Immer mehr Menschen in der Bundesrepublik stellen sich besorgt eine Frage:
Gibt es im heutigen Deutschland Entwicklungsprozesse, die uns an die Endphase der Weimarer Republik und an das Dritte Reich denken lassen? Und: ist es nicht nur möglich, Vergleiche anzustellen zwischen dieser Vergangenheit und unserer Gegenwart, sondern könnte dieses Vergleichen sogar erforderlich sein? Erforderlich gleich aus zwei Gründen: Erstens sachlich, weil eine derartige Diagnose – es gibt Entsprechungen zwischen damals und heute – auch einer Prognose gleichkommen könnte, und weil zweitens und in ethischer Perspektive diese Diagnose mithin eine dringliche Warnung vor einer humanitären Katastrophe enthielte.
Die Frage hinter meiner Frage lautet daher:
Gibt es – in der Tat: ich riskiere dieses Wort! – Entmenschlichungstendenzen in der Bundesrepublik, die den Faschisierungstendenzen während der Weimarer Republik ähneln, und bedrohen diese Entmenschlichungstendenzen womöglich schon jetzt die humane Integrität der Bundesrepublik?
Ich gehe bei dieser Frage von einer Aussage aus, die ich nach wie vor für gültig halte, von der berühmt gewordenen Sentenz Max Horkheimers aus seinem Aufsatz „Die Juden in Europa“, verfasst 1939: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte auch vom Faschismus schweigen“.
Faschismus damals und heute: Strukturwandel, Austausch der Ideologeme – und Entsprechungen
Auch aus meiner Sicht ist Faschismus ein Krisenprodukt des Kapitalismus, das in Deutschland während der Endphase der Weimarer Republik aufkam, weil es mehr und mehr Menschen sozioökonomisch schlechtging; weil der deutsche Faschismus finanziert und an die Macht intrigiert wurde unter anderem von Vertretern der Rhein-Ruhr-Schwerindustrie. Und weil sich in anderen Ländern Europas – in Ungarn, Österreich, Polen zum Beispiel – unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ähnliche Rechtstendenzen entwickelten, da sozioökonomischer Verfall und Aufstieg von Rechtsparteien wieder und wieder – genau in dieser Verschränkung – auch das Geschehen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte, lässt sich mit einigem historischen Recht der Satz formulieren: Der Kapitalismus birgt unablässig in sich die Faschisierungsgefahr. Kommt zu einer bestimmten Psychologie
• die Angst vor dem eigenen materiellen Abstieg hinzu,
• sehen sich diese Menschen verraten von den etablierten Parteien
• und zu wenig geschützt von der Demokratie,
• wird außerdem dieser Entwicklungsprozess von den politischen und/oder ökonomischen „Eliten“ des Landes aktiv unterstützt oder befördert,
dann droht in bestimmten Bevölkerungsschichten bei Menschen mit einer bestimmten Mentalität fast zwangsläufig das Abdriften nach rechts. Vor allem die Forschungen des Bielefelder Pädagogen und Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer und seines Teams sind dabei seit Jahren von besonderem Interesse.
Zunächst: ganz ausdrücklich bestätigte mir die Mitarbeiterin an diesem Forschungsprojekt, Beate Küpper, dass sich die Bielefelder Experten in der Nachfolge sehen zu den Studien, die in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre von Adorno und anderen zur Psychologie des „Autoritären Charakters“ vorgenommen worden sind. Das Bielefelder Forschungsprojekt zur Analyse des von dem Heitmeyer-Team so benannten Einstellungssyndroms „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, abgekürzt GMF, geht – neben den Untersuchungen von Gordon Willard Allport: The Nature of Prejudice. Reading 1954 – zurück auf das US-amerikanische Vorbild und erfasst, wie die damaligen Studien auch, die folgenden Teilmomente dieser charakterlich-ideologischen Grundstruktur: Rassismus und Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Abwertung von Obdachlosen, Diffamierung von Homosexuellen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen, die „Einforderung von Etabliertenvorrechten sowie Islamophobie und Sexismus“.
