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Gefleckte Diamanten

Gefleckte Diamanten

Dirk C. Flecks Miniaturen spüren die Sinnlichkeit inmitten einer Trümmerlandschaft auf. Exklusivauszug aus „Gefleckte Diamanten“. Teil 2 von 3.

Der Mensch besitzt nichts, weder seinen Körper, der ihm jederzeit genommen werden kann, noch irgendeine Wahrheit, die ihm beim nächsten genauen Hinsehen ohnehin wieder abhanden kommt. Alles, was auf uns Eindruck macht, gehört uns nicht, es sind flüchtige Leihgaben. Wir sind Gespenster, die sich über ihre Einbildungen definieren …

Die Wissenschaft begreift das Leben als Versuchskaninchen, dem man seine Geheimnisse auf dem Seziertisch entreißt. Das ist dumm und anmaßend. Sie können noch so tief in den Mikro- oder Makrokosmos steigen, sie können die Dinge in Zahlen fassen oder ihnen Namen geben, dem göttlichen Mysterium kommen sie damit nicht auf die Spur.

Es sind nur Zahlen und Namen, es sind nur Etiketten. Etiketten sind keine Weisheiten, Etiketten haben keine Seele. Und sie berauben uns der Ehrfurcht. Ein ehrfürchtiger Mensch weiß, dass sich das Mysterium Leben niemals zu Wissen reduzieren lässt. Bewusstsein ist keine Frage des Lernens, es ist eine Frage des Verlernens geworden.

Ich blicke mich in der Geschichte um und sehe Milliarden von Toten. Von Urbeginn an starben Menschen, Tiere und Pflanzen dahin wie Schaumkronen auf dem Meer. Jede Person, auf die ich mich berufen kann, ist tot. Ich lebe aus dem Nachlass Verstorbener und erlebe mich inmitten von Todeskandidaten. Was mache ich also für ein Aufhebens um mich?

Was unterscheidet den Gebildeten vom Genie? Seine mangelnde Identität, sein fehlender Mut zu leben und zu sterben. Während der Gebildete in feiner Distanz zum Leben bleibt, gibt sich das Genie dem Leben hin. Es kann seine Kunst, diese Arbeit am Rande des Unaussprechlichen, wie Musil sagt, nicht abtrennen. Für Genies sind die Märkte verschlossen, auf denen sich die Gebildeten tummeln, ein Genie lebt volles Risiko, ohne jegliche Spekulation auf einen zu erzielenden Vorteil. Das ist hart, denn kein Gebildeter wird aus seinen gesicherten Verhältnissen heraus gerade jenen unterstützen, der diese Verhältnisse radikal in Frage stellt. Man ist ja froh, wenn man die Quälgeister des eigenen Gewissens los wird. „Das Leben ist hart, mein Herr“, heißt es, „und Sie sind den Anforderungen offenbar nicht gewachsen.“

Ich hole meinen Atem wie ein Fischernetz ein, mit langsamen, gleichmäßigen Zügen.

Das Thema Mensch ist durch. Ich habe mich seiner entledigt. Die daraus resultierende Leere ist zu meiner Geliebten geworden, wir beide tun uns nichts. Alles außerhalb dieser Leere ist gefährlich.

Im Fieberwahn tobte ich in den verlorenen Tagen herum wie eine Made im Zeitkadaver. Jeder Blick in den Spiegel bedeutete eine Vergiftung der Seele. Mein Leben kam mir vor wie eine letzte Sünde, die ich mir gestattete.

Was bildet der Mensch sich auf sein eintöniges Gemurmel eigentlich ein? Mit welchem Recht behaupten wir, dass unser vergleichsweise monotones Geschwätz ausdrucksfähiger und intelligenter sei als die Sprache der Tiere, ja sogar der Pflanzen, die ganz ohne produzierten Lärm auskommen?

Manchmal ist alles Wissenswerte bereits in den ersten Minuten da, wie zur Ansicht ausgelegt.

