„Malt nicht die Blätter des Baumes, sondern versucht, die Leere dazwischen zu erfassen.“ Der erste Tag des Malkurses in Tamera, Portugal, Heilungsbiotop und Friedensforschungszentrum (1), beginnt mit dem Erspüren des Raumes zwischen den Dingen, der Leere, in der sich alles abspielt und alles möglich wird. In diesem Raum ist alles Bewegung, Schwingung, Information. Hier nehmen die Formen ihren Ursprung.
Würde man, so erinnere ich mich, alle Atomkerne des Universums konzentrieren, würden sie in einen Fingerhut passen. Die Materie, die uns umgibt, besteht vor allem aus Leere. Was wir sehen, ist demnach immer nur wie die Spitze eines Eisberges, unter dem sich das Eigentliche verbirgt. Das Wesentliche, so steht es auch im Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry, ist für das Auge unsichtbar. Nur mit dem Herzen können wir es erfassen.
Sonnenaufgang in Tamera, Foto: spok
Es ist die Dimension des Bewusstwerdens, an die uns Madjana Geusen heranzuführen versucht. Sie bietet uns Erfahrungen jenseits des Alltäglichen an, das Überschreiten von Grenzen, die wir uns selbst gesetzt haben. „Fühlt euch in den Baum hinein, in die Blumen, das Wasser, den Himmel, die Wolken.“ Nur über dieses Hineinspüren können die Dinge in ihrer Ganzheit erfasst werden. Der Kopf zerlegt die Dinge in seine Einzelteile. Das Herz bringt sie wieder zusammen. Mit befreiten Sinnen wird das Wesentliche wahrnehmbar und findet seinen Weg auf die Malplatte.
Unerschöpflicher Quell
So gut es geht versuche ich, die Kontrolle abzugeben und in das schöpferische Feld einzutauchen, das hier aufgebaut wird. Hier geht es nicht um Dekoration und Schönpinselei, sondern um das Erfassen des Verbindenden zwischen Mensch und Leben. Doch als uns ein frisch gepflückter Blumenstrauß vorgesetzt wird, male ich Blümchen. Ganz hübsch, doch ohne Ausdruck, ohne Seele. Frustriert übermale ich am Abend das Werk des Tages und nehme mir vor, am folgenden Tag weniger brav zu sein und mich von alten Vorgaben zu befreien.
Malen am Kunstberg in Tamera, Foto: spok
In der persischen Sprache ist Madjana die, die sich von jeder Illusion befreit. Madjana wird ihrem Namen gerecht. Mit zwanzig entschied sie sich für die Kunst, ohne ein entsprechendes Studium zu durchlaufen, ohne Formatierungen, mit gleichgesinnten Menschen. Es ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die sie leitet, der Wunsch, zusammen mit anderen über Grenzen zu gehen und einen experimentellen Raum zu erschaffen, in dem alles möglich wird, auch das Unmögliche.
Madjana Geusen, Foto: Elisa Gratias
Die Kunst, die so entsteht, erzeugt ein neues Lebensgefühl. Sie regt die Gefühle an, ist sinnlich, erotisch. Diese Art von Kunst hat nichts mit Kommerz zu tun, mit Konsum und mit Konzepten. Sie entwickelt sich aus dem heraus, wo wir empfindlich sind, unsicher, zweifelnd, verletzlich. Sie sensibilisiert dafür, dass wir als kreative Wesen nicht nur punktuell schöpferisch sind, sondern in jedem Moment unseres Lebens. Die Dauerkreativität, die auf diese Weise entsteht, ist ohne Ziel, ein purer Ausdruck der Freude am Schaffen und am Leben.
Über das kontinuierliche Einsteigen in die jedem Menschen innewohnende Kreativität entsteht eine Energie, die in ihrer Tiefe mit der ursprünglichen Schöpfung zu tun hat, mit Eros und mit grenzenloser Freiheit. Sie entspringt einer Quelle, die nicht Ausdruck eines persönlichen Problems ist, sondern ein Kanal zur Welt und zu dem, was uns zusammenhält.
Kunst, die auf diese Weise gelebt wird, öffnet Seelenräume und hat die Kraft, das entstehen zu lassen, was Frieden in eine Kriegsgesellschaft bringt. Denn nur im Frieden kann diese Quelle fließen. Im Krieg ist sie blockiert. Krieg, wie oft haben wir es erfahren, zerstört die Kunst, entfremdet sie, degradiert sie zum bloßen Objekt.
