„Wir befinden uns inmitten einer niemals vorher dagewesenen und ungeheuren Katastrophe der Menschheitsgeschichte, in einer Umwandlung des gesamten menschlichen Lebens. Für den künstlerischen Menschen aber ist das ein Glück, wenn er den Mut hat, neue Wege zu gehen. Eines Tages werden Sie, die Studierenden des Bauhauses, aus sich herausbrechen und dann werden Sie es sein, die die Zukunft dieser neuen Welt entscheiden. Denn wir sind die Werkzeuge eines ganz neuen revolutionären Weltgedankens. Und ich sage Ihnen ganz deutlich, hier und jetzt: Ich stehe und kämpfe für die radikale Kunst.“
Mit diesen Worten begrüßte und begeisterte Walter Gropius, Direktor des neu gegründeten Staatlichen Bauhauses im Jahr 1919 in Weimar die Studierenden (1).
In seiner Rede wird etwas von der Aufbruchstimmung, dem Enthusiasmus, dem Selbstbewusstsein und der Vitalität lebendig, die die Anfänge des Bauhauses begleiten. Der Erste Weltkrieg mit seiner unbeschreiblichen Brutalität ist zu Ende. Elend, Massenarmut, ein ungezügelter Kapitalismus, konkurrierende nationalistische und revolutionäre Kräfte legen das Land in ein Chaos. Aus diesen Wirren heraus beginnen die Künstler und Künstlerinnen ihr großes Experiment. Sie wollen von der Kunst her eine neue Lebenspraxis begründen. Für sie steht außer Zweifel: Ihre Kunst wird nicht nur eine neue Epoche der Kunstgeschichte einläuten, sie wird auch eine neue Zeit vorbereiten. Die alte Zeit mit ihrem materialistischen Expansions- und Herrschaftsdenken, ihren Prinzipien von Unterordnung und Gehorsam, von Abgrenzung und Ausgrenzung soll endlich zu Ende gehen.
Der inneren Notwendigkeit folgen
Die „Idee Bauhaus“ schöpft ihre produktive Kraft aus der Verbindung von innerer Arbeit und äußerer Materialgestaltung.
Der Geist ersticke am Mechanistischen und an seinem Zeichen, der Zahl, so Gropius, wenn er nicht beständig aus der Quelle des Unbewussten getränkt werde. Von dem richtigen Gleichgewicht der Arbeit aller seiner schöpferischen Organe hinge die rechte Leistung des Menschen ab.
Wer wesentlich zu der neuen Baukultur beitragen wolle, müsse notwendig zuerst eine persönliche Lebenskultur entwickeln. Jede lebendige Form sei immer Ausdruck eines inneren Resultates (2).
Ähnlich schrieb Wassily Kandinsky, langjähriger Lehrer am Bauhaus: Kunst und Wissenschaft könnten nur dann auf der Höhe ihrer Zeit sein, wenn der Gestaltende sein Auge und Ohr stets nach innen wende (3). Um schöpferisch arbeiten zu können, müsse der künstlerische Mensch „der Stimme der inneren Notwendigkeit“ folgen. Um diese zu schulen, sei es unabdingbar, die „eigene Seele vorerst zu pflegen und zu entwickeln“, damit das äußere Talent etwas zu bekleiden habe (4).
Radikale Kunst
Die Künstler und Künstlerinnen des Bauhauses vollziehen den Bruch mit dem überkommenen Kunstverständnis, indem sie sich von der nachahmenden Gestaltung — der Abbildung der Welt — lossagen. Sie wollen die neuen Formen, Symbole und Grundmuster entdecken, auf denen eine zukünftige Gesellschaft aufgebaut werden kann. Deshalb verlagern sie ihr Interesse weg von den äußeren Erscheinungsformen hin zu den „formgebenden Kräften“, zu dem „Urgrund der Schöpfung, wo der geheime Schlüssel zu allem verwahrt liegt“ (5).
Der „neue revolutionäre Weltgedanke“ soll aus einer „radikalen Kunst“ hervorgehen, die bis zu den Wurzeln aller Erscheinungen und damit zum Wesentlichen vordringt. Sie soll die Oberflächen durchdringen, auf der alles als getrennt voneinander erscheint, um die verbindenden Prinzipien darunter freizulegen. So will man, wie Paul Klee es formulierte, zu einer Darstellung „dem Wesen nach“, nicht „der Erscheinung nach“ gelangen (6).