Man bekommt Wesen zu Gesicht, die zur Hälfte wund sind, denen die Fetzen ihrer Schutzschicht wie die Reste eines geplatzten Luftballons von der Schulter hängen.

Ich glaube, dass das Leben so strukturiert ist, dass es zu allen Zeiten und in jedem Moment in seiner ureigenen Balance ruht. Der Lebensfluss, also die Umverteilung von Materie und Energie, trägt permanent zu diesem Gleichgewicht bei, auch wenn dies außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegt. Für uns Menschen scheint die Welt bei jeder Gelegenheit aus den Fugen zu geraten: durch Seuchen, Kriege, Naturkatastrophen, durch hausgemachte Gefahren wie den atomaren Kollaps, die Klimaerwärmung, die Gentechnologie et cetera. Bei aller Betroffenheit bleibt festzuhalten: Mehr als sterben können wir nicht. Und wir werden sterben. Wir werden umverteilt, wie alles andere auch. Wie zum Beispiel die Ameisen, die unter unseren Schritten explodieren, während wir genussvoll die frische Waldluft inhalieren und uns ausnahmsweise im Einklang mit der Natur wähnen. Es kommt also auf den Standpunkt an, wann eine Welt aus den Fugen gerät und wann nicht.

Vielleicht sollten wir häufiger in den Himmel schauen, um eine Vorstellung von unserer Bedeutung zu bekommen. Es reicht, sich die Sonne als Sandkorn am Strand vorzustellen.

Ein absolut zulässiger Vergleich und erst der Anfang einer simplen Reise in den Raum, die wir an diesem Punkt aber bereits der Mathematik überlassen müssen, da unsere Fantasie sie schon hier nicht mehr zu fassen vermag. So begrenzt unsere Vorstellungskraft vom Großen ist, so beschränkt ist sie auch dem Kleinen gegenüber. Der Mikrokosmos ist so unendlich wie der Makrokosmos. Jedes Lebewesen hat daher das Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, also auch der Mensch. Balance.

Es besteht kein Zweifel daran, dass wir trotz aller geistigen Beschränktheit, trotz aller Ängste und Unsicherheiten immer zu Hause sind, wo denn auch sonst. Wir müssen nur ein Gefühl dafür entwickeln.

Ist noch Kampf oder herrscht schon Ewigkeit?

Ich traue ihnen nicht, den geistigen Kleingärtnern, die uns über den Gartenzaun hinweg ansprechen, die charmant plaudernd, lustvoll verführend und virtuos argumentierend ihr gescheitertes Leben als Offenbarung verhökern. Sie wollen einem den Tand ihres Wissens andrehen, wo man doch unbeschwert weitergehen möchte. Am liebsten hetzten sie die Hunde auf einen, wenn es nur nicht dem guten Ruf schaden würde.

„Die einzige Möglichkeit, die Unvernunft zu überwinden, ist, alt zu werden“, hat Orson Welles gesagt. Ich bin alt geworden. Wenn ich mich, was allerdings immer seltener geschieht, auf eine Diskussion einlasse oder auch nur auf ein Gespräch unter Bekannten, rede ich unvernünftig und wirr, wie meine Gesprächspartner nicht müde werden zu betonen. Das erschreckt mich, denn immer wenn dieser Vorwurf erhoben wird, bin ich der Meinung, besonders überzeugend gewesen zu sein. Wirr. Oder auch verworren, chaotisch, konfus, unübersichtlich, verwickelt, durcheinander. Das Substantiv von wirr ist übrigens Wirrnis, es ist feminin, was mich ein wenig beruhigt. Es wird mit Verworrenheit im Denken in Bezug gebracht, die wiederum nur dem Wirrkopf zu eigen ist, der seiner Wirrsal erliegt, also dem Wahnsinn schlechthin, welcher für alle Tragödien und Mythen der Weltliteratur unabdingbar war. Im Gegensatz zu meinen Mitmenschen muss ich aus diesem Napf einige Löffelchen zu viel genommen haben, anders ist das Unverständnis nicht zu erklären, auf das die meisten meiner Worte inzwischen treffen.

