„Das passiert immer nur den anderen, aber nicht mir.“ Diese Sicherheit trügt! Und dieser trügerische Schein verdunstet ganz augenblicklich, wenn uns das Schicksal mit voller Wucht die Faust in die Magengegend jagt.
Wir sind im Alltag näher an Katastrophen, als uns das manchmal bewusst und lieb ist. Denken Sie nur an ihren Arbeitsweg. Sie stehen am Bahnsteig und warten auf die Bahn. Die Fahrgäste trennt beim Einfahren des Zuges nur ein Schritt, respektive ein Meter von einem grausamen, Gliedmaßen zerstückelnden Tod, der den verursachenden Zugführer ein Leben lang traumatisieren kann. Oder denken Sie an den Straßenverkehr. Dort genügt eine Unachtsamkeit, um ganze Existenzen und Familien zu zerstören. Einzelheiten wollen wir uns ersparen.
Und selbst im besinnlichen Eigenheim — sofern wir eines haben — kann es mit der Idylle ganz schnell vorbei sein. Es bedarf nicht weniger Fehlgriffe, um einen Kabel- oder Fettbrand auszulösen oder beim Fensterputzen so zu stürzen, dass man vom Fenstersims direkt im Rollstuhl landet.
Läuft nicht mehr bei dir!
Das unerwartete Landen im Rollstuhl ist das eingehendste Beispiel eines Schicksalsschlags, der zumeist mit sozialer Isolierung und Einsamkeit einhergeht. Vielleicht greift dann in manchen Fällen die jeweils zuständige Versicherung und zahlt einem bis an das Lebensende entsprechende Beträge. Diese Beträge vermögen es zwar die finanziellen Sorgen zu nehmen, nicht jedoch, den oder die Betroffene in den Arm zu nehmen und zu trösten.
Bleiben wir beim Rollstuhl-Beispiel: Man ist mit einem Schlag mit der totalen Unbeweglichkeit konfrontiert. Schnell mal wo hingehen ist völlig unmöglich! Schon eine einfache Treppe kann dieses Vorhaben zunichtemachen — sogar im eigenen Zuhause. In der Hinsicht kann man hierzulande dankbar sein, dass immer mehr Orte barrierefrei gestaltet werden.
Dennoch bleibt vielen Betroffenen die Teilnahme am sozialen Leben verwehrt. Sie verschwinden auch aus der öffentlichen Wahrnehmung. Schließlich sieht man sie selten im öffentlichen Raum und vor allem nicht an den Orten des Vergnügens, also in Freibädern, Kneipen oder bei größeren Kulturveranstaltungen. Sie werden schlicht vergessen.
Vergessen von Freunden, die am Ende gar keine waren. Schönwetter-Freunde. Die Sorte von „Freunden“, die man hier und da mal sieht, zu denen allerdings keine engere Bindung besteht, die lediglich eine Zweckgemeinschaft bilden, damit man zum Beispiel nicht alleine feiern gehen muss. Wenn dann in dem Leben eines der Mitglieder dieser Party-Zweckgemeinschaft die Lichter ausgehen, verschwindet der Rest dieser Gemeinschaft in der Dunkelheit.
Man darf hier nicht mit erhobenem Zeigefinger Schuldzuweisungen verteilen. Wir alle sind in den Augen Vieler Teil dieser Schönwetter-Freundeskreise. Da kann sich niemand rausnehmen — auch nicht der Verfasser dieser Zeilen!
Dieser Umstand ist auf die aktuelle gesellschaftliche Struktur zurückzuführen. Durch die High-Speed-Geschwindigkeit heutiger Kommunikationstechnik erreichen wir so viel mehr Leute, kommen ihnen näher, während wir uns gleichzeitig weiter von ihnen entfernen. Nein, hier widerspreche ich nicht mir selber, sondern zeige eine klar erkennbare Paradoxie auf. Technisch ist es uns heute möglich mit Menschen in Kontakt zu treten, die wir vor wenigen Jahren niemals erreicht hätten. Gleichzeitig werden die Kontakte durch die quantitative Fülle oberflächlicher oder raumzeitlich verzerrt. Letzteres ist der Fall, wenn wir uns beispielsweise als Europäer in Europa unserer großen Liebe in Thailand ganz nahe fühlen, während wir nicht einmal unseren Nachbarn kennen.
Dazu kommt natürlich der neoliberal verordnete Individualismus und Diversity-Wahn, der die Köpfe und Herzen unserer Mitmenschen verpestet. Heute ist sich jeder der nächste. Eigenverantwortung ist das Gebot der Stunde. Wenn jeder mit seinem eigenen „Business“ beschäftigt ist, bleibt nicht mehr viel Kapazität und Bereitschaft, Zeit und Energie in die Solidarität mit seinen Mitmenschen zu stecken.
Solidarität gibt es noch!
