Jeder Mensch ist Erdenbürger, Staatsangehöriger und Individuum. Er bewohnt den Planeten, ein Land und eine Wohnung. Sein Heimatsbegriff umfasst den globalen, nationalen und individuellen Bereich. Die Frage nach dem Lebensgefühl des Menschen muss der materiellen und sozialen Beschaffenheit dieser Wohnräume Rechnung tragen.
Heute bevölkern 7,6 Milliarden Menschen die Erde, und jährlich kommt in etwa die Einwohnerzahl Deutschlands hinzu. Zwei Drittel der Menschheit leben in größter Armut, ein Fünftel kann weder schreiben noch lesen. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind am Hunger oder den Folgen chronischer Unterernährung. Derzeit toben weltweit 32 anhaltende Kriege und Konflikte. Kein Tag vergeht, ohne dass wir von Schreckensmeldungen bedrängt werden: Verbrechen, politische Schweinereien, Unglücksfälle.
Was uns am meisten bewegt, sind die Umweltkatastrophen: Hitzewellen und Waldbrände, Wirbelstürme und Dürren, Überschwemmungen und Erdbeben. Und natürlich die von uns selbst inszenierten Dramen: Regenwald-Rodung, Plastikmüll in den Ozeanen, Ölpest, Smog und Super-GAU. Täglich werden 158 Pflanzen- und Tierarten ausgerottet. Die Angst ist unser ständiger Begleiter, die Angst und das schlechte Gewissen.
Heimat als Unort
Auf der individuellen Ebene hängt das Lebensgefühl maßgeblich von der Wohnsituation ab. Wohnen beinhaltet eine emotionale Bindung an den Wohnort, Möglichkeiten der Kommunikation, sozialen Austausch und die dadurch gewährleistete Identitätssicherung. Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, fühlen wir uns zu Hause wohl — dann empfinden wir den Wohnort als Heimat. Die Mehrzahl der Ortschaften und Wohnungen, in denen wir leben, erfüllt diese Ansprüche kaum mehr.
Obwohl ein Umdenken im Gang ist, verplanen Immobilienhändler und Spekulanten nach wie vor unsere Städte. Sie verwandeln die Stadtkerne in Ansammlungen von Büros, teuren Studios, rentablen Spezialgeschäften, Luxusrestaurants und Schnellgaststätten. Es gibt immer weniger gemütliche Quartierkneipen und -läden. Die Bürgersteige werden schmaler, die Grünflächen müssen Parkplätzen weichen. Wir bezahlen immer höhere Mietzinse für enge und niedrige Wohnungen in den Außenquartieren. Oft fehlt ein Balkon, meistens der Garten.
Die Familien leiden unter einschränkenden Hausordnungen. Die örtliche Trennung der Lebensbereiche — Arbeiten, Wohnen, Einkaufen, Erholen — erzwingt die Anschaffung eines Autos. Der Berufspendelverkehr und die Wochenendfahrten zum Supermarkt im Niemandsland außerhalb der Ortschaften nehmen weiterhin zu. Und wo die Wohnsituation normiert, hässlich, laut und lieblos erscheint, erhöht sich das Mobilitätsbedürfnis. Und so wird die Freizeit vermehrt dazu genutzt, dem monotonen Quartier, den öden Straßenfluchten und der fortschreitenden Vereinsamung zu entfliehen. Wir setzen uns in den Wagen und atmen auf.
Ausbruch aus der Enge
Wir atmen auf und geben Gas. Ein leichter Druck aufs Gaspedal befreit die geballte Kraft vieler Pferdestärken. Die Karosserie beginnt zu vibrieren, der Motor heult auf, knattert und dröhnt. Mühelos steigern wir die Geschwindigkeit vom sanften Gleiten zur rasenden Flucht. Die Beschleunigung löst einen körperlichen Erregungszustand aus, der in eine Welle von Empfindungen mündet, die manche Menschen mit einem Orgasmus vergleichen. Die Gravitationskräfte beeinträchtigen das Gleichgewichtsgefühl. Bäume, Häuser und Landschaften flitzen vorbei. Bequem ruhen wir im Sessel, benommen vom Rausch der schnellen Fahrt.
Die Intensivierung des Augenblicks wird zum Erlebnis und vermittelt Gegenwart pur, die sich auflöst in nichts. Die Maschine erzeugt und füllt Leere. Wir fallen in diese zeitlosen Momente, um neugeboren aus ihnen hervorzugehen.
