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Geht es den Armen zu gut?

Geht es den Armen zu gut?

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spielt Arme gegen noch Ärmere aus.

Der gedankliche Schritt von der Bekämpfung der Armut zur Bekämpfung der Armen ist aber nicht weit. Spahn, als Mitglied einer mühselig zustande gekommenen Großen Koalition, musste das weicher spülen. Er brachte eine angebliche Solidargemeinschaft ins Spiel, die Armut nicht etwa bekämpft, sondern auf sie antwortet. Die berufenen Vorkämpfer dieser Solidargemeinschaft sind zunächst alle Parteien, die die Regelsätze nicht wirksam erhöhen wollen. Die Große Koalition von CDU, CSU und SPD hat sich in diesem Punkt schon um die FDP und die AfD erweitert. Sie weiß die Arbeitgeberverbände, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft der Metall- und Elektroindustrie, die Medienkonzerne und die Hayek-Gesellschaft hinter sich.

Hartz IV ist Hunger

Die neue Regierung begann mit Demagogie. Gesundheitsminister Spahn erklärte, „niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe“ (1). Er argumentiert gegen einen erfundenen Popanz. Niemand behauptet, dass Hartz IV Hunger bedeute und nur die Tafeln vor Hunger schützten.

Doch Hartz IV verhindert Hunger nicht, wie Spahn wohl meint, denn für viele BezieherInnen reicht die Unterstützung nicht bis zum Ende des Monats. Ein paar Tage ohne Geld bei nahezu leerem Kühlschrank auszukommen, gehört seit Jahrzehnten zum normalen Dasein mit Sozialhilfe (2). Für den überwiegenden Teil des Monats ist Mangelernährung das wichtigste Thema, nicht Hunger. Davon möchte Spahn ablenken.

Hartz IV ist Mangelernährung

Die angebliche Solidargemeinschaft teilt einem Alleinstehenden pro Tag 4,77 Euro für Ernährung zu und 34 Cent für Besuche von Cafés und Gaststätten. Bundeskanzlerin Merkel behauptet: „Unser System (ist) eines, das Menschen das Notwendige gibt“ (3). Das „Notwendige“ besteht für Alleinstehende in 83 Cent pro Tag für Frühstück plus 12 Cent für Getränke sowie für Mittag- und Abendessen je 1,67 € plus 24 Cent für ein nicht-alkoholisches Getränk. Zwischenmahlzeiten sind nicht vorgesehen. Besucher, die etwas mitessen oder -trinken, sind nicht eingeplant. Das soll reichen? Kaum zu glauben.

Grundlage für die vorstehenden Ernährungsbeträge sind die Ausgaben von rund 2.000 Einpersonenhaushalten einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Diese hatten 2013 ein Durchschnittseinkommen von 764 Euro und waren rätselhafterweise fähig, 903 Euro auszugeben. Die damaligen Ausgaben wurden auf 2018 fortgeschrieben.

Nach aktualisierten Erhebungen des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund brauchen alleinstehende Erwachsene für eine gesunde Ernährung heute etwa 3,26 € pro 1.000 kcal. Selbst wenn man von einem bescheidenen Ernährungsbedarf von 2.200 kcal täglich für Erwachsene ausgeht, braucht man nicht 4,77 €, sondern 7,17 € pro Tag oder über 70 € mehr im Monat. 4,77 Euro reichen gerade mal für 1.463 kcal am Tag. Das aber ist Mangelernährung, weil es nicht mal den Grundumsatz von täglich 1.700 kcal abdeckt. Um trotz Mangelernährung die Gesundheit zu fördern, wird Hartz-IV-BezieherInnen im Bierland Deutschland nicht einmal ein Fläschchen Bier zugestanden und auch keine Zigarette.

Die mickrigen Ernährungsbeträge im Regelsatz stehen aber nur auf dem Papier. Vor allem aus dem Geld für Nahrungsmittel, mit einem Drittel der Hauptposten der Regelsätze, werden nicht anerkannte Strom-, Unterkunfts- und Heizungskosten bestritten, notwendige Reparaturen bzw. Ersatzanschaffungen von Haushaltsgeräten, Zuzahlungen bei Krankheitskosten und vieles andere mehr. Selbst eine Haftpflichtversicherung (im Gegensatz zur alten Sozialhilfe) und die tatsächlichen Kontogebühren werden nicht anerkannt.

