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In die Traufe

In die Traufe

Während sich kritische Menschen über den Niedergang der Ampelparteien freuen, bereitet das „konservative“ Lager einen polizeistaatlich geschützten Klassenstaat vor. Teil 2 von 2.

Angriff auf die Meinungsfreiheit? Mietwucher und Altersarmut? Die Zerstörung des Industriestandorts? Ein vielleicht schon bald drohender großer Krieg mit einer Atommacht? Nein, das Hauptproblem unserer Zeit ist — wenn man vielen Veröffentlichungen folgt — das Bürgergeld. Nicht, dass es Armut gibt, ist das Problem — die Armen selbst sind es. Migration natürlich auch, aber das Thema wird kampagnenartig in die Debatte um das Bürgergeld eingebettet. Dass es zu hoch ist und abgeschafft werden muss, erscheint in nicht wenigen Medien als pure Selbstverständlichkeit; nur, wann es geschieht — und wie hart die Einschnitte konkret werden —, ist noch nicht klar.

„Die Einführung des Bürgergeldes hat sich als Jobbremse erwiesen“, lautet die zentrale These einer Sendung des Formats „Nuis live“. Gemeint ist: Da das Bürgergeld obszön hoch sei, hätten sich Menschen, die sich nicht von Natur aus nach Arbeit sehnen, im Nichtstun bequem eingerichtet. Besonders im Visier des Nius-Teams: die Ausländer. Während fast der gesamten dem Thema gewidmeten Sendezeit wird eine Grafik eingeblendet, die zeigt, wie sich deutsche und ausländische Bürgergeld-Bezieher, was ihre Anzahl betrifft, seit 2014 aufeinander zubewegten. Zu Beginn der Zählung lagen Deutsche noch bei 5 Millionen, Ausländer bei wenig mehr als einer Million. Die Zahlen haben sich mittlerweile einander angenähert. Beide Gruppen liegen bei rund drei Millionen Beziehern. Wobei die Begriffe „Deutsche“ und „Ausländer“ im Grunde näher definiert werden müssten.

Stimmungsmache gegen das „Migrantengeld“

Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Zahl der Stütze-Bezieher mit Migrationsgeschichte stark anwuchs, sondern auch, dass viele Deutsche im gleichen Zeitraum den Schritt hinein ins Arbeitsleben geschafft haben — und dies, obwohl Bürgergeld gerade von den wirtschaftsliberalen Medien nur allzu gern als eine Art Luxus-Hängematte angeprangert wird. Der Anteil der Bürgergeldbezieher mit Migrationshintergrund liege bei 53 Prozent. Daher könne es eigentlich gar nicht mehr Bürgergeld genannt werden, so Nius-Reporterin Zara Riffler; vielmehr sei der Begriff „Migrantengeld“ angebracht. Dies löse bei den deutschen Betroffenen ein Ungerechtigkeitsgefühl aus, beklagt Riffler.

„Wer 20, 30 Jahre eingezahlt hat, bekommt das gleiche wie jemand, der direkt aus der Ukraine kommt und unmittelbar ins Bürgergeld einwandert.“

Damit suggeriert Zara Riffler, man könne das Bürgergeld beliebig aufgrund von Gerechtigkeitserwägungen verringern — ohne Rücksicht auf das grundgesetzlich verbürgte Recht auf Leben. Andauernd wird das gesellschaftlich-ökonomische Grunddilemma in der Sendung quasi ethnisch aufgeladen. Einerseits wird Einkommen ohne Arbeit ganz generell als Missstand verstanden, dem ein Riegel vorgeschoben werden muss; andererseits ist so ein Faulenzer-Dasein immer noch eher entschuldbar, wenn es sich um einen Deutschen handelt. Für Einwanderer könne die Höhe des Bürgergelds durchaus attraktiv sein, rechnet Zara Riffler vor. In Afghanistan zum Beispiel verfügten Menschen über das weltweit niedrigste Einkommen pro Kopf. Der Anteil der Arbeitenden aus Afghanistan sei deshalb seit Einführung des Bürgergelds gesunken: auf 31,9 Prozent. Ein Zuschauer, dessen Brief in der Sendung verlesen wird, entrüstet sich:

„Keiner geht arbeiten, wenn er auf der anderen Seite Geld geschenkt bekommt. Wir müssen wieder eine Leistungsgesellschaft werden.“

Der unsichtbare Dritte

Dieser Vorwurf richtet sich aber bezeichnender Weise nie gegen diejenigen, die leistungsloses Einkommen aus Aktien- und Grundbesitz oder aus großen Erbschaften beziehen. Über diese Gruppe habe ich im ersten Teil meines Artikels einige Überlegungen angestellt. Ausbeutung ist auch nach dem massiven Bedeutungsverlust sozialistischer Ideologien nach wie vor ein Thema. Allerdings fühlen sich Arbeitnehmer, wenn man neoliberal orientierten Medien glaubt, heute nur noch von Menschen ganz unten auf der sozialen Stufenleiter ausgebeutet. Ihnen gilt der Zorn der Malocher und Steuerzahler. Die ganz oben sieht man nicht. „Wir suchen alle nach einem Sündenbock, wenn’s im Leben scheiße läuft, aber blicken nie nach oben. Immer nur nach unten.“ So sagte es der Wirt T.J. Ballantyne in Ken Loachs jüngstem Sozialdrama „The Old Oak“.

Während also Deutsche gegen Ausländer ausgespielt werden, wird eine dritte Gruppe — Zins- und Renditegewinner — quasi als nicht-existent behandelt. Sie ist im Spiegel der Leitmedien fast unsichtbar. Was nicht als Problem erkannt wird, kann auch nicht bekämpft werden, was sehr bequem ist für die dann Unbehelligten. Das „Heilmittel“ gegen klamme Staatshaushalte besteht dieser Ideologie zufolge darin, das Bürgergeld zu begrenzen — die Sehnsucht danach, ausländische „Schmarotzer“ loszuwerden, dient als Hebel, um das Bürgergeld-Bashing in den Köpfen der Normalbevölkerung zu verankern. Die empfindet ihre Arbeit, so die Kalkulation, überwiegend als Belastung und ist deshalb leicht gegen jene aufzustacheln, die sich dieser Last auf Gemeinschaftskosten zu entziehen versucht.

Strafe für den sozialen Absturz

Zara Riffler verwendet hier ein klassisches Argumentationsschema: Man müsse dafür sorgen, dass „wir Steuerzahler belohnt werden für harte Arbeit. (…) Diese hohen Bürgergeldsätze müssen komplett runter. (…) Die Menschen, die wachen morgens auf und denken sich: Für was lohnt es sich jetzt, sich fertig zu machen, ins Büro zu gehen, da acht Stunden womöglich zu sitzen, wenn ich mir doch einfach Bürgergeld mitnehmen könnte?“ Bei Linken gelte das Bürgergeld als „eine Art Grundrecht“. Der Staat habe aber „nur die Pflicht, das Existenzminimum zu sichern“. Für Arbeitsverweigerer müsse es also möglich sein, „dass sie nur noch Sachleistungen bekommen“.

Das Argument, Arbeit müsse sich lohnen, zieht aber mitunter harte Konsequenzen nach sich. Arbeitnehmer verdienen teilweise so wenig, dass man, um dem „Lohnabstandsgebot“ Genüge zu tun, Arbeitslose in verschärftes Elend stürzen muss. Da viele Arbeitsplätze für Betroffene belastend und unattraktiv sind, bleibt als letzte Möglichkeit, sie quasi in den Werktätigen-Status hinein zu schikanieren. Sicher gibt es Menschen, denen ein „Tritt in den Hintern“ zu einem besseren Leben verholfen hat — nicht nur im Interesse der Steuerzahler-Gemeinschaft, sondern auch in ihrem eigenen. Die Quälerei wird aber dann obsolet, wenn für Menschen gar keine reale Chance mehr besteht, eine Arbeit aufzunehmen, etwa bei Armutsrentnern und chronisch Kranken.