Verschmolzen mit der Maschine, bewegen wir uns selbst. Wir sind das Auto, wir sind die Kraft. Die Kentauren der Mythologie feiern Auferstehung als Auto-Menschen der Postmoderne. Fahren wird zur Dominanzgebärde, einen Führerschein haben heißt: Führer sein, Macht haben. Unbedeutende aggressive Verhaltensweisen können auf einmal zur kriminellen Verantwortungslosigkeit eskalieren. Der Konkurrent wird angehupt, geblendet, gejagt, an die Leitplanke gedrängt oder rechts überholt. In den USA schießen Automobilisten sogar aufeinander.
Bei konstanter Geschwindigkeit verändert sich unsere Wahrnehmung erheblich. Alle Sinne sind davon betroffen. Der Ausblick durch die Windschutzscheibe verengt sich zu einer Art Tunnelsicht; vorn ist alles erkennbar, links und rechts zieht es in abstrakten Streifen an uns vorbei. Wir erfassen die Gegend, durch die wir sausen, nur gefiltert. Hitze und Kälte, Geräusche und Gerüche, Sonne, Wind und Regen dringen nicht ins Innere des Fahrzeugs. Die zielgerichtete Vorwärtsbewegung isoliert zusätzlich. Kommunikation mit Mensch und Natur ist kaum mehr möglich; spontane Begegnungen gibt es nicht mehr — außer bei Zusammenstößen. Wir erleben die wattierte Wirklichkeit als Illusion. Wir erfahren sie als etwas Immaterielles, Irreales, das uns nichts mehr angeht. Im Auto sind wir Autisten — Menschen, die sich von ihrer Umwelt absondern und sich vorwiegend in der Welt ihrer eigenen Vorstellungen und Fantasie bewegen.
Heimweh ist Fernweh
Angst, Verunsicherung und Identitätsverlust gipfeln in einem beklemmenden Gefühl der Heimatlosigkeit. Wir fühlen uns auf diesem Planeten, in diesem Land, an unserem Wohnort nicht mehr heimisch. Die Wirklichkeit ist oft abweisend und vermag unsere Sehnsucht nach Geborgenheit und einem Aufgehobensein in der Natur nicht mehr zu stillen. Die Folge: Wir sind auch menschlich entwurzelt, finden kaum noch zu uns selbst, geschweige zu den anderen. Die nähere Umgebung ist uns fremd, und das Leben spielt sich anderswo ab. Wir ertragen das Nahe nicht mehr, wir sind heimwehkrank.
Was bleibt uns in dieser Welt denn anderes übrig, als unser enttäuschtes Urverlangen, in ihr zu Hause zu sein, auf ein imaginäres Heim in der Ferne auszurichten?
Wenn wir hier nicht glücklich sind, könnten wir es vielleicht dort werden. Unser Heimweh ist ein Fernweh. Es ist in den zwanghaften Drang ausgeartet, uns fortzubewegen. Mit dem Auto können wir fahren, wohin wir wollen und wann immer wir wollen. Die Autofahrt bringt Entspannung im Zustand der Bewegung. Autofahren heißt unterwegs sein. Wir befinden uns auf einer Reise, die Welt zieht vorbei, und wir gehören ihr nicht mehr an. Wir stehen außerhalb der Dinge und fühlen uns frei. Die automobile Freizeitkultur ist nur ein Symptom dieser Mobilitätssucht, die Automanie nur der Ausdruck unseres unermesslichen Heimwehs.
An den Wochenenden und bei Ferienbeginn rollt die Blechlawine aus erlebnisarmen Betonlandschaften in die Erholungsgebiete. Rund 70 Prozent der in- und ausländischen Touristen reisen mit dem Auto an ihren Ferienort. Es ist ein regelrechter Strom von Ausflüglern, Surfern, Wanderern, Bergsteigern und Sonnenhungrigen, eigentlich ein Flüchtlingsstrom. Die Flüchtenden nehmen Stress, Staus und Unfälle in Kauf, denn am Ende der Fahrt lockt das Reservat, wo sie sich von den Belastungen des Alltagslebens ausruhen können. Besonders das Camping erfreut sich einer großen Beliebtheit: Im Wohnwagen genießen die Heimatlosen die Verschmelzung von Heim und Mobilität.
My car is my castle
In gewissem Sinn ist natürlich jedes Auto ein Wohnwagen, das heißt ein Wohnraum auf Rädern, eine Erweiterung des Heims. Das Auto ist ein abkoppelbares Zimmer, das den Insassen auf seinen Ausflügen in die Außenwelt wie ein schützender Panzer umgibt. Manche Menschen kriechen in dieses Zimmer wie in eine Festung und verbringen mehr Zeit darin als in der Wohnung. Das automanische Heimweh verlagert unsere Privatsphäre auf den Asphalt, wo wir aber keineswegs auf den häuslichen Komfort verzichten müssen.