Der Weg in die Abstraktion
Die visionären und intuitiven Erkenntnisse der Künstler finden ihren gestalterischen Ausdruck in einer völlig neuen, abstrakten Formensprache. Die Beschränkung auf elementare geometrische Körper, Formen, Linien und die Bevorzugung von Komplementärfarben führt zu einer konzentrierten Einfachheit und einer hohen Intensität des Ausdrucks. Die abstrakten Bilder Kandinskys, mit ihren Balancen und Spannungen zwischen freien Formen, Linien und Farben sind Ausdruck dieser neuen Ästhetik, die nach dem Wesentlichen, Elementaren und Verbindenden fragt. In der Architektur führt der Gang in die Abstraktion zur Neuen Sachlichkeit, einer Bauweise aus unterschiedlich hohen, ineinander verschachtelten kubischen Körpern (7).
Der ganzheitliche Bildungsansatz des Bauhauses als Balance zwischen innerer und äußerer Arbeit — zwischen „persönlicher Lebenskultur“ und „äußerer Baukultur“ — wird nicht lange durchgehalten. Noch vor dem Umzug nach Dessau macht Gropius die „Einheit von Kunst und Technik“ und damit den Konstruktivismus zum neuen Leitbild. So wird für das spätere Bauhaus die industrielle Massenproduktion richtungsweisend (8).
Der Abstraktionsprozess in der Physik
Zeitgleich zum Umdenken in der Kunst kommt es zu Umwälzungen in der Physik. Auch der Forschungsdrang der Wissenschaftler führt in die Abstraktion und damit zu dem, was alle Erscheinungen verbindet. Mit dem Zerteilen der Materie in kleinste Einheiten stellt sich heraus, dass am Ende allen Zerteilens keine unzerstörbaren Materieteilchen, sondern abstrakte Erscheinungen wie „Potenzialität“, „Gestalt“, „Informationsfelder“ oder „Erwartungsfelder“ übrigbleiben.
Das Prinzip des Auftrennens führt zu der Erkenntnis, dass die Welt nicht auftrennbar ist. Der Forscher selbst ist Teil dessen ist, was er erforscht. Die Entdeckung der „Teilchen-Welle-Doppelnatur“ von Licht und Materie bringt Werner Heisenberg, einen „Künstler-Wissenschaftler“ (Hans-Peter Dürr), zur Formulierung seiner Unschärfe-Theorie.
Die Entweder/Oder-Logik der alten Physik weicht damit einer „verwaschenen“ Vorstellung, die scheinbar widersprüchliche Erscheinungen in einem paradoxen Sowohl/Als-auch in der Schwebe hält. Mit „Unschärfe“ ist hier kein Mangel ausgedrückt, sondern die innige Verbundenheit und Unauftrennbarkeit aller Phänomene.
Der Quantenphysiker Dürr beschreibt, mit wie viel Phantasie und Leidenschaft sein Lehrer Heisenberg den wissenschaftlichen Dialog betreibt. Heisenberg zieht den Dialog der exakten Sprache der Mathematik vor, weil im Dialog das Prinzip der Unschärfe zum Tragen kommt. Hier kann man sich im gemeinsamen Denken tastend und ahnend einer Wahrheit nähern, die man einerseits klar erkennen, andrerseits aber sprachlich nur in Gleichnissen und Bildern ausdrücken kann (9).
Die Entfesselte Atomkraft hat alles verändert, nur unser Denken nicht (Albert Einstein)
Die Erkenntnisse der neuen Physik finden ihren Niederschlag bisher allein in ihren technischen Umsetzungsmöglichkeiten. Das Spektrum reicht vom Bau der Atombombe über die Produkte der Informationstechnologie bis zu Industrie 4.0, Smart City und Künstlicher Intelligenz. Das neue Welt- und Menschenbild aber, das die Quantenphysik beinhaltet, ist noch nicht ins kollektive Bewusstsein gedrungen. Auch die Historische Avantgarde am Bauhaus kann mit ihrer Kunst die Gesellschaft nicht reformieren.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 setzt ihrem Projekt ein willkürliches Ende. Hier wird deutlich: Gesellschaftliche Erneuerung ohne eine lebendige Demokratie ist nicht möglich. Hatte sich das Bauhaus noch als unpolitisch verstanden, so macht in den späten 1960er Jahren Joseph Beuys die politische Teilhabe, „die Erschaffung von Demokratie“, zu einer Aufgabe der Kunst.