Doch der Solidaritätsgedanke ist noch nicht komplett erloschen. Damit ist nicht gemeint, dass wir bereit sind, auf Facebook einen Like zu geben oder aus Solidarität ein Bild oder eine Petition zu teilen. Nein! Echte, wirkliche und sich in Taten ausdrückende Solidarität gibt es auch nach wie vor, wie einige jüngere Beispiele zeigen:
Ein sehr eingehendes Beispiel ist die Geschichte der Säure-Attentat-Überlebenden Vanessa Münstermann aus Hannover. Nach dem feigen Angriff durch ihren Ex-Freund gründeten ihre Freunde den Unterstützerkreis „We love Vanessa“. Dieser sammelte unter anderem bei einem bekannten alljährlichen Marathon in Hannover die nötigen Spendengelder, damit Vanessa Münstermann sich die notwendigen Operationen für die Wiederherstellung ihres vernarbten Gesichtes leisten konnte. Diese — und auch die Cremes für die Behandlung der Narben — werden nämlich nicht von der Krankenkasse gedeckt. Das lässt tief in unser Sozialsystem blicken!
Vanessa Münstermann erkannte während ihres Genesungsprozesses sehr früh, dass andere Menschen mit vergleichbaren Schicksalsschlägen nicht in einem solchen Netz der Solidarität — welches von Freunden und nicht vom Staat gestrickt wird — aufgefangen werden. Daraufhin gründete Sie ihren Verein ausGEZEICHNET, der Betroffenen in ähnlichen Situationen hilft.
Ein weiteres, wenn auch nicht ganz so aufsehenerregendes Schicksal, ereilte die 26-jährige Mechatronik-Studentin Michaela Benthaus aus Linz, die Ende September letzten Jahres bei einem Mountain-Bike-Unfall eine Querschnittslähmung erlitt.
Was das Sitzen in Rollstühlen bedeutet, wurde oben schon angedeutet. Auch in diesem Fall sponnen ihre Freunde ein Netz der Solidarität und starteten ein Crowdfunding namens „Querschnittlähmung — Start in ein neues Leben“, mittels dem die nötigen Gelder für den Umbau der Wohnung sowie die Beschaffung eines Sportrollstuhls gesammelt werden sollen. Aber nicht nur das! Einige Passagen des Crowdfunding-Textes sind sehr aufschlussreich:
„(D)ie Hoffnung stirbt zuletzt. Deshalb wollen wir — ihre Freunde — mit ihr zusammen um ihren Lebenswillen und ihre Hoffnungen kämpfen. Bei manchen Therapien und vor allem auch alltäglichen Hilfsmitteln hinken wir im deutschsprachigen Raum etwas hinterher, so dass die Krankenkassen eine Kostenübernahme verweigern.“
Das müssen wir uns einmal klar und deutlich auf der Zunge zergehen lassen! Nicht die Krankenkasse springt ein, um Maßnahmen zur Rehabilitierung einer durch einen Sportunfall querschnittgelähmten jungen Frau zu übernehmen, sondern ihre Freunde müssen eine Spendenaktion ins Leben rufen, um 50.000 Euro privat gespendetes Geld zusammenzukratzen.
Nun mag sich der eine oder andere denken: „Warum soll auch ein so großer Betrag der Krankenkassenbeiträge für verunglückte Extremsportler ausgegeben werden? Die müssen sich doch des Risikos bewusst sein! Die Krankenkasse sollte sich um die kümmern, die unverschuldet und ohne die Absicht, größere Risiken wie beim Mountain-Biking einzugehen, in eine solche Situation geraten sind!“
51.50.000 Euro klingt natürlich erst einmal nach sehr viel Geld. Diese Summe relativiert sich in Steuergeldern gemessen sehr schnell wieder, wenn man bedenkt, dass der Steuerzahler diesen Betrag stündlich (!) an den unvollendeten Berliner Flughafen BER abdrücken muss. Und das, obwohl die Möglichkeit Querschnittslähmungen zu heilen in einer näheren Zukunft liegt als die Vollendung des BER! Kein Scherz!
Die Betrachtung des Bundeshaushaltsberichts von 2017 gibt sehr viel Aufschluss darüber, welche Bereiche und Werte in der Politik hierzulande Priorität haben. Für die Verteidigung wurde mehr als doppelt so viel wie für die Krankenversicherung ausgegeben. Bei ersterem stiegen die Ausgaben um 5,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2016, bei der Krankenversicherung nur um 3,1 Prozent.
Wo der Staat Sozialabbau betreibt, müssen wir Bürger Sozialaufbau betreiben!
Wenn die Bundeswehr neues Gerät zum Abschlachten benötigt, muss Frau von der Leyen nicht auf go fund me gehen, um dort um Almosen für ein paar neue Leopard-II-Panzer zu betteln. Wenn man Gelder für Heilmöglichkeiten einer verunglückten Freundin auftreiben möchte, muss man dies eben schon tun.