Und damit bin ich auch an einem ganz entscheidenden Punkt, an jenem Punkt, der als das affektiv-ideologische Grundmotiv jedweder faschistischen Bewegung formuliert werden kann:
Faschistische Psychologie, faschistische Ideologie sowie faschistische Praxis gehen von einer zentralen Grundauffassung aus – „von der Ungleichwertigkeit der Menschen“, einer Grundauffassung, die dann zur faschistischen Gefährdung wird, wenn sie ganze Bevölkerungskreise ergreift und einhergeht mit dem Bestreben und der Praxis, die Menschenrechte außer Kraft zu setzen und zu beseitigen.
Durchaus nicht die Menschenrechte aller Individuen, aber die Grundrechte eines jeden Menschen, der auf diese Liste der zu bekämpfenden Feinde gerät. An dem einen oder anderen Merkmal des Faschismus mag sich dabei durchaus etwas ändern, an der Substanz dieses Fühlens, Denkens und Handelns ändert sich nichts. Ich konkretisiere hier beides kurz, Merkmalswandel und Konstanz der Substanz:
Zweifellos nahm bei sämtlichen früheren Faschismusbewegungen der Nationalismus einen der vordersten Plätze ein: zum deutschen Faschismussyndrom zählte zum Beispiel ohne Frage der Hass auf die Franzosen und der Hass auf die Polen – um nur diese Nationen zu nennen. Der zeitgenössische Faschismus fühlt, denkt und handelt hingegen immer stärker in europäischen Kategorien. Es gibt immer stärker einen nationenübergreifenden Eurofaschismus, der das Goebbels-Schlagwort von der „Festung Europa“ in den Vordergrund rückt und den alten, den nationalistisch-verengten, Ethnozentrismus mehr und mehr beiseitegeschoben hat. Freilich: Ethnozentrismus – vereinfacht: Überbewertung der Eigengruppe, Abwertung der Außengruppe – bleibt dieses gleichwohl!
Und Beispiel zwei: der neue Rechtsextremismus bei uns geht nicht mehr mit gleicher Intensität wie früher auf die jüdischen MitbürgerInnen los, sondern hat hauptsächlich die Zwangsarbeitslosen und die Muslime an deren Stelle gerückt. Aber auch dieser „Feindesaustausch“ ändert am inhumanen Charakter dieser Grundeinstellung nichts. Was bedeutet: wer diese Veränderungsprozesse verkennt, steht allzu sehr in Gefahr, die neuen Versionen der früheren Entmenschlichungsgeschehnisse zu übersehen.
Damit an dieser Stelle kein Missverständnis entsteht: das Forscherteam um den Bielefelder Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer erliegt den Gefahren dieses geschichtlich verengten Blickes nicht. Zwar vermeiden die Bielefelder Wissenschaftler in ihren Veröffentlichungen zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) die Faschismus-Vokabel, dennoch wird deutlich: es gibt wieder Faschisierungsprozesse in der Bundesrepublik, und es gibt Faschisierungsprozesse durchaus nicht nur oder vorrangig dort, wo wir sie gemeinhin unterzubringen pflegen, bei der NPD, rechtsextremistischen Kameradschaften und Skinheads.
Es macht sich in der Bundesrepublik Deutschland vor allem eine Entmenschlichung breit – die Bielefelder Studien zeigen dies – außerhalb ihres überkommenen Bewegungsbereichs, sie macht sich breit in der Bundesrepublik in offizieller Regierungspolitik und offiziellen Regierungskampagnen, sie macht sich breit in den Veröffentlichungen renommierter Buchverlage und in Tageszeitungen mit Bestauflagen wie „BILD“, FAZ und WELT – um nur diese Blätter stellvertretend für andere zu nennen.
An dieser Stelle ein kurzes Zwischenresümee:
Ich habe – so hoffe ich jedenfalls – zu zeigen vermocht, dass es präziser Analyse bedarf, die prinzipiell Parallelen wie Unterschiede und Wandlungsprozesse erfasst, um Neuauflagen der faschismusähnlichen Entmenschlichungsprozesse erfassen zu können. Und trotzdem, so vermute ich, lässt uns ein Unbehagen immer noch nicht los: übertreiben wir – bei aller Präzisierung und Differenzierung – nicht dennoch bei unserer Vergleichsdiagnostik, mit dem Gebrauch der Worte „Entmenschlichung“ oder „Faschisierung“?