Die Entwicklung der Gesellschaft als Kunstobjekt
Mit seiner Idee der Sozialen Plastik weitet Beuys den Begriff der Skulptur/Plastik auf die Gesellschaft aus: Bereiche wie Wirtschaft, Bildung, Ökologie und andere werden zu Herausforderungen für künstlerisches Gestalten, für ein Zukunft schaffendes Neu- und Umgestalten. „Das Schönste vom Schönen“, so Beuys, „muss doch erst erreicht werden: der soziale Organismus als Lebewesen in seiner Freiheitsgestalt und als die große Errungenschaft einer Kultur jenseits der Moderne“ (10).
Eine konkrete Ausformung der Sozialen Plastik ist beispielsweise die Aktion 7.000 Eichen aus dem Jahr 1982, die unter dem Motto „Stadtverwaldung anstatt Stadtverwaltung“ steht. In Kassel und von Kassel ausgehend werden 7.000 Bäume mit je einem Basaltstein als „Wächter“ gepflanzt (11).
Jeder Mensch ein Künstler
Künstlerisches Schaffen braucht Freiheit und Offenheit für Zukunftsfähiges. Die ästhetische Praxis, die eine Gesellschaft in ihrer „Freiheitsgestalt“ hervorbringen will, muss Freiheit und Verantwortung verbinden. „Ästhetik“, im Griechischen aisthesis, bedeutet Wahrnehmungsfähigkeit, Sensibilität. Für die Arbeit an der Sozialen Plastik heißt das: Ich weiche dem Zerstörerischen, das mir im Alltag begegnet, nicht länger aus. Ich werde sensibel und lasse mich berühren. Ich lasse mich ein und suche nach einer Antwort. Ich übernehme Ver*antwort*ung. Ich ringe − wir ringen gemeinsam − mit dem Problem, bis es eine Lösung freigibt — bis sich etwas Heilenden und Nährendes zeigt.
Hier kommt Beuys‘ „anthropologisch erweiterter Kunstbegriff“ und seine Formulierung „jeder Mensch ist ein Künstler“ ins Spiel.
Beuys sagt, jeder und jede habe die Fähigkeit zu einer sensiblen Wahrnehmungsfähigkeit; jeder Mensch verfüge über genug Offenheit, Kreativität und Phantasie, um lebenszerstörende Formen in lebensfördernde zu verwandeln. Diese Fähigkeiten müssten nur hervorgelockt und ausgebildet werden.
Deshalb setzt Beuys wie einst Kandinsky und Gropius auf die Entwicklung der innerseelischen Kräfte, auf die Arbeit mit den „inneren Materialien“, den Kräften der Intuition, des Denkens, Vorstellens, Fühlens und Wollens (12).
Nichts Großes ist je ohne Begeisterung geschaffen worden (Ralph Waldo Emerson)
Die Überzeugungskraft und Dringlichkeit in Gropius‘ Eröffnungsrede am Bauhaus, die bis in unsere Zeit ausstrahlt, die „Stimme der inneren Notwendigkeit“, die Kandinsky antreibt, der kreative Forschungsdrang von Heisenberg und Beuys‘ Vision einer zukunftsfähigen Gesellschaft als lebendige Skulptur — in all dem zeigt sich eine Kraft, die Platon „Eros“ nannte (13). Alles, was mit dem Eros in Verbindung steht, hat mit Phantasie, Kreativität, Aufbruch von Neuem und Überraschenden zu tun. Eros widersetzt sich aller Beherrschung und Bevormundung von außen. Sein Wesen ist die Entfaltung des Lebens selbst.