Der Mythos vom „Schlaraffenland“

Im Zuge der verbreiteten Kritik an der Ampel-Regierung kommt es vielfach zu überhöhten Erwartungen an einen Machtwechsel im Bund, der normalerweise mit einem Kanzler aus CDU oder CSU verbunden wäre. Selbst früher eher links denkende Menschen sehen die Unionsparteien mittlerweile in einem milden Licht, als kleineres Übel, dem wenigstens mehr Wirtschaftskompetenz zuzutrauen wäre. Auch bei der AfD wird vielfach nicht so genau hingeschaut, gilt sie doch als Partei des Widerstands gegen „Wokeness“ und ausländerrechtliches Laissez-faire.

Es ist wichtig, nicht nur zu wissen, wovon man weg möchte; auch das „Wohin?“ ist entscheidend. Vor allem zwei Bevölkerungsgruppen sollten sich vor einer Unionsregierung fürchten: Geringverdiener und prekär Lebende. Friedrich Merz jedenfalls fordert offen, das Bürgergeld abzuschaffen. Die CDU widerspreche allen, die „von einem Schlaraffenland träumen“, sagte er beim Parteitag im Mai 2024. „Für die Wirtschaft kündigte Merz eine ‚Agenda 2030 mit klaren Perspektiven für eine Volkswirtschaft, die Industriestandort bleiben soll und muss‘ an“. So berichtet es das Handelsblatt. Intendiert ist eine Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, „die verlässlich ist und die vor allem die Fleißigen nicht bestraft, sondern belohnt“.

Schwarz-gelbe „Anpassung nach unten“

Konkret bedeutet das: „Wir wollen das Bürgergeld der Ampel in dieser Form wieder abschaffen.“ Schon der Name, so Merz, klinge zu sehr nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Die Partei wolle stattdessen eine neue Grundsicherung einführen, die „Anreize und Ermutigung“ schaffe. Im neuen Grundsatzprogramm der CDU von 2024 heißt es:

„Wer arbeitsfähig ist, Sozialleistungen erhält und sich angebotener Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierung verweigert, muss finanziell spürbar schlechter stehen als jemand, der sich aktiv um Arbeit bemüht.“

Auch für die FDP ist das Bürgergeld zu hoch. Der FDP-Fraktionschef Christian Dürr würde am liebsten 14 bis 20 Euro pro Monat streichen.

„Mein Vorschlag wäre eine Anpassung nach unten, weil bei der letzten Berechnung die Inflation höher eingeschätzt wurde, als sie sich tatsächlich entwickelt hat. Das würde sowohl die Steuerzahler um bis zu 850 Millionen Euro entlasten als auch die Arbeitsanreize erhöhen.“

Ein Schlemmer als Fastenprediger

Die „Alternative für Deutschland“, Sorgenkind der Exponenten „unserer Demokratie“ und Hätschelkind rechtslastiger Alternativmedien, ist beim Thema Bürgergeld gar nicht so alternativ. Sie fordert eine „aktivierende Grundsicherung“. Im Bundestag brachte die Partei 2022 einen Antrag mit folgendem Inhalt ein: Langzeitarbeitslose sollen zu „Bürgerarbeit“ verpflichtet werden: 15 Stunden in der Woche sollen sie gemeinnützigen Aufgaben nachgehen. Was hier als „aktivierend“ bezeichnet wird, kommt der Definition von Nötigung sehr nahe.

„Wer seine Arbeitsleistung verweigert, dem können Leistungen komplett gestrichen werden.“

Und natürlich wollen die Deutschalternativen die sozialen Transferleistungen für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit begrenzen. Ausreisepflichtige Ausländer sollen nur noch „Sachleistungen und nicht die vollen Sozialleistungen“ erhalten.