Man kann anhand der gruseligen Aussagen des Ungesundheitsministers und Pharmalobbyisten Jens Spahn erahnen, wohin die Reise in diesem Land im Gesundheits- sowie in anderen Bereichen geht. Jemandem wie Vanessa Münstermann würde Herr Spahn wohl raten, anstatt der teuren plastisch-chirurgischen Eingriffe sich doch einfach aus Kostenersparnisgründen eine Anonymous-Maske zu kaufen. Und Michaela Benthaus dürfte sich, wenn es nach ihm ginge, wohl mit einem günstigen Longboard bäuchlings mit den Armen und dem Gesicht zehn Zentimeter oberhalb des Asphalts über die Straße robben.
Wenn es im Elfenbeinturm des Berliner Regierungsviertels sozial immer kälter wird, müssen wir uns anschicken, diese Wärme woanders aufkommen zu lassen.
„Der Solidaritätsbunker“ oder „Solidarität als Hobby“
Wir müssen schon jetzt anfangen, Pläne zu schmieden, wie wir reagieren, wenn es aus unserem engeren Kreis „einen erwischt“. Das mag durchaus unangenehm sein, weil man sich dann mit Szenarien auseinandersetzen muss, die im Gegensatz zur nächsten Urlaubs- oder Festivalplanung unschön und ätzend sind. Doch wir müssen dafür vorsorgen, weil das der Staat und sein immer schwächer werdendes Sozialnetz nicht tun werden! Eine Art Bunker aus schützenden Armen muss errichtet werden.
Wie könnte eine solche Strategie konkret aussehen? Der erste und naheliegende Schritt wäre der, eine WhatsApp- — bestenfalls eine Signal — Gruppe aufzumachen und dort sämtliche Hilfe zu koordinieren und in Arbeitsgruppen zu unterteilen. Eine Gruppe kümmert sich um ein Crowdfunding — wenn der Schicksalsschlag mit finanziellen Schäden verbunden ist — eine andere Gruppe technisch Begabter nimmt sich der technischen Belange an — wenn Beispielsweise für einen Rollstuhlfahrer eine Wohnung umgebaut werden muss — und die restlichen, einfühlsamen Teilnehmer bilden eine nicht zu unterbrechende Fürsorge-Kette. Das bedeutet, dass man sich im Freundes- und Verwandtenkreis abspricht, wer an welchem Tag Zeit hat, ein paar Stunden mit der betroffenen Person etwas zu unternehmen, damit diese nie länger als 24 Stunden mit ihren Problemen alleingelassen wird.
Dies sind natürlich sehr verallgemeinerte Maßnahmen, die auf den jeweiligen Schicksalsschlag angepasst werden müssen. Die oben skizzierte Maßnahme ist natürlich auch keine sozial-revolutionäre Innovation, aber nichtsdestotrotz mit hoher Wahrscheinlichkeit bei sehr vielen keine Selbstverständlichkeit. Ich verweise noch einmal auf den Abschnitt mit den Schönwetter-Freunden.
In einem meiner letzten Artikel plädierte ich für die Hobbylosigkeit und nun kann ich mit diesem Plädoyer an dieser Thematik erneut anknüpfen. Obgleich wir keine Maschinen sind, die sämtliche Zeitressourcen bis auf die letzte Millisekunde effektiv ausnutzen müssen — im Gegenteil (!) — verwenden wir viel Zeit — viel zu viel Zeit (!) — auf zeitvertreibende statt auf zeitnutzende Tätigkeiten.
Wenn wir uns in der Zeit, die uns frei zur Verfügung steht, der Hilfe und der Unterstützung unserer Nächsten verschreiben, mag das kurzfristig zum Zerreißen des einen oder anderen Geduldsfadens, zu Frustrierungen oder betrübenden Momenten führen. Also zum Gegenteil dessen, was wir uns von einem Hobby versprechen. Langfristig jedoch führt eine solche Struktur zu einem Gefühl der Zufriedenheit.
Denn man gibt sich nicht mehr länger allein in der Einsamkeit eines Hobbykellers einer zeitvertreibenden Tätigkeit hin, sondern arbeitet gemeinsam mit anderen in einem mehr oder weniger großen Sozialgefüge an einer guten, sinnvollen und vor allem menschlichen Sache. Man erlebt sich und andere in der Echtheit des Mensch-Seins mit allen dazugehörigen Stärken und Schwächen. Individueller Protz, Eitelkeit und das Zur-Schau-Stellen eines vermeintlichen Status nimmt in diesem Raum immer weniger Platz ein. Nicht so wie bei den Schönwetter-Freunden.
Wenn ein solches Netz einmal gesponnen und unentwegt gepflegt wird, kommt der allerschönste Aspekt zum Tragen: Sollten abends im Bett nach dem Ausschalten der Leselampe in der darauffolgenden Dunkelheit Zukunftsängste auftauchen, kann man diese durch eine Gewissheit dämpfen:
Wenn mich eines Tages ein Schicksalsschlag treffen sollte, mag ich vielleicht tief fallen — die Landung wird jedoch eine weiche sein!
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