Hartz IV ist soziale Isolation

Die Armutshaushalte der EVS geben immerhin kümmerliche 1,26 Euro pro Tag für Gaststättendienstleistungen aus. Von der „Solidargemeinschaft“ werden davon jedoch nur 34 Cent anerkannt. Das sind nicht die tatsächlichen Ausgaben für einen Kaffee, sondern die reinen Materialkosten, die zu Hause anfallen würden. Hartz-IV-BezieherInnen sollen zu Hause bleiben und alleine Kaffee trinken. Ein Cappuccino für 2,50 € an einem sonnigen Tag in einem Gartencafé ist also im Sinne der Spahn‘schen Solidarität eine völlig unverantwortliche Ausgabe, da sie schon den halben Ernährungsbedarf eines Tages verschlingt.

Wohlfahrtsverbände kritisieren mit vielen weiteren Belegen völlig zu Recht, dass Hartz IV gesellschaftliche Isolation bedeutet und fordern, den Regelsatz für Alleinstehende deshalb auf 520 (Der Paritätische) bzw. 560 Euro (Diakonie) aufzustocken. Sie erkennen jedoch nicht an, dass Hartz-IV Mangelernährung bedeutet und akzeptieren die 4,77 Euro pro Tag als ausreichend. Wie ist das zu erklären? Auf was müssen sie Rücksicht nehmen? Sie müssten mindestens 600 Euro fordern, wenn sie die Mangelernährung von Hartz IV nicht akzeptieren würden.

FAZ für die Wiedereinführung eines Lohnabstandsgebots

Die Solidargemeinschaft aus Wirtschaft und Politik war durch die Antworten und Reaktionen auf Spahn in die Defensive geraten. Es musste also zurückgeschlagen werden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), das Zentralorgan der „Solidargemeinschaft“, stellte sich an die Spitze.

Diese Zeitung bedauerte, dass der Sozialstaat sich nicht an das Lohnabstandsgebot halte und erklärte: „Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit“ (4). Ziel muss also sein, dass sich Hartz IV weniger lohnt als Arbeit. Im SGB II/SGB XII gibt es allerdings gar kein Lohnabstandsgebot mehr. Es wurde 2011 abgeschafft.

Bis dahin galt, dass der Sozialhilfebedarf (Regelsätze plus durchschnittliche Warmiete) einer fünfköpfigen Familie unter dem durchschnittlichen Nettoeinkommen unterer Lohn- und Gehaltsgruppen zuzüglich einmaliger Leistungen sowie Kindergeld und Wohngeld in einer entsprechenden Haushaltsgemeinschaft mit einer alleinverdienenden vollzeitbeschäftigten Person liegen müsse.

Die Anwendung dieses Paragrafen hätte zu einer Senkung der Regelsätze führen müssen. Das war nicht durchsetzbar. Der Paragraf wurde so geräuschlos gestrichen, dass es viele bis heute noch nicht bemerkt haben.

Die FAZ bringt also ein noch nicht existierendes, neues Lohnabstandsgebot ins Spiel.

Nicht mehr der Hartz-IV-Bedarf einer kaum noch existierenden fünfköpfigen Familie mit einem Alleinverdiener soll der Maßstab sein, sondern der einer vierköpfigen Familie. Creutzburg beschränkte sich darauf aufzuzeigen, dass dieser Bedarf viel zu hoch ist. Für 2018 geht er von einem Nettobedarf eines Vierpersonenhaushalts in Höhe von 1.928 Euro aus (je 374 Euro für die Eheleute plus 296 Euro für ein 12-jähriges und 240 Euro für ein 4-jähriges Kind, zusammen 1.284 € plus bescheidene 644 Euro Warmmiete) (5).

Um einen Lohn zu erzielen, der dem Hartz-IV-Niveau von 1.928 Euro netto entspricht, müsste ein Alleinverdienst bei einer 38-Stundenwoche mindestens 15,40 Euro pro Stunde betragen, so Creutzburg. Fürs Nichtstun bekommt ein Arbeitsloser also so viel wie ein Facharbeiter bei Vollzeitarbeit? Ungeheuerlich.

Es fiel jedoch auf, dass Creutzburg das Kindergeld als Einkommen vergessen und einfach dem Lohn zugerechnet hatte. Einen Tag später korrigiert er sich. Unter Berücksichtigung des Kindergelds müssten Lohnabhängige immer noch einen Stundenlohn von 11,72 Euro haben, um mit dem Vierpersonenhaushalt eines Arbeitslosen gleich zu ziehen.