All dies klingt auf den ersten Blick gerecht. Allerdings müssen wir uns die Situation von Menschen mit Bürgergeld wahrheitsgetreu vor Augen führen. Polit-Krösusse wie Friedrich Merz tun dies kaum oder nur ungenau. Diesbezüglich von einem „Schlaraffenland“ zu sprechen, ist schon eine obszöne Verkennung der Tatsachen. Der Bürgergeld-Satz liegt heute bei 563 Euro monatlich, liegt also um 61 Euro höher als noch im Jahr 2023. Diese Erhöhung ist vielfach als Einladung zu einem Lotterleben kritisiert worden. Man muss allerdings die Höhe der Inflation im selben Zeitraum berücksichtigen. Im Kalenderjahr 2023 lag sie bei 5,9 Prozent. Hier eine präzise Rechnung aufzustellen, fällt schwer, zumal die Inflation bei jedem Menschen anders zuschlägt — je nach Höhe seiner Lebenshaltungskosten. Es könnte aber — dem Rechenbeispiel von FDP-Fraktionschef Dürr folgend — sein, dass einem Bürgergeldempfänger von 61 Euro Erhöhung am Ende inflationsbereinigt nur etwa 14 bis 20 Euro bleiben.

Eine „plumpe Scheindebatte“

Man könnte natürlich fragen, warum „die“ überhaupt eine Erhöhung ihrer Einkünfte brauchen. Die erste Antwort auf diese Frage wäre: Starren wir hier nicht wie gebannt auf die Mücke, anstatt uns dem Elefanten zuzuwenden? Die Hilfsorganisation Oxfam berichtete in ihrem Bericht über soziale Ungleichheit 2024:

„Das Gesamtvermögen der fünf reichsten Deutschen ist seit 2020 inflationsbereinigt um rund drei Viertel (73,85 Prozent) gewachsen, von etwa 89 auf etwa 155 Milliarden US-Dollar.“

Des Weiteren ist es zur Einschätzung dieser Frage natürlich wichtig, die Situation von „Stütze“-Beziehern einmal näher heranzuzoomen. Das Gewerkschaftsforum beschrieb deren Nöte im Artikel „Bürgergeld-Debatte — zwischen Hetze und Holzwegen“ schmerzlich genau.

„BürgergeldbezieherInnen können auf keinen Euro verzichten. Zwar werden ihre Miet- und Heizkosten vom Jobcenter erstattet, aber nur solange sie als angemessen gelten. (…) Wird die festgelegte Obergrenze gerissen, wäre eigentlich ein Umzug in eine günstigere Wohnung fällig.“

Ein solcher Umzug erweist sich aber schon wegen der Umzugskosten und auch deshalb als undurchführbar, weil eine bezahlbare Wohnung nirgendwo zu finden ist. Daher resümieren die Autoren:

*„Für die Probleme im Land ist nicht das Bürgergeld verantwortlich. Hier wird wieder und wieder nach unten getreten und eine plumpe Scheindebatte geführt. Durch weitere Verschlechterungen geht es niemandem an anderer Stelle besser. Eine gute Politik im Sinne der Beschäftigten wäre mehr Bezahlung durch Tarif, ein höherer Mindestlohn, bezahlbarer Wohnraum und ein Steuersystem, das Arbeitseinkommen weniger und Vermögen höher besteuert. Aber ausgerechnet hierbei sind die Bürgergeld-Kritiker merklich still.“

Wie es wirklich aussieht „ganz unten“

In einem anderen Artikel geht die Autorin Elfriede J., selbst Bürgergeld-Betroffene, Friedrich Merz und Christian Lindner direkt an.

„Sie leben also beide in einer vom einfachen Volk abgehobenen Subkultur und können sich als Nichtbetroffene wohl kaum in die Lebenswirklichkeit von uns ‚kleinen Leuten draußen im Lande‘ empathisch hineinversetzen. (…) Mich macht es als Betroffene von drohenden Sozialkürzungen fassungslos, warum ausgerechnet Sie beide (mit einem privaten Millionenvermögen ohne Vermögenssteuer) beim Angriff auf die Ärmsten und Bedürftigsten im Land voranmarschieren.“

Elfriede J. bezeichne sich selbst als „arm trotz Arbeit“. Wenn es nach Merz und Lindner ginge, wäre sie „noch ärmer in Zeiten der Inflation und Kostenexplosion sowie der Wohnungsnot“. Weiter schildert sie „die erschwerenden Umstände, unter denen ich als Mutter von 2 Töchtern die Berufstätigkeit ausgeübt habe — wie fehlende Kita-Plätze und nicht funktionierende ÖPNV-Verbindungen für Berufspendler sowie nicht finanzierbarer Erholungsurlaub, außerdem Erkrankungen und prekäre Wohnverhältnisse“.