Menschenfeindlichkeit als Grundmerkmal der Hartz IV-Gesetze zur „Sozialpolitik“
Nun, ich könnte mich natürlich zu retten versuchen mit der genialen Formulierung von Ernst Bloch: ich hätte mit meinen Aussagen heutige Realitäten lediglich „zur Kenntlichkeit entstellt“. Und dieses sei so legitim wie erforderlich. Aber so leicht will ich es mir nicht machen! Noch nämlich, so meine ich, habe ich wirklich belastbares Material nicht vorgelegt, das diese Besorgnis plausibel zu machen vermag, die Besorgnis, dass sich in der Bundesrepublik eine neue und neuartige faschismusähnliche Entmenschlichungstendenz auszubreiten beginnt. Wovon spreche ich?
Ich spreche von Hartz-IV, von einer seit 2005 konsequent betriebenen Politik der Sozialstaatsvernichtung in der Gestalt von Gesetzen, Verwaltungshandeln und Begleitagitation. Ich spreche von einer Politik, die ein Interviewpartner von mir, ein sogenannter ALG-Zweier, vor einigen Jahren auf die Formel gebracht hat: „Hartz-IV, das ist Menschenverachtung in Euro und Cent.“
Feststellung eins: mit Hartz-IV sind Menschen, die ohne eigenes Verschulden arbeitslos geworden sind, nicht nur in die Armut herunterreglementiert worden, sondern in ein Leben weit unterhalb des Existenzminimums. All das, was das Bundesverfassungsgericht vor rund zwei Jahren, am 9. Februar 2010, noch einmal als unaufhebbare Pflichtaufgaben des Staates im Sinne der Menschenwürde (Artikel Nummer eins unseres Grundgesetzes) aufgeführt hat, all das bleibt die Bundesrepublik seit dem 1. Januar 2005 den Zwangsarbeitslosen, den „Aufstockern“ und den Armutsrentnern schuldig: es wird nicht mehr die physische Existenz der betroffenen Menschen sichergestellt; es wird nicht mehr deren soziokulturelle – und übrigens auch: politische! – Teilhabemöglichkeit sichergestellt; es wird nicht mehr sichergestellt, was das Bundesverfassungsgericht als Möglichkeit „zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ bezeichnet hat.
Feststellung zwei:
damit hat der Staat Bundesrepublik Deutschland quälendes Leid über Millionen von Menschen gebracht. Damit hat dieser Staat krankmachende Aussonderungsprozesse der Zwangsarbeitslosen in Gang gesetzt. Wer im „Regelsatz“ keinen Euro und Cent für Verwandtenbesuche eingeplant hat, wer den Zwangsarbeitslosen keinen Euro und Cent für Geburtstagsgeschenke an Freunde und für Bewirtungskosten für Freunde und Verwandte zugestehen mochte, betreibt Zwangsisolation der betroffenen Menschen.
Feststellung drei: Wer der Bürokratie schon bei kleinsten Verfehlungen der Zwangsarbeitslosen, der Aufstocker und Armutsrentner schärfste Sanktionsrechte einräumt – konkret: Kürzung des Regelsatzbetrages bis hinunter auf null! –, spielt mit dem Leben dieser Menschen. Was per definitionem durch den Staat Grundsicherung im Sinne von „Existenzminimum“ ist, darf nicht unterschritten werden, weil damit das Mittel der Strafe per definitionem dieses Gesetzeswerkes die Sanktion Existenzvernichtung ist.
