Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis, Sitz Hamburg, mit dem Ziel, kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten miteinander in lebensdienlichen Austausch zu bringen. Die Treffen finden seit 2010 in unregelmäßigen Abständen in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt. Auf dem letzten Treffen des Forums wurde die Frage diskutiert, die in der Debatte um Alternativen zur Krise des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung gewinnt: Ist Kapital ohne Kapitalismus denkbar?
Kapital ohne Kapitalismus? Ist das heute eine sinnlose Formulierung, nachdem die sozialistische Utopie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Sieg des Kapitalismus endete? Oder ist es eine notwendige Forderung, nachdem erkennbar wird, dass der seit dem Ende der Union sich ausbreitende Turbokapitalismus die Krise des Sozialismus nur noch zur generellen Krise des Kapitalismus vertieft? Aber wenn nicht so und auch nicht so, dann wie anders? Wo beginnen, wenn man sich nicht in längst bekannten Endlosschleifen müde laufen will?
Entsprechend dieser Fragestellung wählte die Forumsrunde ein Gegensatzpaar zum Verständnis dessen, was heute als Kapitalismus bezeichnet wird: Das ist zum einen die akkumulative Selbstverwertung von Kapital, also Geld – Ware – mehr Geld, wie von Karl Marx formuliert. Sie entzieht der Gesellschaft die Früchte ihrer Arbeit zum Nutzen einiger Weniger. Das Ergebnis ist die Ansammlung von Macht bei wenigen Besitzenden über die Mehrheit der abhängig Beschäftigten – mit der vagen Perspektive der Bildung von Assoziationen freier Menschen irgendwann in ferner Zukunft, wenn und nachdem die Besitzenden in einem revolutionären Prozess enteignet worden sein sollten.
Demgegenüber steht die Entwicklung von Kapital in heute schon zusammenwirkenden assoziativen Strukturen, wie nach dem Ersten Weltkrieg am Klarsten von Rudolf Steiner formuliert, in denen sich Produktion, Verteilung und Konsum auf Basis gemeinschaftlicher Interessen gegenseitig ergänzen, fördern und kontrollieren.
In solchen Assoziationen könnte das Kapital im Prozess seines Entstehens in den gesellschaftlichen Organismus zurückgebunden werden, ohne dass dies in der Form gewaltsamer Enteignungen geschehen müsste.
Verwandte Ideen fanden sich seinerzeit in der deutschen Rätebewegung bis hin zu Rosa Luxemburgs Vorstellungen von einer „sanften“ Revolution.
Der eine Prozess, die Selbstverwertung des Kapitals mit dem Zwang zu ungebremstem ökonomischem Wachstum, hat sich heute als scheinbar nicht überwindbare Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Entwicklung im herrschenden Bewusstsein festgesetzt. Der andere, also die Rückbindung des Kapitals in die soziale und kulturelle Entwicklung des gesellschaftlichen Organismus schon im Zuge des Entstehens von Kapital, geht heute als Aufforderung zur bewussten Steuerung aus der Krise hervor, in welche die Gesellschaft durch das bloß spontane Wuchern des Kapitals gekommen ist und weiter kommen wird, solange der Umgang mit Kapital so bleibt, wie er heute ist.
So konzentrierte sich das Gespräch der Forums-Runde – darin ein Abbild weltweiter ähnlicher heutiger Fragestellungen – zunächst auf die bisher weniger, klarer gesagt, zu wenig gestellte Frage: Was kann man sich unter einer Assoziation, wenn sie heute bereits entsteht, vorstellen? Welche Formen kann sie annehmen?
Dazu seien hier die wesentlichen Bedingungen verdeutlicht, unter denen eine assoziative Struktur Sinn macht:
- Privateigentum wird nicht abgeschafft, sondern gegen Enteignung durch den Staat und durch wirtschaftliche Monopole geschützt. Jedem Menschen wird das Recht auf eigene Initiative garantiert.
- Kapital wird nicht privatisiert, sondern in assoziativer Kooperation und Teilhabe von Produzenten, Vertrieb und Konsumenten gemeinschaftlich genutzt und kontrolliert, sodass seine Vermehrung sich nicht zum Machtmittel auswachsen kann, sondern in die Gesellschaft zurückfließt.