Der Arbeitnehmer, „der fest und fleißig im Berufsleben steht“ (6), verkündet er, könnte sich als der Dumme fühlen, wenn Nichtstun so belohnt wird. Hartz-IV fördert also die Faulheit.

„Auch für Hartz-IV-Bezieher muss sich echte Leistung lohnen“ (6).

Die FAZ weckt Empörung, ohne allerdings heute schon die logischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Wenn es sich mit den bestehenden Regelsätzen nicht lohnt, arbeiten zu gehen, folgt daraus nicht, dass sie gekürzt werden müssen?

Das frühere Lohnabstandsgebot hatte ja als Ziel, die Regelsätze so niedrig zu halten, dass sich auch Arbeit für Niedriglöhne noch lohnt. Um wie viel also sollten die Regelsätze gekürzt werden, um die Faulheit zu bekämpfen? 11,72 Euro bzw. 1.541 Euro netto entsprechen nicht dem Lohn unterer Lohn- und Gehaltsgruppen, die bei allen bisherigen Lohnabstandsgeboten als Maßstab zugrunde lagen.

Nach der Einführung des Mindestlohns müsste dieser als die heute aktuelle untere Lohn- und Gehaltsgruppe gelten. 11,72 Euro liegt etwa ein Drittel über dem Mindestlohn von 8,84 Euro.

Hartz-IV-Niveau unterhalb des Mindestlohnniveaus?

Das Hartz-IV-Niveau der vierköpfigen Familie mit einem Alleinverdienst müsste also niedriger sein als das Mindestlohnniveau plus Kindergeld. Wohngeld klammert die FAZ aus. Was bedeutet das?

Ein Mindestlohnbezieher in einem Vierpersonenhaushalt hat bei Steuerklasse III einen Nettolohn von 1.160 Euro. Dazu kommen 388 Euro Kindergeld für zwei Kinder, zusammen also 1.548 Euro. Das Hartz-IV-Niveau von 1.928 Euro liegt weit über diesem Einkommen. Die Regelsätze aller Mitglieder dieses Vierpersonenhaushalts in Höhe von zusammen 1.284 Euro müssten also um 381 Euro oder um 29,7 Prozent gekürzt werden, damit sie plus der bescheidenen Warmmiete von 644 Euro unterhalb dieser 1.548 Euro liegen.

Der Regelsatz eines Alleinstehenden dürfte dann nur noch 292 Euro betragen, nicht mehr 416 Euro. Auch die Regelsätze für Kinder müssten um rund 30 Prozent gekürzt werden.

Selbst wenn man als untere Lohn- und Gehaltsgruppe eines neuen Lohnabstandsgebots den sogenannten Niedriglohn von zurzeit etwa zehn Euro pro Stunde annimmt, müssten die Regelsätze deutlich gekürzt werden.

Merkel gab die Plattitüde von sich:

„Wir müssen immer darauf achten, dass derjenige, der arbeitet, mehr hat, als wenn er nicht arbeiten würde“ (5).

Hat er das nicht immer? Denn der Alleinverdiener des besagten Vierpersonenhaushalts hätte mit einem Vollzeitjob immer 330 Euro mehr in der Tasche. 330 Euro seines Nettolohns werden nämlich als Freibetrag nicht auf Hartz-IV angerechnet. Das hat jedoch mit einem Lohnabstandsgebot nichts tun. Nicht der Freibetrag ist das typische Merkmal eines Lohnabstandsgebots, sondern die Vorgabe, dass der Hartz-IV-Bedarf unter den unteren Löhnen plus Kindergeld (und Wohngeld) zu liegen habe.

So erschließt sich auch die Formel von Frau Merkel, das Wichtigste sei, möglichst vielen Betroffenen Arbeit und die Perspektive auf ein eigenes Einkommen zu eröffnen (3). Diese Perspektive kann sich eigentlich nur dann verwirklichen, wenn Hartz-IV-BezieherInnen durch eine Senkung der Regelsätze aus der „Hängematte“ ihrer jetzigen Regelsätze geworfen werden.

Fleißige gegen Faule?