Die Grunddynamik der Wirklichkeit besteht im Eros
Eros ist die Erfahrung, die das Subjekt mit dem Objekt vereint. Sie umfasst nicht nur das Fühlen, sondern auch das Mitfühlen, nicht nur Leben, sondern auch das Zusammenleben. Hier ist die Dualität von Erkennen und Handeln, Fühlen und Hervorbringen schöpferisch aufgehoben (14). Im Hebräischen ist dieser Zusammenhang erhalten geblieben, wenn es heißt: „Abraham erkannte seine Frau und sie wurde schwanger.“ Um Künstler zu werden, brauchen wir die Entfaltung all unserer Kräfte und müssen sie — wie in einem Kunstwerk − zu einer einzigen, stimmigen Ausdruckskraft verbinden. „Alles Vereinzelte“, sagte Goethe, „ist verwerflich“. Und wir brauchen den Eros, die Verbundenheit mit dem Leben selbst.
Das Experiment weiterführen
Unsere Zeit ist nicht weniger verworren als die Zeit, in der das Bauhaus seine Arbeit aufnahm. Der Zustand unseres Planeten fordert uns auf, das Experiment der Historischen Avantgarde weiterzuführen, die Schaffung einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu einer künstlerischen Aufgabe zu machen. Die Künstler und Künstlerinnen des Bauhauses und die Quantenphysiker haben dazu wichtige Vorarbeit geleistet. Ihr Gang in die Abstraktion als Loslassen und Weglassen des Unwesentlichen, das zur Entdeckung des Verbindenden führt, ist jetzt von uns nachzuvollziehen und im persönlichen und gesellschaftlichen Leben umzusetzen.
Der Weg zum Wesentlichen führt uns zu dem, was wir als Menschen in gleicher Weise brauchen und was uns alle vereint: gesunde Nahrung, eine intakte Natur, Selbstentfaltung, Sinn, Schönheit, Verbundenheit. Damit wird das Prinzip der Selbstbegrenzung zu einer lebensfördernden *Not*wendigkeit. Nicht Mangel und Verzicht sind die Folge, sondern ein intensiveres und stimmigeres Leben für alle. Hinter allem Trennenden das Verbinden zu entdecken heißt, das Konkurrieren, Bekämpfen, Ausbeuten und Bekriegen zu verlernen und zu verstehen, wie alles zusammenhängt und wie wir alle zusammenpassen.
„Denn wenn du anders bist als ich, bereicherst du mich!“
Quellen und Anmerkungen:
(1) Transkript der Rede von Walter Gropius in: Kraume, Lars (2019): Fernsehserie „Die neue Zeit“, Folge eins: Nach dem Krieg, ab 12. Minute.
(2) Gropius, Walter: Die neue Baugesinnung, in: Probst, Hartmut, Schädlich, Christian (1987): Walter Gropius. Ausgewählte Schriften, Band 3. Berlin, Verlag für Bauwesen, Seite 95 und folgende.
(3) Kandinsky, Wassily (1912): Über das Geistige in der Kunst. München: R. Piper und Co. Verlag, Seite 69.
(4) Ebenda, Seite 118.
(5) Regel, Günter (1995): Paul Klee — Lehre. Leipzig: Reclam Verlag, Seite 83.
(6) Harlan, Volker (2002): Das Bild der Pflanze in Wissenschaft und Kunst. Stuttgart. Johannes M. Mayer Verlag, Seite 105.
(7) Als Beispiel für Bauhaus-Architektur: die Meisterhäuser in Dessau.
(8) Kraume, Lars (2019): Fernsehserie „Die neue Zeit“, Folge sechs: Das Ende in Weimar, ab 5. Minute.
(9) Dürr, Hans-Peter (2001): Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München. oekom verlag, Seite 44 und folgende. Siehe dazu auch ab der 40. Minute.
(10) Wilhelm Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg (1986): Reden zur Verleihung des Wilhelm Lehmbruck-Preises an Joseph Beuys. Duisburg. Eigenverlag. Zitiert nach Kurt, Hildegard (2010): Wachsen! Über das Geistige in der Nachhaltigkeit. Stuttgart. Johannes M. Mayer Verlag, Seite 58 und folgende.
(11) 7000 Eichen. Ein weiteres Projekt ist der Omnibus für Direkte Demokratie in Deutschland.
(12) Sacks, Shelley; Kurt, Hildegard (2013): Die Rote Blume − Ästhetische Praxis in Zeiten des Wandelns. Klein Jasedow. Drachen Verlag GmbH, Seite 13 bis 21.
(13) Platon (2008): Symposion. Frankfurt am Main. Fischer Taschenbuch Verlag.
(14) May, Rollo (1987): Mut zur Kreativität. Paderborn. Junfermann Verlag.
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