- Lohnverträge werden durch Teilungsverträge zum gegenseitigen Nutzen im Rahmen kooperativer Arbeitsbeziehungen abgelöst. Das gilt innerhalb der Betriebe und über sie hinaus im Zusammenhang assoziativen Wirtschaftens.
- Die Einhaltung dieser Grundvereinbarungen wird durch die rechtsstaatliche Organisation des Zusammenlebens überwacht und durch ein vom Wirtschaftsleben unabhängiges Kultur- und Geistesleben gefördert. Rechtsleben und Geistesleben werden aus dem vom Wirtschaftsleben zurückfließenden Kapital finanziert
Generell geht in dieser Perspektive das Prinzip des Teilens und der gegenseitigen Förderung über das der Konkurrenz und der Herrschaft der Mächtigen gegenüber den Schwächeren. Was so entsteht, ist ein sich gegenseitig förderndes und zugleich sich in Grenzen und Verantwortung für das Ganze haltendes Geflecht wechselseitiger Beziehungen von Wirtschaft, Geistesleben und rechtsstaatlicher Grundorganisation der Gesellschaft.
Selbstverständlich ist die Herausbildung einer solchen Struktur des sozialen Organismus kein Umsturz, der von heute auf morgen die genannten neuen Beziehungen herstellen könnte, schon gar nicht gewaltsam, angesichts der aktuellen dichten sozio-technischen Vernetzung heute weniger als je zuvor. Gewalt macht nur als Widerstand und Selbstverteidigung Sinn. Ein gewaltsamer Umsturz mit dem Ziel der Eroberung der Staatsmacht könnte nur zur Wiederholung der bestehenden Strukturen unter neuen Fahnen führen. Das hat die Geschichte zur Genüge gezeigt, zuletzt in dem Jahrhundertversuch des weltweiten realen Sozialismus.
Die Umwandlung kann nur in einem schrittweisen Prozess geschehen, dafür in ihrer Substanz und in ihrem grundsätzlichen Ansatz umso radikaler. Sie muss, wenn sie langfristig und nachhaltig wirken soll, notwendigerweise an die Wurzel des monopolistischen Denkens gehen, das allen herrschenden Strukturen heute zugrunde liegt.
Das heißt, sie muss die Konzentration sämtlicher Lebensbereiche auf einen von wirtschaftlichen Interessen dominierten nationalen Einheitsstaat überwinden, ihn schrittweise transformieren, statt durch gewaltsame Eroberung der Staatsmacht nur dessen Personal auszutauschen. Die Umwandlung beginnt im individuellen Lebensraum und führt bis in die weltumspannenden staatlichen und wirtschaftlichen Monopole.
Entmonopolisierung, Entflechtung, Dezentralisierung, Differenzierung, Selbstverwaltung und so weiter lauten die Stichworte, die hier als Wegweiser auftauchen. Jeder mag diese Liste noch weiter vervollständigen.
Aber mit Forderungen nach Entmonopolisierung und Individualisierung ist es natürlich nicht getan. Alle diese Wegweiser haben noch eine andere Seite, die genau so radikal benannt werden muss. Sie lautet: Selbstbestimmung, Selbstverwaltung, ja, aber in kooperativer Gemeinschaft mit dem Blick auf das Ganze. Assoziatives Wirtschaften heißt nicht nur Selbstermächtigung, wie nicht selten formuliert, oder auch nur Selbstversorgung; es heißt eben auch kooperative Gemeinschaft.
Und eine Gemeinschaft ist nicht dann schon ein Zukunftsentwurf, wenn in ihr kooperativ gelebt und gearbeitet wird, sondern wenn sie über die Grenzen der eigenen Wirtschaft hinaus auch das Ganze, den globalen und sogar den kosmischen Zusammenhang mit im Blick hat. Assoziationen stehen mit den Füßen im Garten, mit dem Kopf in der globalen Vernetzung und mit dem Herzen mitten im Leben. Produktion, Verteilung und Konsum beginnen vor Ort unter Einbeziehung lokaler wie globaler Ressourcen und kehren mit Produkten benachbarter oder ferner Assoziationen zu den lokalen Verbrauchern zurück.