Man selbst bleibt unangetastet und wird doch Zeuge all der Tränen, Ängste, Missverständnisse und Vergewaltigungen, Zeuge für das gesammelte Aufgebot gegen die Lebensfreude. Es sollte doch zumindest die Kunst von den Menschen erfasst werden, jetzt, da sie von der Magie des Todes befruchtet wird. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist verdächtiger als die Wahrheit, die in der Kunst zu Hause ist — und so hält man sich in heuchlerischer Distanz zu ihr.

When the dreamer dies, what happens to the dream?

Ich fühle mich ausgehöhlt, nichts gereicht mir zur Stärkung. Aber, he! Ich bin nur Gast in dieser Landschaft der gefrorenen Dämmerung, die durch nichts zu bewegen ist. Es ist, als habe das Universum sie ausgeschieden.

Heute Nacht fühlte ich mich wie ein verirrter Schmetterling über den Gletschern eines gläsernen Gebirges.

Menschen, die in ihrem Leben ausschließlich nach Sicherheit streben, werden auf Dauer paranoid. Sie begreifen nicht, dass das Leben ständig in Fluss ist. Das Streben nach Sicherheit ist das falsche Investment …

Ich will mir kein Urteil mehr erlauben, über nichts. Ich halte es lieber mit dem Dichter Peter Handke: „Irgendwann habe ich beschlossen, dass alles fremd ist und alles neu ist und alles unentdeckt. Und das hilft mir auf die Sprünge. Es ist noch nichts erzählt.“

Das Leben ist eine einzige Hängepartie, die letztlich durch Materialermüdung zu unseren Ungunsten entschieden wird. Aber es ist nicht allein der Körper, der sich irgendwann erschöpft, es ist auch das begrenzte Fassungsvermögen unseres Emotionalkörpers, das durch negative Sinneseindrücke permanent überflutet wird und schließlich zu einer mentalen Befindlichkeit führt, die kaum zu ertragen ist — bis der seidene Faden, der uns noch ans Leben bindet, endgültig reißt. Gelegentlich weit vor der Zeit, die unser Körper noch in petto hatte.

Ich bin allein und hab kein Geld. Was will man mehr?

Wir haben Stahlhelme auf unsere Herzen gelegt, um nicht verwundet zu werden. Dabei vergaßen wir, dass unser Herz nicht mehr zur Sprache kommt.

Wasser ist lebendig. Das haben die Menschen leider vergessen.

Mir ist unerklärlich, mit welcher Arroganz sich diese Spezies, die im entkleideten Zustand auf dem ästhetischen Niveau von Nacktmullen anzusiedeln ist, über alle anderen Lebewesen erhebt.

Es macht mir Probleme, dass ich die errungene Klarheit des Geistes in der Regel sofort wieder demoliere. Dies ist meine vierte Zigarette am Stück, obwohl ich doch vierzehn Tage lang souverän auf das Gift verzichten konnte. Ich habe wieder einmal Anker geworfen, die Leichtigkeit ist dahin. In ihr hatte ich das Gefühl, fortlaufend mit Erkenntnissen beschenkt zu werden, während ich sie nun wieder suchen muss. Sie strahlen nicht mehr, auf ihnen liegt der Schatten des Jägers …

Ich befinde mich im Vorhof zur Stille, wo jeder aufkommende Gedanke zu Staub verwandelt wird, bevor er mich auf irgendwelche Nebenkriegsschauplätze zerren kann. So bleibe ich ohne Wunsch und bar jeder Vorstellung von mir selbst. Es ist die Vorstellung von mir selbst, welche meine Wahrnehmung von der Welt permanent verfälscht. Wenn ich jedoch ins Vertrauen finde, kracht das Konstrukt, in das uns der Verstand gebunden hat, zusammen. Das gesamte aufgestaute Empörungspotenzial, der gesamte Schmerz, den wir angesichts der Ungerechtigkeiten, Tragödien und Verbrechen auf diesem Planeten empfinden, wird, einer Kolik gleich, mit einem imaginären Rohr durchbohrt und entweicht. Zisch. Nun gilt es, die gewonnene Leichtigkeit zu bewahren.