Allein der Frieden ermöglicht es, Räume zu schaffen, die sich immer weiter ausdehnen können und die es ermöglichen, in ein höheres Bewusstsein zu kommen, in eine höhere Identität. Dieser Prozess kann sich nur in Freiheit vollziehen und auf der Grundlage des Vertrauens. Ist diese Voraussetzung gegeben, wird Kunst zu einer Zelebration des Lebens. Denn sie führt zu der Erkenntnis, dass wir jeden Tag neu beginnen können, unser Leben zu gestalten.
Angedockt
Als ich am nächsten Tag vor meiner Platte stehe, betrete ich ein mir bis dahin unbekanntes Feld, gehalten von der Gemeinschaft der Schaffenden. Aus Blümchen werden vulkanhaft explodierende Blumen. Ich erlebe Prozesse, die mir vom Schreiben her vertraut sind: Es kommt etwas über mich zum Ausdruck, das gleichzeitig in mir ist und weit über mich hinausgeht. Wie von selbst finden die Farben und Formen ihren Weg auf die Malplatte, wenn ich ihnen keinen Widerstand entgegensetze und es geschehen lasse. Sie ziehen quasi durch mich hindurch.
So ist diese Erfahrung mit Kunst eine Begegnung mit den hohen Dimensionen des Seins. Wer ist hier am Werk? Was wirkt durch mich? Ich habe die Wahl: Versuche ich, mit mehr oder weniger geübter Hand dem Ausdruck zu geben, was meine Gehirnwindungen hervorpressen, oder steige ich in den Fluss und öffne mich für etwas Höheres, Umfassenderes, das Ganze Betreffendes? Verharre ich hinter den Wänden eines einsamen Ateliers oder gehe ich hinaus in einen Raum, in dem die alte Funktionalität überwunden werden und die Sprache der Seele zum Schwingen kommen kann, unmittelbar, sinnlich und verbindend?
Am Kunstberg in Tamera entstandene Bilder, Foto: spok
Wenn wir uns diesen Freiraum schaffen, kann die Ent-Identifizierung mit dem Drama gelingen und der authentische Ausdruck sich manifestieren. Es ist, so Madjana, wie die Aktivierung eines Urkraftfeldes, in dem alles zusammenkommt, eine Art Ursuppe, aus der heraus wir jenseits der Programmierungen und Formatierungen schöpfen können. Somit tritt das in unser Leben, wonach wir uns von Herzen sehnen: Freiheit, Schönheit, Wahrheit und Liebe.
Hiermit kann sich der der Kunst innewohnende heilende Aspekt offenbaren. Der kreative Schatz wird aus den Fesseln befreit, die uns in den alten Konditionierungen halten. Die Blockaden, Ursprung jeder Art von Erkrankung, werden aufgehoben und die Dinge kommen wieder ins Fließen. So kann das Spaltende überwunden werden, das dem Kriegerischen in unserer Gesellschaft den Boden bereitet hat.
Im Netz des Lebens
„Male ganz unsystematische, wilde, freie Bilder. Spiele mit den Gegenständen der Welt, mit Bäumen, Häusern, Masten, Menschen, Wolken, Bergen. Verwandle sie. Fixiere dich an nichts. Bleibe frei, spielerisch, humorvoll.“
Madjana Geusen, Foto: Elisa Gratias
So steht es in dem von Madjana Geusen herausgegebenen Buch „Der heilige Gral des Mannes ist die Frau“ (2). Anhand der Zeichnungen und Gemälde des Künstlers und Mitbegründers von Tamera Dieter Duhm wird ins Bewusstsein geholt, wie Kunst den Menschen erneut mit der Schöpfung verbindet, die sowohl mit als auch ohne unser Zutun funktioniert.
Wenn wir uns dafür öffnen und „Es“ geschehen lassen, wird es möglich, uns von den krankmachenden Mustern und Vorgaben zu befreien, die die westliche Gesellschaft in ihren Fängen halten. Indem wir uns von der Kunst berühren lassen, werden wir gewahr, dass wir alle, jeder Einzelne von uns, Teil eines einzigen schwingenden Ganzen sind. Daran, mit welcher Schwingung wir in Resonanz gehen, entscheidet sich, wie es mit uns weitergeht: Eingeschlossen allein, oder gemeinsam das Leben zelebrierend.
Madjana Geusen, Foto: Elisa Gratias
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.tamera.org/
(2) Madjana Geusen (Hg.): Der Heilige Gral des Mannes ist die Frau. Gemälde, Zeichnungen und Texte von Dieter Duhm, Verlag Meiga 2006
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