Mit Hartz-IV wurde dieses sadistische Bestrafungsrecht gegenüber Hilfebedürftigen aber Recht und Gesetz, und seit dem 1. Januar 2005 wird dieses Gesetz – das natürlich kein Recht ist! – von den Behörden auch wieder und wieder exekutiert. Was im Strafrecht wie im gesamten Rechtswesen der Bundesrepublik sonst nach wie vor rechtsgültiger Rechtsgrundsatz ist, das sogenannte „Übermaßverbot“, ein Übertreibungshindernis, das selbst bei schwersten Verbrechen einzuhalten ist, das ist für die Ärmsten der Armen in der Bundesrepublik seit dem 1. Januar 2005 außer Kraft gesetzt.
Um den Maßstab meines gesamten Vortrags heranzuziehen – den Maßstab Humanität, klar definiert in den Artikeln der UNO-Menschenrechts-Charta aus dem Jahre 1948 sowie in den UN-Deklarationen danach (1966/1973), in der Zivil-Charta und der Sozial-Charta: was da als Gesetzeswerk zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, das ist Entmenschlichung der Legislative und Entmenschlichung der Bürokratie. Das ist „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) in der Gestalt von leidenschaftslosen Paragraphen und ihrer leidenschaftslosen Behördenexekution an den betroffenen Menschen seit nunmehr fast einem ganzen Jahrzehnt.
Weder lässt diese Gesetzgebung aktive Mitgliedschaft in Vereinen, Gewerkschaften und Parteien zu noch freie Wahl des eigenen Aufenthaltsortes, weder Teilnahme an Demonstrationen noch das Abo einer Tageszeitung oder die Nutzung eines eigenen Telefon- und Internetanschlusses. Durch staatlichen Geldentzug wurden für Millionen von Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik die entsprechenden Grundrechte außer Kraft gesetzt beziehungsweise deren Wahrnehmungsmöglichkeit wegreguliert. Was mich zu der letzten Feststellung, der Feststellung Nummer vier bringt.
Die Gesetzgebung mit dem Propagandatitel Hartz-IV kommt über weite Strecken hinweg und de facto einer Rechtlosstellung der betroffenen Menschen gleich, einer Illegalisierung, die in vielerlei Hinsicht den Etappen der Rechtlosstellung nicht gleicht, aber ähnelt, die ab dem 17. Februar 1933 die Juden in Deutschland erdulden mussten. Auf dem fiskalischen Weg des Geldmittelentzuges wurde seit dem 1. Januar 2005 ein Sonderrecht für die Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik eingeführt, das deren Grundrechte zu großen Teilen außerkraftsetzt, ein Sonderrecht, das die Betroffenen der Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse beraubt, der Realisierung sozialer, politischer und kultureller Teilhaberechte.
Aber: ist das schon alles? – Nein, das ist es längst noch nicht! Und damit komme ich zur Begleitpropaganda zu Hartz-IV. Ich bin genötigt, eine Auswahl zu treffen, deswegen nur einige wenige Beispiele aus dem Bereich der Menschenhetze gegen die sogenannten „Unproduktiven“, wie Peter Sloterdijk seit seinem FAZ-Artikel vom 13. Juni 2009 die unverschuldet arbeitslos gewordenen Hilfebedürftigen gerne nennt, im Aufsatz „Die Revolution der gebenden Hand“.
Doch auch zu diesem kleinen Katalog der Menschendiffamierungen eine wichtige Bemerkung vorweg:
Die neue Entmenschlichung, Teil zwei: Menschenfeindlichkeit als Grundmerkmal der Propaganda für Hartz-IV
Geradezu „klassisch“, „klassisch“ im Sinne einer überkommenen Faschismus-Terminologie, ging es zunächst mit Wolfgang Clement los: im Herbst des Jahres 2005 startete der SPD-Bundesminister für Arbeit und Soziales (!) seine „Parasitenkampagne“ gegen die ALG-II-BezieherInnen in der Bundesrepublik. Unter Wiederaufnahme eines zentralen Entmenschlichungsbegriffs aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ rief er die bundesdeutsche Politik und Bevölkerung zur Schädlingsbekämpfung auf. Nicht nur der historischen Erfahrung wegen lauert deutlich erkennbar hinter dieser Biologisierungsmetapher „Parasiten“ die Vernichtung der „Schmarotzer“ mit Chemie.