Geniale Begriffsblüten entstehen aus einer Mischung aus Unkenntnis und Fantasie.

Lasst uns doch mal eine Kelle Nichtwissen auf die Wahrheitsplastik klatschen.

Kein Mensch auf Erden hat die Kraft, der Traurigkeit eines Engels zu widerstehen.

Ich stelle an mir fest, dass ich immer beziehungsloser werden möchte. Man hat niemand als sich selbst. Wenn das verinnerlicht ist, korrespondiert man mit einer anonymen Macht. Sie ist allgegenwärtig. Sie ist Frieden.

Die gespenstische Präsenz des Kummers.

Manchmal kommen sie zurück, die Verstorbenen. Sie küssen deine Seele, und der Tag erliegt ihrem Einfluss.

Gelegentlich trägt die Dünung unseres Schweigens Worte ans Licht.

Es gilt, mit den Menschen im Training zu bleiben, das verlangt die Akrobatik des Alltags.

Jede Droge ist ein Kredit auf den uns zur Verfügung stehenden Energievorrat. Wir zahlen den stimulierten Übermut mit grässlicher Geistesleere, in der uns der kratzige Wind einer ewig gleichen Depression anweht. Wir sind kraftlose Opfer im Wartestand. Die Materie wird zur Last, wir glauben, in ihr ersticken zu müssen. Atmen befreit nicht, es wächst sich zu einer unkontrollierten Anstrengung aus. Die Welt wird zu unserem Gefängnis, und unsere Sinne, die nun nichts weiter zu vermitteln mögen als Zellenangst, sind die Ketten, an die wir gefesselt sind. Gelegentlich haben wir das Gefühl, den Körper abwerfen zu müssen, um freizukommen. Aber wer sollte uns wo trösten …?

Lichtermeer der Seelen, auf den verschiedenen Ebenen der Seligkeit.

Ein Zug unterschiedlichster Tiere marschiert erhobenen Hauptes von rechts nach links über die Bühne. Sie haben alle dieselbe Größe, die Größe einer Dogge etwa. Jedes Mitglied dieser Prozession trägt ein Plakat mir einem Wort mit sich. Alle Wörter hintereinander gelesen ergeben folgende interpunktionsfreie Botschaft:

Ich-Sah-Eine-Ente-Wie-Aus-Lauter-Schimmernden-Edelsteinen-Zusammengesetzt-Zuerst-Leuchtete-Ein-Strahlendes-Grün-Auf-Dann-Ein-Fahles-Violett-Dann-Sah-Ich-Reflexe-Wie-Sie-Im-Korn-Des-Rubins-Schlummern.

Es folgen sieben Papageien, die dem Publikum zuzwinkern. Ein Schneeleopard führt den zweiten Satz an, und der lautet:

Nur-Jemand-Der-Weiß-Was-Schönheit-Ist-Blickt-Den-Wind-Die-Bäume-Die-Sterne-Oder-Das-Funkelnde-Wasser-Eines-Flusses-Mit-Völliger-Hingabe-An-Und-Wenn-Wir-Wirklich-Sehen-Befinden-Wir-Uns-Im-Zustand-Der-Liebe.

Eine Hanfpflanze im Frack zieht den Zylinder und verbeugt sich, während ich mich klatschen höre. Ich bin der Einzige im rotbestuhlten Zuschauerraum. Die Ewigkeit gibt ein Gastspiel im Theater der Vergänglichkeit und ich darf dabei sein. Parkett, erste Reihe, Mitte.

Wir sind im Geiste sanft. Wir werden energisch, wenn es anders nicht geht.


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