Die Autorin verweist dann auf 600.000 Obdachlose in Deutschland und zwei Millionen Tafelbesucher — 50 Prozent mehr als im Vorjahr. So genau wollen es unsere Staatenlenker in der Regel denn doch nicht wissen. Daher trifft Elfriede J.s Resümee auch in Schwarze beziehungsweise Gelbe: „Warum ist Ihnen die Erhöhung des Bürgergeldes um lediglich 61 Euro im Monat (für Alleinstehende) als verfassungsrechtlich gebotener Inflationsausgleich ein Dorn im Auge? Haben Sie nicht in diesem Jahr als Bundestagsabgeordnete gerade eine erneute Diätenerhöhung in Höhe von 268 Euro erhalten, also um das vier- bis Fünffache des missgönnten Inflationsausgleichs für Bürgergeldbezieher?“

Leben ohne jeden Spielraum

Was „Schlaraffenland“ im Detail bedeutet, kann man an dem offiziellen Warenkorb ablesen, also der Liste der Lebensbereiche von Bürgergeldbeziehern, denen jeweils ein bestimmtes Budget zugeordnet ist. Die 563 Euro Bürgergeld insgesamt teilen sich wie folgt auf:

  • Nahrung, Getränke, Genusswaren: 195,35 Euro,
  • Freizeit, Unterhaltung und Kultur: 54,92 Euro,
  • Verkehr: 50,49 Euro,
  • Post und Telekommunikation: 50,33 Euro,
  • Wohnungsmieten, Energie und Wohnungsinstandhaltung: 47,71 Euro,
  • Bekleidung, Schuhe: 46,71 Euro,
  • Andere Waren und Dienstleistungen: 44,93 Euro,
  • Innenausstattung, Haushaltsgeräte und Haushaltsgegenstände, laufende Haushaltsführung: 34,28 Euro,
  • Gesundheitspflege: 21,48 Euro,
  • Beherbergungswesen- und Gaststättendienstleistungen: 14,70 Euro,
  • Bildungswesen: 2,03 Euro.

Greifen wir einmal ein paar Einzelheiten heraus und übersetzen wir sie ins Konkrete: Ein Bürgergeldempfänger könnte theoretisch 1-mal monatlich ein Restaurant besuchen. Wenn das Bier 5 Euro kostet, dürfte das Hauptgericht dann aber nur noch mit 9,70 Euro zu Buche schlagen. Das liefe auf eines der günstigeren Nudelgerichte hinaus. Trinkgeld wäre nicht mehr drin. Für ein paar Schuhe — Kosten knapp 100 Euro — müsste der Betreffende zwei Monatsbudgets investieren, dürfte im gleichen Zeitraum aber keine neue Unterwäsche, keine Hose und keine Strümpfe benötigen. Für Bildung wäre nicht einmal ein Reclam-Büchlein mit klassischer Literatur erschwinglich. Ob die Waschmaschine so viele Monate durchhält, wie es bräuchte, um den Kaufpreis aus dem Budget für Haushaltsgeräte anzusparen, ist fraglich.

Die Verhinderung sozialer Kontakte

In der Praxis dürften alle genannten Anschaffungen oft außerhalb der Reichweite von Betroffenen liegen, weil die Abzocke bei Strom und Wärme ihnen jeden kleinen Spielraum genommen hat. Ein Blumenstrauß oder eine Einladung zu Kaffee und Kuchen für die Liebste oder auch ein kleines Gastgeschenk anlässlich einer Einladung sind unerschwinglich. Noch schlimmer sieht es bei den Reisekosten aus. Wenn man voraussetzt, dass das Budget für „Verkehr“ (50,49 Euro) von einer Monatskarte für öffentliche Verkehrsmittel oder kleinen Fahrten im Alltag aufgefressen wird, können Freundschaften mit Menschen, die weiter weg wohnen, nicht mehr gepflegt werden und drohen einzuschlafen.

Liegt die Mutter eines Bürgergeld-Beziehers im Sterben, kann er sie, wenn sie nicht gerade in der Nachbarschaft wohnt, kaum besuchen — es sei denn, sie hat selbst genug Geld und bezahlt die Fahrt.