Und erinnert sei auch daran, was „Kampagne“ in wörtlicher Übersetzung heißt: „Feldzug“. Clements chemischer Feldzug gegen die Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik blieb freilich ungesühnt. Obwohl ein Jungfunktionär der NPD aus dem Lahn-Dill-Kreis aufgrund dieses Begriffs „Parasiten“ – der hatte damit „die“ Ausländer in Deutschland gemeint – rechtskräftig wegen Volksverhetzung verurteilt worden ist, vom Oberlandesgericht in Frankfurt am Main am 15. August 2000, mochte die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Herrn Clement nicht mal ein Ermittlungsverfahren einleiten. Begründung: dieser Begriff zähle zur Normalsprache bundesdeutscher Politik und sei daher straffrei gestellt.
Müntefering, der sozialdemokratische Parteichef, zog am 10. Mai des Jahres 2008 dann mit einer Interviewäußerung nach. In der ZEIT stand zu lesen, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen. Der praktizierende Katholik glaubte sich mit dieser Forderung nach dem Hungertod aller Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik sogar durch die Bibel gedeckt – durch den 2. Paulus-Brief, Kapitel 3, Vers 10, an die Thessalonicher im Neuen Testament. Münteferings Maxime also gleichsam mit göttlichen Weihen versehen? – Weit gefehlt!
Erstens handelt es sich bei dieser zweiten Epistel des Apostel Paulus an die Thessalonicher um eine Fälschung – was ein praktizierender Katholik hätte wissen können. Zweitens hatte Müntefering aus dieser Fälschung falsch zitiert. Es heißt dort nicht: „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen.“, sondern: „Wer nicht arbeiten will, der soll nicht essen.“ Was mehr als nur ein kleiner Unterschied ist – nämlich nichts weniger als der Unterschied zwischen Faulheit und unverschuldetem Untätigkeitszwang. Und drittens ist in diesem Bibelabschnitt nicht Lohnarbeit gemeint, sondern Gemeindearbeit, Gemeindearbeit in einer religiösen Kommune weitestgehend ohne Privateigentum – deswegen die Notwendigkeit der Mitarbeit aller.
Dies also das eine: hier zitiert einer scheinbar die christliche Bibel und kennt diese christliche Bibel nicht. Und das andere: wer die Logik dieses Satzes untersucht, kommt sehr schnell zu der Erkenntnis, dass er als präzise Quintessenz aus zwei anderen Sätzen gelten kann: aus dem Satz „Arbeit macht frei“ – soll heißen: Arbeit macht frei von der Gefahr, ansonsten des Hungers zu sterben – und aus dem Satz „Jedem das Seine“ – was bedeuten soll: dem Tätigen Speis und Trank, dem Faulen das Verrecken durch Nahrungsentzug.
Muss ich noch erwähnen, wo während der Endphase des Dritten Reichs diese beiden Vor-Sätze zu Münteferings Conclusio zu lesen waren – und heute noch dort zu lesen sind? „Arbeit macht frei“ über dem Eingangstor zum Stammlager von Auschwitz, „Jedem das Seine“ über dem Eingangstor des Konzentrationslagers von Buchenwald. Ist das die sozialdemokratische Fortsetzung der nazistischen Politik mit anderen Mitteln? Jedenfalls kann man eines nicht machen: an der Todesdrohung der Müntefering-Maxime vorbeianalysieren!
Womit bereits ein zweites Mal, nach Clements Aufruf zum chemischen Ausrottungsfeldzug gegen die „Parasiten“, von Todeswünschen in der Begleitpropaganda zu Hartz-IV gesprochen werden muss. Aber es geht ja noch weiter:
Keine drei Monate später, nach Münteferings Propaganda mit dem dreifach gefälschten Bibelzitat, kamen zwei Wirtschaftswissenschaftler von der Technischen Universität Chemnitz mit einer Studie zum Geldbedarf der Arbeitslosen nieder: Anfang September 2008 legten Friedrich Thießen, Inhaber eines Lehrstuhls für Investmentbanking – eine Professur, die dort eingerichtet worden ist und gesponsert wird von der Commerzbank/Frankfurt am Main – und dessen Adlatus, ein Diplomkaufmann mit Namen Christian Fischer, der Öffentlichkeit Berechnungen vor, denen zufolge 132 Euro – ich wiederhole: 132 Euro – pro Monat genügen würden, um den gesamten Lebensbedarf eines ALG-II-Beziehers sicherzustellen.
