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In Freiheit aufwachsen

In Freiheit aufwachsen

Die Jugend braucht, um sich gut zu entwickeln, das Vertrauen der Älteren — fraglich ist eher, ob letztere Vertrauen verdienen, solange sie als Vertreter einer kranken Gesellschaft agieren.

Als junger Pädagoge und Psychologe verfasste ich für mir anvertraute Lehramtsstudenten einen Artikel mit dem Titel „Ich glaube an die Jugend“:

„Kinder und Jugendliche stehen im Laufe ihrer Entwicklung vor vielfältigen Anforderungen, die sie in der Regel gut bewältigen. Dabei sind Heranwachsende jedoch auf die Einbettung in eine haltgebende Umwelt als Lebenswelt und eine einbindende Kultur angewiesen.

Halt und Orientierung erfahren sie, wenn die in der Familie gelegten Werthaltungen und Tugenden in den gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergarten, Schule und Universität verstärkt und konsequent durchgesetzt werden. Zu nennen sind unter anderem Mitmenschlichkeit, Friedensfähigkeit, Gemeinschaftssinn, Konflikt- und Kompromissfähigkeit.

Damit sich soziale Werthaltungen und Tugenden in den Heranwachsenden festigen, sind praktische Teilnahme an sozialen Aktivitäten, Lern- und Einsichtsfähigkeit sowie die Bereitschaft zur Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen unerlässlich.
Oft fehlt jungen Menschen nur etwas Besonnenheit und Ausdauer, damit sie in kleinen Schritten ihre Kompetenzen entwickeln können“
(1).

Einige Jahrzehnte später änderte ich aufgrund langer Berufs- und Lebenserfahrung meine damalige Einschätzung etwas ab. Zwar glaube ich nach wie vor an die Jugend, doch sehe ich die Vorbildrolle der Erwachsenen, die in der Familie gelegten Werthaltungen sowie die gesellschaftlichen Werte inzwischen kritisch. Ebnen sie der Jugend denn tatsächlich den Weg in eine lebenswerte Zukunft?

Beginnen wir mit dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft. Meines Erachtens bietet sie den Heranwachsenden nicht den für eine gesunde Entwicklung nötigen Halt. Sie ist geprägt durch divergierende Werte und eine Kultur der Gewalt, die zu Macht- und Herrschaftsstreben führen kann.

Es besteht kein Zweifel, dass die Einstellungen und Gefühle der Heranwachsenden als Spiegelbild dieser gesellschaftlichen Werte und Tugenden angesehen werden können.

Dazu schreibt der Psychologe und Psychotherapeut Friedrich Liebling im Artikel „Psychologie der Gewalt“:

„Der Weg des Einzelnen in der gewalttätigen Kultur gerät unweigerlich in den Einflußbereich des Macht- und Herrschaftsstrebens. Alle Vorbilder und Ideale, unter denen das Kind unserer Kulturkreise aufwächst, sind vom Machtwillen gefärbt. Der Drang des Menschen nach Selbstvervollkommnung nimmt so unwillkürlich die Leitlinie der Machtgier an: groß sein, mächtig sein wird zum Ziel, das sich die Schwäche setzt, um stark zu werden. Das Blendwerk der Gewalt ergreift von der Seele des Einzelnen Besitz zu einem Zeitpunkt bereits, wo er noch weder über bewußte Einsicht noch über ein ausgebildetes Gerechtigkeitsgefühl verfügt“ (2).

Egoistisches Streben über den Mitmenschen nimmt auch dann weiter zu, wenn Jugendliche nicht gehört und nicht ernst genommen werden.

Viele Heranwachsende seien besorgter denn je, heißt es in einer Jugend-Studie, weil die Vielzahl von Krisen und Problemen wie Kriege, Migrationsdynamik, Energieknappheit, Inflation oder Klimawandel sie belasten und verunsichern (3).

So beklagt ein 16-Jähriger:

„Unsere Probleme werden einfach nicht gesehen von der Politik. Jedes Mal, wenn ich Nachrichten auf dem Handy lese, ist das frustrierend. (…) Keine Ahnung, wie mein Leben in 20 Jahren aussieht. Wir haben keinen Plan, wie unsere Welt dann noch aussehen wird“ (4).

Die repräsentative Umfrage offenbart die Sorgen der Jugend wegen der wirtschaftlichen Zukunft, und sie dokumentiert eine tief sitzende mentale Verunsicherung und einen Verlust des Vertrauens in die Beeinflussbarkeit der persönlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen.

Trotzdem hätten viele Jugendliche ihre optimistische Grundhaltung und ihre Alltagszufriedenheit nicht verloren, heißt es in der Studie.

