue Formen der Beschäftigung zu entwickeln, die soziale Komponenten betonen. Dafür wäre eine neue Definition von Arbeit und deren Entkoppelung vom Zeitwert notwendig sowie die Anpassung der Besitzverhältnisse auf der Nutzungsebene und die soziale Verteilung des von Maschinen erschaffenen Reichtums. Kurz: Die Abkehr vom Kapitalismus. Aber was passiert? Die Ordnungssysteme, die ihren Sinn verlieren, je mehr sich das Kapital ausdehnt, erfinden eine neue Tugend: Rettet die Welt. Der Feind wird benannt: der Mensch. Die Lösung: Noch mehr Gesetze, noch mehr Bürokratie und noch viel mehr Kontrolle — und natürlich Krieg und Gewalt gegen das Böse im Namen des Guten.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) United States Holocaust Memorial Museum: Die Ordnungspolizei. Verfügbar auf https://encyclopedia.ushmm.org/content/de/article/the-order-police, abgerufen am 8. August 2024
(2) Karl Marx—Friedrich Engels—Werke, Band 23, Das Kapital, Band I, siebenter Abschnitt, vierundzwanzigstes Kapitel: „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“, S. 742 (Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968). Verfügbar auf http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm#Kap_24_6, abgerufen am 9. August 2024
(3) Neue Debatte, 12. Juli 2017: Realität und Perspektive (Teil 3) — Das Ende einer Menschheitsepoche. Verfügbar auf https://web.archive.org/web/20230530210316/https://neue-debatte.com/2017/10/12/realitaet-und-perspektive-teil-3-das-ende-einer-menschheitsepoche, abgerufen am 14. August 2024
(4) MDR, 27. Juli 2024: Deutsche Bahn will nach Milliarden-Verlust 30.000 Stellen abbauen. Verfügbar auf https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/deutsche-bahn-stellenabbau-milliarden-verluste-100.html, abgerufen am 14. August 2024