Andrea Drescher: Bist du schon länger aktiv?
Linda Suaad Moulhem Arous: Schon sehr lange. Politisiert haben mich der Ukrainekonflikt und der Syrienkrieg — aufgrund meines doppelten Migrationshintergrundes habe ich schnell verstanden, dass das, was man mir in Schule und Medien vermitteln wollte, so nicht ganz richtig sein kann. Zu Hause erfuhr ich durch meine Eltern völlig andere Dinge, die dem, was ich offiziell hörte, teilweise diametral entgegenstanden. Da musste ich mich zwangsläufig selbst mit den Themen beschäftigen.
Dein Vater ist Syrer. Kam er als Flüchtling vor der Assad-Regierung nach Deutschland?
Nein. Er hat in Weißrussland studiert und dort meine Mutter kennengelernt. Das war noch zu Zeiten der UdSSR. Damals gingen viele Syrer in die DDR oder in die UdSSR, um von dem besseren Bildungssystem zu profitieren. Das war ja von der Regierung auch gewünscht und wurde unterstützt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann das Chaos. Viele verließen das Land, weil es ins Chaos versank. Die Familie kannte viele, die in Deutschland Fuß gefasst hatten, und ging eben auch dorthin. Er war definitiv kein Flüchtling der syrischen Regierung. Früher hat mich — als gebürtige Deutsche — übrigens niemand nach meinem Vater gefragt. Jetzt kommt die Frage andauernd, besonders im politischen Umfeld. Das nervt manchmal.
Du engagierst dich politisch?
Ja, ich bin Mitglied bei den Linken und habe im Februar 2020 auch für die Bürgerschaft in Hamburg kandidiert.
Warum die Linken?
Ich habe mir angeschaut, wer in der Politik sagt etwas Glaubwürdiges über Syrien und die Ukraine. Die Linken waren damals die Einzigen, die im Bundestag Reden hielten, die mit dem, was ich dachte, übereinstimmten. Mir gefielen die friedenspolitischen Positionen der Linken ebenso wie ihre klare Haltung zur sozialen Spaltung, beides Themen, die mir am Herzen liegen. Inzwischen sind diese Stimmen aber leider fast alle verstummt, jetzt bin ich daher nicht mehr wirklich in der Partei aktiv.
Mit 22 so aktiv, ist das nicht ungewöhnlich? Die meisten deiner Altersgenossen sieht man leider mehr im Shopping-Center als auf Parteitagen.
Da bin ich nicht viel besser, ich will auch das neueste Handy und die neuesten Klamotten haben. Ich kritisiere mich dafür aber selbst. Das ist ein Prozess, an dem ich arbeite, und ich hoffe, dass ich in Zukunft davon wegkommen kann.
Ich würde mich fast als Opfer unseres Konsumsystems bezeichnen. Denn natürlich wollte ich so sein wie die anderen in der Schule. Die Schule war in einer ziemlich wohlhabenden Gegend in Hamburg mit entsprechenden Schülern. Da wollte ich mithalten. Also bin ich sicher noch nicht die Vorzeigesozialistin — ich bin aber auf dem Weg. Ich bin mir meiner Privilegien sehr bewusst und möchte, dass diese nicht exklusiv bleiben, sondern sie jeder haben kann! Ich kann meine eigene Konsumgeilheit noch nicht ganz ablegen, es gab aber schon einen großen Wandel, über den ich froh bin.
Du engagierst dich aber sehr aktiv für Syrien. Seit wann — und warum?
Schon lange. Mein Hauptanliegen sind die Sanktionen, die unendliches Leid über die Menschen bringen. Der Krieg ist beziehungsweise war ja faktisch vorbei — ich war 2018 selbst im Land. Dadurch, dass die Sanktionen aber nicht beendet werden, wird die ökonomische Situation immer schlimmer — und das Leid, das die Menschen in Syrien seit 2011 trifft, findet kein Ende. Durch die Sanktionen kann man den Wiederaufbau nicht vorantreiben, die wirtschaftliche Lage vor allem junger Menschen führt dazu, dass weiter Menschen aus dem Land flüchten. Vor allem junge, gut ausgebildete Akademiker sehen keine Perspektive.
Ich habe Freunde, die in Syrien Medizin studiert haben und jetzt in Deutschland leben. Diesen Brain Drain haben wir den Sanktionen zu verdanken.
Vor allem in den letzten drei Jahren kamen viele — was das auf Dauer für das Land bedeutet, wenn sie nicht zurückkehren, kann man sich leicht ausrechnen.
Wo warst du 2018 in Syrien und wie hast du das Land erlebt?