Eine weitere Ursache für den von der älteren Generation beklagten Mangel an Empathiefähigkeit (5) ist die Abhängigkeit vieler Jugendlicher von Gewaltvideospielen, sogenannten Killerspielen:

„Killerspiele und andere Formen von Mediengewalt machen unsere Kinder aggressiver. Ihre Fähigkeit zu Mitgefühl, Solidarität und Friedensfähigkeit leidet. Wem das Töten im Computer nicht ausreicht, greift zu echten Waffen und zieht in den Krieg – gegen Mitschüler und Lehrer zuerst. Warum werden Killerspiele trotz dieser Fakten immer wieder verharmlost? Tatsache ist, dass viele Medienkonzerne Teil des militärisch-industriellen Komplexes sind. Sie verherrlichen den Krieg, betreiben Geschichtsfälschung, hetzen unsere Jugend gegen ‚Schurkenstaaten‘ und ‚Feinde‘ auf – und erzielen Milliardengewinne“ (6).

Wir Eltern sowie alle anderen Erwachsenen und die Videospielindustrie ermöglichen dies.

Auch die Abhängigkeit von Mobiltelefonen oder Handys ist kontraproduktiv, und die Erwachsenen sind kein Vorbild, auch wenn sie immer wieder über die Jugend und deren diesbezügliche Begeisterung klagen. Ohne ein solches Gerät verlassen sie nicht das Haus, um bei jeder denkbaren Gelegenheit davon Gebrauch machen zu können.

Kommen wir zu den Werthaltungen in Familie, Schule und Universität.

Da der Charakter des Menschen nicht angeboren ist, sondern sich Schritt für Schritt in der Erziehung entwickelt, ist das Kind abhängig davon. Alle seelischen Eigenschaften entwickeln sich im Erlebnis der familiären, schulischen und gesellschaftlichen Umwelt, in der sich das Kind befindet. In der Beziehung zu den Erziehern nimmt sein Charakter jene Wesenszüge an, die sich im Laufe der Entwicklung als soziale oder asoziale Eigenschaften erweisen.

Deshalb sollten Erzieher psychologische Erziehungsmethoden anwenden und der Jugend von Anfang an Werte vermitteln, die dem Heute entsprechen und die auch im Erwachsenenalter noch Gültigkeit haben.

Psychologische Erziehungsmethoden verzichten auf übertriebene Autorität und Gewaltanwendung und passen sich verständnisvoll dem kindlichen Seelenleben an. Nur so können Menschen herangebildet werden, die gegen die Verstrickungen des Machtwahns gefeit sind, keine „Untertanenmentalität“ mehr besitzen und damit für die Machthaber dieser Welt kein gefügiges Werkzeug mehr sein werden.

Sodann werden in den Familien nur selten Werte und Tugenden wie Mitmenschlichkeit, Friedensfähigkeit, Gemeinschaftssinn, Konflikt- und Kompromissfähigkeit gelegt, die im Kindergarten, in der Schule und Universität verstärkt und konsequent durchgesetzt werden. Eine intensive Ausbildung des Gemeinschaftssinnes oder -gefühls würde die Grundlage für mannigfaltige und reichhaltige soziale Beziehungen schaffen.

Das Gegenteil von „Gemeinschaftsgefühl“ sind Herrschsucht und Machtstreben. Um dieses Problem zu verstehen, müsste man den Menschen mit seiner Gefühlswelt und seinen Reaktionsweisen kennenlernen, wie er heranwächst, wie er die Welt sieht und was in ihm vorgeht. Dann können wir auch seine Taten einschätzen.

Abschließend noch ein Wort zur politischen Bildung. Wenn die ältere Generation einen Mangel bei der Jugend beklagt, dass diese sich nicht aktiv für eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen einsetzt, übersieht sie geflissentlich das eigene fehlende Engagement. Die ältere Generation sollte der Jugend doch den Weg in eine friedliche Zukunft ebnen. Doch davon ist sie im Moment noch weit entfernt. Aber was heute noch nicht ist, kann ja vielleicht in Zukunft werden.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Hänsel, Rudolf (1984): Ich glaube an die Jugend! Persönliches Manuskript.
(2) Polybios (1954): Psychologie der Gewalt. Über die Rolle der Macht im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft. In: BEFREIUNG. Zeitschrift für kritisches Denken, 2. Jahrgang Nr. 7, 1. Juli 1954, Seite 201.
(3) https://www.dfl-stiftung,de/sinus-jugendstudie-2024-wie-ticken-jugendliche/.
(4) Am angegebenen Ort.
(5) https://www.focus.de/familie/psychiater-sehr-sehr-besorgt-kindern-von-heute-fehlt-eine-wichtige-faehigkeit_id_260184350-html.
(6) Hänsel, Rudolf (2011): Game over! Wie Killerspiele unsere Jugend manipulieren. Berlin. Buchdeckel Rückseite.

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