Die FAZ bereitet das Klima vor, das für Regelsatzsenkungen notwendig ist. Es geht ihr darum, die Spaltung von Arbeitslosen und Lohnabhängigen zu vertiefen, „faule Arbeitslose“ gegen „fleißige Erwerbstätige“ auszuspielen, statt Solidarität zwischen ihnen zu fördern. Es geht ihr ferner darum, keine Diskussion darüber zu führen, was man sich mit dem ärmlichen Niveau von Hartz-IV tatsächlich leisten kann.

Die ärmlichen Hartz-IV-Sätze sind ein Maßstab dafür, wie ärmlich das Lohnniveau heute ist.

Es ist vielen nicht möglich, von ihrem Lohn eine Familie zu ernähren, obwohl doch die „Wirtschaft“ ständig beklagt, dass es zu wenig Arbeitskräfte, d.h. zu wenig Kinder gibt. Die Unterhaltskosten von Kindern werden zu einem bedeutenden Teil über das Kindergeld aus Steuern bezahlt, die die Lohnabhängigen selbst aufbringen. Sie subventionieren sich selbst.

Das Kapital ist an möglichst niedrigen Löhnen interessiert ohne jede Rücksicht auf die Reproduktionskosten der Arbeitskräfte, d.h. auf die Unterhaltskosten von Kindern als den zukünftigen Arbeitskräften.

Möglichst niedrige Löhne bedeuten möglichst niedrige Renten, möglichst begrenzte Gesundheitsausgaben und möglichst niedrige Hartz-IV-Sätze. Um das als im Interesse aller zu verkaufen, müssen Alte gegen Junge, Kranke gegen Gesunde und Arbeitslose gegen Erwerbstätige ausgespielt werden.

Für das Kapital sind Armutslöhne der oberste Maßstab dafür, welche Bedürfnisse bei Hartz IV als notwendig anerkannt werden. Lohnabhängige jedoch haben ein anderes Interesse: für sie sollten die bescheidenen Sätze von Hartz IV Maßstab dafür sein, wie ärmlich das Lohnniveau in Wirklichkeit ist. Der Mindestlohn von 8,84 Euro ist völlig unzureichend. Er liegt unter dem Existenzminimum eines Alleinstehenden. Elf Euro wären angemessen (7) und zwar lohnsteuerfrei.

Der Staat, der angeblich die Aufnahme von Arbeit attraktiv machen will, zieht selbst noch vom gegenwärtigen Mindestlohn Lohnsteuern ab. Der Staat, der die Gewinn- und Einkommensteuer erheblich gesenkt hat, besteuert auch noch das Existenzminimum. Der steuerliche Grundfreibetrag beträgt zur Zeit nur 9.000 Euro bzw. 750 Euro monatlich (416 Euro Regelsatz plus 334 Euro Warmmiete). Das soll das Existenzminimum eines Erwerbstätigen sein?

Arbeitgeberverbände, Medienkonzerne und Bundesregierung sind daran interessiert, die Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Spahn verkündete in der Sendung „Hart aber fair“ vom 19. März, dass es uns in Deutschland immer noch besser ginge als anderswo und wir stolz auf unser Land sein könnten. So fördert man den sozialen Zusammenhalt zwischen Kapital und Arbeit, die Unterordnung der breiten Mehrheit unter die Interessen von Daimler, Siemens und Deutsche Bank.

Die von uns angestrebte „Solidargemeinschaft“ sollte anders aussehen. Sie sollte zwischen arbeitslosen und beschäftigten LohnarbeiterInnen bestehen, aber auch zwischen noch Beschäftigten und RentnerInnen. Hier gilt es, den sozialen Zusammenhalt zu fördern.


Rainer Roth: Sklaverei als Menschenrecht


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Quellen und Anmerkungen:

(1) „Jens Spahn tappt in die Armutsfalle“, FAZ vom 13. März 2018
(2) vgl. Rainer Roth, „Über den Monat am Ende des Geldes“, Frankfurt 1992
(3) „Merkel unterstützt Spahn“, FAZ vom 16. März 2018
(4) Dietrich Creutzburg in der FAZ vom 19. März 2018
(5) „Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit“, FAZ vom 19. März 2018
(6) „Suche nach Wegen aus dem Hartz-IV-System“, FAZ vom 20. März 2018
(7) Kampagne für mindestens 600 Euro Eckregelsatz und 11 Euro Mindestlohn steuerfrei vgl. www.mindestlohn-11-euro.de


Literatur:


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