Unsere Fahrzeuge, zum Teil fantasievoll umgebaut, weisen alle Merkmale eines idealisierten Heims auf: Ledersessel und Teppich, Heizung und Aircondition, Digitalradio und Alarmanlage. Hinzu kommt die autospezifische Vollendung: Metallic-Lackierung und Schiebedach, elektrische Sitzverstellung und Niveau-Regulierung, Außenthermometer und Scheinwerfer-Scheibenwischer. Ein elektronisches System kontrolliert, dass die Umgebung des Fahrzeugs überwacht wird, und steuert Motor, Ventilation und dergleichen. Im Auto sind wir mehr zu Hause als zu Hause, da stören kein Nachbar und kein Hausmeister. Wir haben das Steuer fest in der Hand und können tun und lassen, was wir wollen: reden, rauchen, singen, essen, schlafen.
Die automobile Freiheit macht das automanische Heimweh halbwegs erträglich. Und wir machen gute Miene zum bösen Spiel; denn solange wir als Erdenbürger, Staatsangehörige und Individuen heimatlos bleiben, haben wir uns mit dem Provisorium Auto zu begnügen.
„Lenkwaffe“ Auto
Wir stehen schon jenseits der Grenzen des automobilen Wachstums — im Niemandsland der Selbstzerstörung, wo keiner schuldig sein will und alle Schuld haben. Dennoch ist ein Ende des motorisierten Massenwahns nicht in Sicht. Die Expansion des globalisierten Kapitalismus einerseits und die Liberalisierung des Welthandels anderseits bewirken ein weltweites Anwachsen der Transportströme. Fachleute meinen, Autoverkehr und Energievergeudung würden trotz vermehrten Umweltbewusstseins weiter zunehmen. Das Auto wird vorerst also seinen gesellschaftlichen Stellenwert behalten — als Fortbewegungsmittel Nummer eins und mörderische „Lenkwaffe“, als Traumobjekt und Ersatzheim, als psychische Droge und „kultische Mitte einer kinetischen Weltreligion“ (Peter Sloterdjik). Es ist damit zu rechnen, dass die „Mobilmachung“ der Gesellschaft vorangetrieben wird.
Die Zukunft muss wohl so manchen ängstigen, der sich mit ihr befasst. Doch es führen Wege aus der vermeintlichen Sackgasse. Politiker, Finanziers und Beamte, Architekten, Verkehrsplaner und Bürger sind dazu aufgerufen, die dialektische Chance wahrzunehmen:
Der verkehrsgerechte Mensch von heute schafft die gesetzlichen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen für den menschengerechten Verkehr von morgen.
Wege aus der Sackgasse
Am Anfang steht die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Fortschritt entsteht da, wo Irrtümer erkannt und neue Lösungen gefunden und erprobt werden. Wir müssen versuchen, die von Wirtschaft, Wissenschaft und Bürokratie verschütteten Potenziale menschlicher Kreativität freizulegen. In welche Richtung der technische Fortschritt weist, wissen wir. Nun gilt es, soziale Experimente zu wagen, um dem Fortschritt seine sozialethische Dimension wiederzugeben.
Was es braucht, damit die verkehrspolitische Entwicklung Mensch und Umwelt miteinander versöhnt, ist hinlänglich bekannt. Die Maßnahmen, die nicht nur zu erörtern, sondern zu ergreifen wären, stehen an. Wir brauchen eine globale Klimakonvention und ein gesamteuropäisches Finanzierungssystem für den Verkehr, das die externen Kosten — Unfallfolgen, Lärm, Luft- und Gewässerverschmutzung, landwirtschaftliche Ertragsminderungen und so weiter — vollumfänglich den Verursachern aufbürdet. Ökobonus und Lenkungsabgabe sind zwei Stichworte.
Zwingend sind auch ein konsequenter Gesetzesvollzug im Bereich des Umweltrechts, die Einstellung des Straßenbaus und die Einrichtung von Park-and-ride-Anlagen, die Einführung motorfahrzeugfreier Tage und eine Treibstoff-Kontingentierung. Der Gesetzgeber muss die Tempolimits auf den Autobahnen dauerhaft senken, die strikte Einhaltung von Luftreinhalte- und Lärmschutz-Verordnungen durchsetzen und den öffentlichen Verkehr ausbauen. Was weiter nottut, sind die Verlagerung des Gütertransports auf die Schiene und die Förderung der Erforschung erneuerbarer Energieträger wie Sonnen- und Windenergie, Biomasse, Biogas und Wasserkraft. Elektrofahrzeuge und Solarmobile sind zu perfektionieren.