Eine einstündige Zugfahrt — hin und zurück — schlägt mit etwa 36 Euro zu Buche. Das kann man sich, wenn überhaupt, nur in großen Abständen leisten, sodass die Mutter emotional ins Bodenlose fällt. Der Bürgergeld-Bezieher müsste ihr sagen: „Mama, es tut mir leid, du wirst allein sterben müssen.“ All diese Situationen sind zusätzlich mit einem Gefühl der Scham verbunden, „es“ nicht geschafft zu haben.

Fleißig nach unten treten

Frank Blenz schrieb zu diesem Thema einen lesenswerten Artikel in den Nachdenkseiten, in dem er mit dem Bürgergeld-Bashing abrechnet.

„Das Dauerfeuer aus der Politik (besonders aus den Kreisen der CDU und der FDP), der Wirtschaft, der Gesellschaft im Verbund mit meinungsführenden Medien im Rahmen der auf Linie fixierten Erziehung der Bundesbürger zielt einzig darauf ab: Treten von oben nach unten. Die Menschen mit Bürgergeld nehmen unfreiwillig die Funktion der Zielscheibe ein. ‚Alle drauf‘ lautet das unausgesprochene Motto.“

Bürger, „die in Lohn und Brot stehen und damit, so die Erzählung, zur Gesellschaft gehören und in der Rangordnung eine Stufe höher stehen als die Bürger mit dem Bürgergeld“, beteiligen sich oft gern an der Herabwürdigung derer „ganz unten“. Dies liege auch daran, dass „das Konstrukt unserer Karriereleiter-Leistungsgesellschaft unter anderem auf dem Prinzip ‚Teile und Herrsche‘ basiert.“ Andererseits:

„Bei denen, die Geld wie Heu haben, hält sich der Protest der Tretenden in Grenzen.“

„Sozialisten“ ante portas

Der hyperlibertäre Unternehmensberater Markus Krall sagte in einem Video mit dem ihm eigenen Charme:

„Dieses Geld kommt ja nicht vom Himmel geregnet, sondern es wird vorher anderen Leuten weggenommen, die arbeiten gehen. (…) Das ist eben Sozialismus. Wir stehlen es den anderen, weil wir zu faul sind zum Arbeiten.“

Die Begriffe „Kommunismus“ und „Sozialismus“ werden von dieser Denkrichtung inflationär gebraucht. Sie sind angstbesetzt, weil für viele Menschen noch mit Assoziationen wie „Stasi, Mauer, Stacheldraht“ verbunden. Letztlich zielt dieser Diskurs aber darauf ab, die bewährte soziale Marktwirtschaft durch eine unsoziale zu ersetzen.

Mit einer Regierungsübernahme durch die Union — oder etwas später vielleicht durch die AfD — droht eine Abschaffung der Sozialhilfe, außer für nachweislich nicht arbeitsfähige Menschen. Wenn Friedrich Merz das derzeit noch nicht so drastisch ausdrückt, so ist dies wenig beruhigend. Denn einmal an der Macht, könnte er zu seinem Entsetzen feststellen, dass die Kassen leer und die Spielräume für Sozial-Schnickschnack aufgebraucht sind. Speziell auch weil sich ein großer Teil der Steuergelder in der Ukraine in Pulverdampf aufgelöst hat.

Italien marschiert voran

Italien ist unter Giorgia Meloni diesbezüglich schon einen Schritt „weiter“ und kann als Schulbeispiel studiert werden. Das Magazin „Der Westen“ beschreibt die Lage in dem südeuropäischen Land so:

„Nun geht das italienische Bürgergeld nur noch an Haushalte, in denen Minderjährige, Menschen mit Behinderung oder Alte leben. Für Menschen, die sich in einer Weiterbildung oder Qualifikation befinden, gibt es 350 Euro Unterstützung vom Staat, für maximal ein Jahr. Das Ergebnis dieser Politik ist verheerend für Menschen, die ganz unten sind, vor allem im armen Süden des Landes. Laut der italienischen Statistikbehörde Istat ist die Zahl der Menschen in absoluter Armut auf einen neuen Rekordwert gestiegen. Rund 5,75 Millionen Menschen in Italien können sich keinen menschenwürdigen Lebensstandard mehr leisten.“