Besonders auffällig an diesem Zahlenmaterial, angeblich erhoben im Frühsommer des Jahres 2006: 68 Euro und 9 Cent pro Monat sollten ausreichend sein, den gesamten Lebensmittelbedarf eines Langzeitarbeitslosen abdecken zu können. Der beigefügten Warenliste war zu entnehmen, dass den „Hartzern“ nur noch Leitungswasser zustehen solle, dass sie keinen Anspruch mehr hätten auf irgendwelche Gewürze – einschließlich Zucker und Salz –, keinen Anspruch auch auf Marmelade, Honig, Pflaumenmus, Butter oder Quark. Und meine eigenen Recherchen ergaben dann, dass mittlerweile alle Preisangaben für die verbliebenen Nahrungsmittel auf dieser Schrumpfliste völlig veraltet waren. Resultat:
Mit diesen knapp 70 Euro pro Monat hätten die Hilfsbedürftigen nur Zweidrittel ihres Essensbedarfs pro Monat absichern können, bei den Grundnahrungsmitteln Brot und Kartoffeln, Nudeln und Reis sogar nur zwei Wochen lang. Dies also sollte, den Chemnitzer Akademikern zufolge, den Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik zugemutet werden: der langsame Hungertod, der über die Regelsatzkürzung sich schleichend realisierende Genozid. Ein weiteres Mal also konfrontiert uns das propagandistische Begleitprogramm zu Hartz-IV mit einer Menschenvernichtungsidee!
Womit ich auch bei der allerneuesten Variante solcher Planungen bin: ziemlich genau acht Jahre ist es nun her, dass Gunnar Heinsohn, bis Februar 2009 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen, die Begrenzung jedweder Form von Sozialhilfe auf maximal 5 Jahre gefordert hat. Am 9. Februar 2010 war das so in der WELT zu lesen, am 16. März 2010 dann auch in der FAZ. Fünf Jahre Sozialhilfe maximal! – Ja, und dann? Was kommt nach dieser maximalen Fünfjahresfrist für die Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik Deutschland? – Ab unter die Brücken oder gleich auf den Friedhof?
Hartz-IV ist nunmehr über acht Jahre in Kraft, rund acht Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind nach wie vor angewiesen auf Zahlungen vom Staat – die gefälschten Zahlen, die uns dank frisierter Statistiken allmonatlich vorgelegt werden, lasse ich hier selbstverständlich außeracht. Hätten diese Menschen, die zum größten Teil seit dem 1. Januar 2005 in dieser Notlage sind, im vorvorletzten Jahr also gefälligst den Abgang machen sollen, weil nach Heinsohns Ansicht die Frist für sie abgelaufen war?
Und damit angesagt war das „sozialverträgliche Frühableben“ auf bremisches Geheiß? Ein weiteres Mal stoßen wir vor zu einem Kern, der unfasslich erscheint, gleichwohl existiert: Hartz-IV, das soll den genannten Propagandisten zufolge im Grunde nichts anderes sein als ein Masterplan für Massenmord. Vor einiger Zeit schrieb ich dazu: „Ich weiß nicht, was mir größeres Grauen einflößt: dieser Aufruf zum Völkermord oder dieses furchtbare Schweigen im Land“. Was mir größeres Grauen einflößt, weiß ich auch heute noch nicht.