Menschengerecht wohnen
Parallel zur Verkehrsreform ist eine städtebauliche Um- und Neugestaltung vonnöten. Anzustreben sind überschaubare, eigenständige Siedlungen mit allem, was der Mensch für seine freie Entfaltung benötigt: Platz zum Wohnen, Arbeitsstätten, Einkaufsmöglichkeiten, kulturelle Einrichtungen sowie Freizeit- und Erholungsgebiete, die Flächen zum Verweilen oder zum Spazieren, für Spiele und Begegnungen aufweisen und auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar sind. Wichtig ist, die Innenstädte für Autos zu sperren, keine Parkhäuser mehr zu bauen und die Straßen nicht mehr zu verbreitern.
Die Wohnungen sollen mit mindestens einem Balkon ausgestattet sein, und den Mietern muss das Recht eingeräumt werden, das Aussehen des Gemeinschaftsgartens mitzuprägen. Städte und Wohnquartiere inklusive Häuser und Wohnungen müssen dreierlei garantieren: erstens die Möglichkeit, anderen Menschen durch die Gestaltung des persönlichen Wohnraums etwas mitzuteilen; zweitens die Möglichkeit, den eigenen emotionalen Zustand durch die Wohnumgebung zu regulieren; und drittens die Möglichkeit, sich in seiner Wohnumgebung zu versichern, wer man ist und wer man war.
Die Erfüllung dieser verkehrspolitischen und städtebaulichen Forderungen müsste uns dazu bewegen, die großen Entfernungen mit der Bahn, die mittleren mit Bus und Straßenbahn und die kleinen mit Taxi und Fahrrad oder zu Fuß zurückzulegen.
Heimat in uns selbst
Das Massenphänomen Individualverkehr ist ein gesellschaftliches Problem, das gesellschaftliche Lösungen verlangt. Globale und nationale Bestrebungen, den Individualverkehr einzudämmen, sind unumgänglich. Da er seinen Ursprung aber im Individuum hat, liegt es in erster Linie am Einzelnen, ob das Problem nachhaltig gelöst werden kann. Auf der Ebene der individuellen Autonutzung sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Viele Ideen sind bereits verwirklicht. Der ökologisch sinnvolle Umgang mit dem Auto reicht vom Gebrauch eines Leihwagens bis zur gemeinsamen Nutzung eines Privatwagens mit anderen Haushalten. Verschiedene Mitfahrzentralen vermitteln zudem Autofahrten innerhalb Deutschlands und ins Ausland.
Es führen tatsächlich Wege aus der vermeintlichen Sackgasse. Doch nur den wenigsten Automobilisten gelingt es, über die kritische Bewusstwerdung hinaus ihre seelische Abhängigkeit vom Auto zu überwinden. Warum fehlt uns die Kraft, das existenzielle Heimweh anders anzugehen als in den mobilen eigenen vier Wänden? Wie können wir dem anerzogenen Verhaltensmuster und den leeren Versprechungen der Werbung widerstehen? Wie kommen wir aus den Pseudoidentitäten und Rollenklischees, die ein Wagen vermittelt, heraus? Wie ist der automobile Autismus, die Beziehungslosigkeit zur Welt, zu bezwingen? Wie finden wir den Mut, materielle Einschränkungen auf uns zu nehmen?
Indem wir auf das Bewusstsein unserer kritischen Lage mit automanischem Heimweh reagieren, ergreifen wir die Flucht.
Die Sehnsucht, irgendwo zu Hause zu sein, wo wir im Augenblick noch nicht sind, erschöpft sich im Mobilsein. Wir durchdringen die Waagrechte, sind halt- und ruhelos.
Das Gefühl, jemand zu sein, verflüchtigt sich wie die Abgase, die wir in die Atmosphäre blasen. Es ist ein Teufelskreis, der nur zu durchbrechen ist, indem wir innehalten. Der Mensch wird nur dann schöpferisch, wenn er Zeit und Muße dazu hat. Das Gegenteil von flüchten ist nicht stillstehen, sondern standhalten. Statt in die Ferne zu schauen, entdecken wir unser Innenleben. Statt uns fortzubewegen, ruhen wir in uns selbst. Wir haben einen sicheren Stand und wachsen in die Senkrechte. Wir erschaffen eine neue Heimat — in uns selbst. Erst jetzt sind wir fähig, aktiv an der Veränderung und Gestaltung der Welt mitzuwirken, um auch in ihr heimisch zu werden.
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