Assoziationen kommen unter den heutigen Bedingungen nicht voll entwickelt zur Welt, sondern wachsen aus den unterschiedlichsten Ansätzen, in verschiedenen Formen und im Prozess von Versuch und Irrtum heran:
Beispiele für Annäherungen an assoziative Formen des Wirtschaftens und Lebens gibt es heute wie Sand am Meer, so verschieden wie Schneeflocken, könnte man sagen:
- Kommunen, die kollektive Formen des Wirtschaftens ausprobieren
- Commons, die gemeinschaftliche Ressourcen bewirtschaften
- Solidarische Landwirtschaft
- Öko- und Biodörfer
- Selbstverwaltete Gemeinden
- Ansätze zur Gemeinwohlwirtschaft
- Regionale und globale Fair-Trade-Ketten
- Unternehmerische Start-ups, die versuchen, nach dem Prinzip der Teilhabe zu arbeiten
- Schon länger produzierende alternative, auch genossenschaftliche Betriebe und Vertriebsketten
- Stadt-Land Produktions- und Versorgungsgemeinschaften
Und so weiter, und so fort – Die Liste kann jede, jeder aus eigener Kenntnis fortsetzen.
Alle diese Initiativen müssen ihre experimentellen Ansätze unter den Argusaugen und vielerorts dem Druck der herrschenden Rechtsordnung(en) und bestehenden wirtschaftlichen Realitäten entwickeln. Das erfordert Fantasie und nicht selten auch organisatorisches Mimikry, etwa, um das wichtigste Beispiel zu nennen, wenn Assoziationen Wege finden müssen, das herrschende Kartellverbot zu unterlaufen – ohne die Kartellbildung globaler Monopole damit unfreiwillig legitimieren zu wollen.
Anders gesagt, es müssen Wege gefunden werden, die vielen einzelnen Ansätze, die für sich genommen noch keine Assoziationen, sondern erst Vorformen entstehender assoziativer Strukturen sind, zu lokalen oder überregionalen Assoziationen, und schließlich eine Vielzahl von assoziativen Verbindungen zu einem weltweiten Netz zu verbinden. Das ist ganz sicher noch ein langer Weg.
Soweit gekommen, ist aber klar:
Solche Impulse, die individuelle Verantwortung entwickeln und zugleich aber neue Wege der Gemeinschaftsbildung suchen, gehen über die heute herrschenden gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens weit hinaus. Wirtschaft, staatliche Realität, Kultur- und Geistesleben sind längst nicht mehr in den Grenzen von einheitlichen Staatsmonopolen zu fassen.
Die globalen Konzerne haben schon lange alle Grenzen gesprengt. Aber auch die Perspektiven von Forschung und Lehre, der Behandlung ethischer Fragen angesichts monströser technischer Wucherungen, übersteigen bei Weitem die nationalstaatlichen Regelungsmöglichkeiten. Die Rede ist hier von einer biotechnischen neuen Welt künstlicher Intelligenz und der dazugehörigen „transhumanistischen“ Ideologie, die glaubt, den Menschen in zunehmendem Maße ersetzen zu können. Neue Regelungskreisläufe deuten sich an und müssen aus dem Stadium des Unbewussten ins Licht und in fassbare und zu verantwortende Formen gehoben werden.
Schon nach dem Ersten Weltkrieg flossen Anforderungen für neue, lebensförderliche Alternativen des Sozialen in der Idee der Dreigliederung zusammen, wie sie damals von Rudolf Steiner entwickelt wurde. Rosa Luxemburgs Wunsch nach einem „sanften“ Weg der Revolution bis hin zu den Forderungen der Rätebewegung nach Autonomie gingen dazu parallel, allerdings ohne sich damals mit denen der Dreigliederer treffen zu können. Zu aufgeheizt entwickelten sich die Verhältnisse. Heute können uns die damaligen Vorstellungen zu erneuter Kooperation der verschiedenen Ansätze anregen.
Quellen und Anmerkungen:
Interessierte können die Ausführungen mit folgenden Schriften vertiefen:
- Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 23, "Das Kapital", Bd. I, Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, Siebenter Abschnitt, S. 640 – 677, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968
- Rudolf Steiner, Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und der Zukunft. R. Steiner Vlg., Abschnitt „Kapitalismus und Soziale Ideen“.
- Kai Ehlers, Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Flüssigen, Bod (über den Autor, www.kai-ehlers.de)
- P.M. Neustart Schweiz. So geht es weiter, Edition Zeitpunkt
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