Auch in Italien argumentierten Befürworter des neuen Unsozialsystems, das Bürgergeld habe „Empfänger häufig davon abgehalten, eine formale Beschäftigung zu suchen. Viele dürften schwarzgearbeitet haben“. Artikelautor Marcel Görmann gibt aber mit Blick auf Deutschland zu bedenken:

„Im Jahr 2023 gab es eine neue Rekordbeschäftigung in Deutschland von im Schnitt 45,9 Millionen Menschen (330.000 mehr als 2022). Es gab also keine Bürgergeld-Kündigungswelle bei Geringqualifizierten und Mindestlohn-Empfängern.“

Italien kann also durchaus als Warnung dienen — in Richtung derer, die jetzt in eine Art Unions-Euphorie verfallen oder befriedigt den Aufstieg der AfD beobachten, weil ihr Leidensdruck angesichts des Ampel-Desasters so groß geworden ist, dass die Frage des „Wohin?“ nicht vordringlich scheint.

Eine Regierung Merz würde bedeuten: Coronaverantwortliche, die ihre Verfehlungen nie reflektiert oder gar bereut haben, gelangen mangels realistischer Alternativen viel zu früh wieder an die Macht, schleifen das Sozialsystem und treiben die Kriegsstimmung wahrscheinlich noch brutaler voran, als es die Ampel zu tun wagte. Im günstigsten Fall würden sich unter einer unionsgeführten Regierung die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so verbessern, dass wieder mehr Geld zu verteilen wäre, dass also auch nach Abzug der Tributzahlungen an Superreiche noch genug für die arbeitende Mitte übrig bliebe. In jedem Fall aber würde der Kampf gegen Arbeitslose — statt des Kampfes gegen Arbeitslosigkeit — mit wachsender Rücksichtlosigkeit gegenüber persönlichen Schicksalen vorangetrieben werden. Befriedigt über eine Politik, die Einwanderer „endlich“ schlechter behandelt, würden deutsche Kleinverdiener und prekär Lebende vielleicht eine Zeit lang darüber hinwegsehen, dass es auch ihnen inzwischen immer schlechter geht.

Die Großen lässt man laufen

In Deutschland beziehen 5,54 Millionen Bürgergeld. Bei vielen von ihnen könnte man sicher darüber streiten, ob sie nicht durch eigenes Verschulden arbeitslos wurden oder ob sie überhaupt rechtmäßig in den Pool der Hilfeberechtigten hineingeraten sind. Das Problem ist aber in seiner Dimension im Vergleich zu anderen Phänomenen der Verteilungs-Ungerechtigkeit eher gering. Man könnte, ohne das Existenzminimum anzutasten, allenfalls jedem in dieser Personengruppe je 20 Euro weniger geben.

Der Staat würde dadurch laut FDP-Fraktionschef Dürr monatlich 850.000.000 Euro sparen, er würde allerdings dadurch die jetzt schon spürbaren Härten für Betroffene nochmals verstärken. Zum Vergleich: Das Vermögen der 500 reichsten Deutschen beträgt laut Manager Magazin derzeit insgesamt 1,1 Billiarden. 1.100.000.000.000.

Das ist eine Zahl mit vier Stellen mehr als die Summe, die Bürgergeld-Bezieher „zu viel“ bekommen. Und letztere brauchen jeden Cent, den sie bekommen — könnten allenfalls minimale Einbußen verkraften. Es wird aber niemand ernsthaft behaupten, dass diese 500 reichsten Deutschen — der reichste von ihnen verfügt über 42 Milliarden Dollar — jeden Cent davon dringend benötigen oder dass sie ihn als Vergütung für erbrachte Leistung wirklich „verdient“ haben.

Wer also kommt uns wirklich „teuer zu stehen“? Wem geht es wirklich „zu gut“? Vielleicht ist es — wenn wir schon unbedingt nach Schuldigen suchen müssen — an der Zeit, den Kopf zu heben und die Blickrichtung zu wechseln — nach oben, nicht mehr nach unten.


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