Ich war 2018 im März und August jeweils für zwei Wochen im Land. Die meiste Zeit habe ich in Latakia verbracht, da wir dort Familie haben. Mit meinem Vater war ich aber auch in Damaskus, Homs und Hama. Die Anreise über den Libanon war recht mühsam. Wir fuhren von dort aus mit dem Auto nach Syrien, und das war unangenehm, da die Grenzkontrollen sehr herablassend uns gegenüber waren.
In Latakia war alles relativ normal. Es gab ein ganz normales Nachtleben — besonders im Sommer am Strand war es richtig cool. Das hatte nichts mit Krieg zu tun. Die anderen Gebiete waren dagegen richtig krass. Zerstörte Häuser kannte ich ja nur aus dem Fernsehen. Mit 20 so etwas live zu erleben ist schon richtig übel, wenn man weiß, das Gebäude ist wegen einer Bombe so kaputt.
Mein Vater stellte als Arzt den Menschen dort seine Zeit zur Verfügung, wir waren daher viel in Krankenhäusern unterwegs, und ich sah viele Menschen und Kinder mit schlimmen Kriegsverletzungen. Besonders krass war die Kinderkrebsstation. Warum dort so viele krebskranke Kinder lagen, hat mich erst sehr gewundert — aber es war dann schnell klar, warum. Dank der westlichen Sanktionen fehlen Medikamente. Man muss es sich vorstellen: Krebsmedikamente kommen wegen der Sanktionen nicht ins Land, können nicht importiert werden, und darum ist keine vernünftige Behandlung möglich. Und warum? Weil man angeblich etwas für die arme, unter der bösen Regierung leidende Zivilbevölkerung tun will. Da muss ich einfach was tun. Das gab letztlich den Anlass für das kürzlich initiierte Hilfsprojekt „Singen für den Frieden“, das ich gemeinsam mit der staatlich anerkannten Hilfsorganisation Nour-foundation Syria und der Friedensbrücke — Kriegsopferhilfe e.V. ins Leben gerufen habe.
Die Nour-Foundation ist bei uns unbekannt, kannst du kurz beschreiben, was sie tun?
Die Nour-Foundation ist eine Stiftung, die auf ihrer Webseite immer aktuell dokumentiert, was wo konkret benötigt wird. Fehlen 20 Rollstühle, kann man die direkt finanzieren. 100 Prozent der Spendengelder gehen in das ausgewählte Projekt. Mir war wichtig, dass Kindern und Jugendlichen geholfen werden kann, und das gehört auch zu Hauptanliegen dieser Stiftung. Sie sind staatlich lizenziert, die Hilfe ist politisch unabhängig und wird vom Spender mitbestimmt.
Wie entstand dein Kontakt zu dieser Organisation?
Ich habe mich direkt über Freunde von mir in Syrien informiert. Korruption gab es in Syrien schon immer, aber seit es Krieg gibt, ist sie wirklich schlimm geworden. Sie hat jetzt ein Ausmaß angenommen, dass man vorsichtig sein muss, wen man unterstützt. Darum habe ich herumgefragt und wurde immer wieder auf diese Stiftung verwiesen, die schon viele positive Hilfsprojekte durchgeführt hat und dementsprechend bekannt ist. Dann habe ich über einen Bekannten Kontakt zu einem der Manager der Foundation aufgenommen und ihm meine Idee mit dem Song vorgestellt.
Sie waren richtig froh, dass es auch mal Unterstützung aus dem Ausland gibt, da wegen der Sanktionen fast keine Unterstützung ankommt. Keine der großen Organisationen hilft in den regulären Gebieten, die unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen. In den von den Kurden besetzten Gebieten kommt Hilfe an, auch in Idlib gibt es Unterstützung. Nur die ganz normalen syrischen Gebiete werden immer vergessen, wenn es um Hilfe geht. Dort leben aber normale Menschen, und die leiden auch. Dafür habe ich meinen Song gemacht, mit dem ich Geldspenden sammle.
Wie soll das Geld denn ins Land kommen, Überweisungen sind ja nicht möglich?
Ich werde selbst nach Syrien fliegen und es persönlich überbringen. Ob über den Libanon oder direkt nach Damaskus, muss man noch sehen.
Warum hast du die Zusammenarbeit mit der Friedensbrücke gewählt?
Zunächst wollte ich das Projekt einfach über Gofundme abwickeln. Ich habe mich irgendwann spät abends — wie jeder, den ich kenne — dort angemeldet, den Projekttitel „Singen für den Frieden in Syrien“ eingetragen und wollte die weiteren Einträge am nächsten Morgen erledigen. Noch war mein Video ja nicht erschienen. Am nächsten Morgen wache ich auf, schau in meine E-Mails und lese, dass mein Projekt bei Gofundme gesperrt wurde.