Lediglich vier Beispiele habe ich kurz dargestellt, zig andere wären noch zu nennen. Die Äußerungen eines Philipp Mißfelder etwa, vormals Vorsitzender der „Jungen Union“, danach Bundestagsabgeordneter und CDU-Präsidiumsmitglied, der auf einer Wahlkampfveranstaltung am 20. Februar 2009 in Haltern/Westfalen die These von sich gab, eine Erhöhung der Regelsätze für Kinder würde nur zu Absatzsteigerungen führen bei der Alkohol- und Tabakindustrie. Das „nur“ stammt nicht von mir. Und ausgedrückt hatte Mißfelder mit dieser Verdächtigung gleich dreierlei:
• die Zwangsarbeitslosen seien ein Haufen von Nikotinabhängigen und Alkoholikern,
• sie würden bei einer Erhöhung der Regelsatzbeträge für Kinder nur den Staat betrügen und
• den eigenen Nachwuchs gleich mit.
Ich könnte noch den Vorschlag des hessischen Ministers für Justiz (!) Christean Wagner, CDU, nachliefern, der auf der CeBIT in Hannover im Frühjahr 2005 elektronische Fußfesseln für Arbeitslose gefordert hatte, ausdrücklich nochmal wiederholt in einer offiziellen Pressemitteilung „seines“ Ministeriums vom 10. März 2005, außerdem die Bemerkung des vormaligen Vorsitzenden des Rings Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) Gottfried Ludewig aus der Anne-Will-Show vom 25. Mai 2008, die grundgesetzwidrige Forderung nämlich, dass für Zwangsarbeitslose die Halbierung des Wahlrechts eingeführt werden solle.
Und nicht zuletzt hätte ich an dieser Stelle auch noch die Bemerkungen eines weiteren Wissenschaftlers zitieren können, die Thesen des Honorarprofessors für Wirtschaftsphilosophie an der Universität Potsdam Gerd Habermann, der sich in der WELT am 30. Oktober 2010 dahingehend geäußert hat, die Würde des Menschen bestünde darin, dass er sich vom Tier unterscheide, und zur Würde eines Hilfebedürftigen, der Geld vom Staat annehme, gehöre es, sich dessen zu „schämen“. Das alles hat mit Grundgesetz und Humanität natürlich nichts mehr zu tun und ist nichts anderes mehr als Ausdruck der schieren Menschenverachtung.
In allen diesen Fällen bleibt es bei demselben Resultat:
Mit Hartz-IV und seiner Begleitpropaganda hat auf massivste Weise die Menschenfeindlichkeit Einzug gehalten in unser Land, ein „Sozialrassismus“, wie Grosser das genannt hat, und wir alle stehen vor dem bestürzenden Paradox, dass seit einiger Zeit ausgerechnet „Sozialpolitik“ die Entmenschlichung dieses Landes befördert.
„Klassenkampf von oben“ nennt das Michael Hartmann, Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt; als „Verrohung des Bürgertums“, vor allem seiner sogenannten „Eliten“, bis in signifikant nachweisbare Gewaltbejahung und Gewaltbereitschaft hinein, hat das Team um den Pädagogen Heitmeyer diesen fortschreitenden und sich beschleunigenden Entwicklungsprozess qualifiziert.
Dazu nur zwei Zahlen aus der Studie des Heitmeyer-Teams vom Sommer 2011: Knapp 53 Prozent aller Befragten stimmten der Aussage zu: „Die meisten Langzeitarbeitslosen sind nicht wirklich interessiert, einen Job zu finden.“ Damit war die Zustimmungsquote zu diesem Satz gegenüber dem Vorjahr um fast 5 Prozentpunkte angestiegen; und 61,2 Prozent aller Befragten stellten sich hinter die Formulierung: „Ich finde es empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen.“ Die Vorjahreszahl hatte noch 57,2 Prozent betragen.
Dass diese Art von „Empörung“ nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit jener Empörung, zu der Stéphane Hessel 2010 in seiner Broschüre „Empört Euch!“ aufgerufen hat, muss wohl nicht erläutert werden. Hessel hat zum Aufstand aufgerufen im Namen der Menschenrechte, nicht im Namen ihrer Vernichtung.
Rudolph Bauer/Holdger Platta (Hrsg.): Kaltes Land. Gegen die Verrohung der Bundesrepublik. Für eine humane Demokratie. (Mit einem Vorwort von Stéphane Hessel) Laika-Verlag Hamburg 2012
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