Der Grund dieser vorläufigen Sperre war, dass ein Verdacht bestünde, dass ich in ein Gebiet spende, das US-Sanktionen unterliegt. Ich hätte mich dort melden können, aber mir war klar, da geht es nicht, ich brauche eine Alternative. Ich kenne einige Menschen, die bei der FBKO aktiv sind, also sprach ich mit Liane Kilinc und stellte ihr mein Projekt vor. Da ihr es gefiel, haben wir die Zusammenarbeit gestartet. Inzwischen bin ich selbst Mitglied bei der FBKO, und weitere Projekte sind in Planung.
Und worum geht es in dem Projekt genau?
Ich bin nicht nur Studentin, sondern auch als Sängerin künstlerisch tätig. Mein Song „Inshallah“, der auch als Video veröffentlicht wurde, ist die Grundlage. Der Song wird gemeinsam mit dem Spendenaufruf verbreitet, und alle Einnahmen aus dem Song werden gespendet. Wer kein Geld hat, kann ihn möglichst oft anhören und weiterverbreiten. Mit jedem Klick wird Geld generiert. Auch schafft man Aufmerksamkeit für die Situation in Syrien, wo sich der Krieg gerade wieder verschärft, und bringt die Menschen zum Nachdenken.
Wie ist die Situation denn in Syrien jetzt — speziell mit Corona?
Wie ich über Freunde mitbekommen habe, war es anfangs ziemlich schwierig, da aufgrund der Sanktionen Krankenhäuser Kapazitäten zurückfahren beziehungsweise schließen mussten. Auch fehlte beziehungsweise fehlt Geld für die Tests. Darum bleiben viele einfach zu Hause und sagen: Ich habe eine Grippe, die ich auskurieren muss. Das Leben geht weiter. Die Clubs haben offen, die Menschen feiern wieder. Zu Beginn war es anders und schwieriger, aber jetzt will man einfach leben.
Viele sagen einfach: „Wir haben zehn Jahre Krieg überlebt, dann überleben wir auch Corona. Wir werden von zig Ländern bombardiert und leben hier immer noch, was kann uns das Virus schon groß anhaben?“
Das sind mutige Menschen, und ich freue mich, wieder nach Syrien zu kommen, wenn ich die Hilfe übergebe. Aber jetzt geht es erst mal nach Weißrussland.
Was hast du dort vor?
Ich will einfach mal wieder leben. Darum fahre ich zu meiner Familie. Normalerweise bin ich dreimal im Jahr zu Besuch bei meinen Großeltern, diesmal habe ich aber kein Rückflugticket gebucht.
Warum das?
Ich habe jetzt ein Jahr in Deutschland unter Corona-Bedingungen gelebt und muss gestehen, ich bin psychisch angeschlagen. Ich habe eines der besten Jahre meines Lebens verloren. Statt zwischen meinem gerade bestandenen Bachelor und dem anstehenden Master-Studium um die Welt zu reisen, habe ich in meiner Wohnung gehockt. Man hätte sich ja mit Freunden treffen können — aber sogar meine engsten Freunde haben Angst vor dem Virus. Und wenn man sich trifft, dann nur mit Abstand. Umarmen geht gar nicht.
Den Menschen wurde in den vergangenen zwölf Monaten jede Herzlichkeit abtrainiert. Das hat mich verändert, und nicht zum Guten. Als Sängerin darf ich nicht mehr auftreten, selbst Straßenmusik wurde mir seitens der Polizei verwehrt. Das macht Menschen krank. In Weißrussland kann ich ein ganz normales Leben führen. Das Studium — meine einzige Verpflichtung — verläuft sowieso nur online, Präsenzunterricht ist ja abgeschafft, da kann ich von Weißrussland aus genauso studieren.
Keiner, den ich dort kenne, kann verstehen, was bei uns los ist. In Weißrussland haben viele Corona bereits hinter sich, das Leben ging dabei völlig normal weiter. Im Oktober 2020 war ich das letzte Mal dort und habe es selbst gesehen: Die Menschen sind eben NICHT massenweise gestorben, und inzwischen hat man auch in Weißrussland angefangen, die Menschen mit Sputnik zu impfen.
Ich weiß, es ist ein typisches „First World Problem“, aber als junger Mensch möchte ich meine Jugend auch genießen dürfen. In Weißrussland kann ich das. Wann ich zurückkomme, ist noch völlig offen, aber spätestens zur Überbringung der Spenden nach Syrien bin ich wieder da.
Weiterführende Informationen zum Projekt findet man unter FBKO.org.
Linda Suaad Moulhem Arous ist eine mutige junge Frau. Weitere Interviews mit mutigen Menschen findet man im Buch „Menschen mit Mut“, das Ende Mai 2021 erscheinen wird und bereits heute unter www.menschen-mit-mut.eu vorbestellt werden kann. Der komplette Ertrag aus diesem Buch kommt ebenfalls der Friedensbrücke — Kriegsopferhilfe e.V. zugute.
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