Gewalt beginnt nicht erst mit Übergriffen, sondern findet bereits da statt, wo jemand die ganz persönliche Würde eines Menschen in Wort und Tat antastet. Auch die Überhöhung eines Menschen durch Zuordnung zu einer vermeintlich überlegenen Menschengruppe — „Arier“ — ist Rassismus, da der Mensch nicht als Individuum wahrgenommen wird. Alle Formen eines „Wir gegen die“ ersticken Leben.
Eine direkt rassistische Praxis generiert das Polizeigesetz im Zusammenhang mit dem „Racial Profiling“. Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) kritisiert die als nach DIMR-Gesetz (1) eingerichtete „unabhängige nationale Institution der Bundesrepublik Deutschland“:
„§ 22 Abs. 1a BPolG ermächtigt die Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei demnach dazu, selektiv vorzugehen, ohne dabei das Verhalten einer Person zum Anlass ihrer Kontrolle nehmen zu müssen. Es soll vielmehr nach Personen, die sich unerlaubt im Land aufhalten, Ausschau gehalten werden. Bei einem solchen Gesetzesauftrag ist es naheliegend, dass die Bundespolizei die Personen in erster Linie nach phänotypischen Merkmalen aussucht“ (1).
Phänotypische Merkmale lenken den Blick weg vom Individuum hin zu einer Kategorie, der dann bestimmte Eigenschaften per se zugeordnet werden. Das fängt bei Kindern an, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung Ausgrenzung erfahren, es geht weiter bei ihren Eltern, deren Kreditkarte als Diebesgut angesehen wird, weil sie „People of Colour“ sind, und es endet im hohen Alter, wo man Menschen wie Aussätzige in Einsamkeit sterben lässt, weil sie eben immer noch nicht dazugehören. Mehrfach-Diskriminierungen erfolgen beispielsweise, wenn es sich um Frauen handelt, die vielleicht überdies eine körperliche Behinderung aufweisen.
Je mehr und je massiver Ent-Individualisierungen um sich greifen, desto stärker wird Rassismus zum Sprengsatz an den Fundamenten der menschlichen Gesellschaft. Verharmlosungen, die diese gesellschaftliche Krankheit als Einzelphänomen kleinreden oder gar in Abrede stellen, können das Problem nicht lösen, im Gegenteil tragen sie dazu bei, dass die Gefahren weiter anwachsen, weil die Gesellschaft diese Entwicklung ohne entsprechende Gegenwehr hinnimmt.
Die gesteigerte Form der Verantwortungslosigkeit ist das aktive Mitmachen bei Ausgrenzungen in Wort und Tat. Auch die Ausflucht, der Mensch sei nun mal so, dass er nur seinesgleichen um sich haben und vermeintlich Fremde von sich fernhalten will, ist Kumpanei mit Rechten, die Rassismus schüren.
Niemand wird als Vertreter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geboren. Kinder kennen von sich aus keinen Rassismus.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist eine „an-sozialisierte“ Haltung, die sich auch in der sozialen Ausgrenzung derer wiederfindet, die Angehörige besser gestellter Schichten jenen zufügen, die unter prekären Verhältnissen leben und die von sogenannten Leistungsträgern aus der sogenannten Oberschicht als „Minderleister“ bezeichnet werden (2).
In der Geschichte vieler Gesellschaften finden sich Beispiele zahlreicher Formen von Stigmatisierungen, die sich nicht nur auf die Hautfarbe, die ethnische Herkunft oder auf den Glauben beziehen. Im Mittelalter etwa gab es während der Hexenverfolgung frauenfreie Regionen in Mitteleuropa (3).
Ein modernes Beispiel für klassenbezogene Ausgrenzungsgewalt gibt der linke Liedermacher Franz Josef Degenhardt in seinem Lied „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ (4):
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
Sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder“,
wobei die Oberstadt für das „bessere“ soziale Milieu steht.
Die Aufforderung, den Brüdern zu folgen, appelliert an den Herdentrieb der Anpassung, die zumindest dann lügt, wenn sie das innere Gewissen verrät. In der Klassengesellschaft schottet sich die Oberklasse in einem gewissen Maß ab, um unter sich zu bleiben. Sie versteht sich als etwas Besseres im Sinne von Leistungsträgern, während sie auf jene, die unten geblieben sind, als Minderleister herabblickt (5).
Aufseiten der von Lohn Abhängigen grassieren — zumal während Krisen — Abstiegsängste, wenn die Menschen nicht schon unter Abstiegserfahrungen gelitten haben (6). Auf eine gesellschaftliche Gruppe herabzusehen, die schlechter gestellt ist als man selbst, kann helfen, die eigenen Ängste besser auszuhalten. Man fühlt sich weniger ausgeliefert als die anderen. In dieser Verarbeitung unangenehmer Erfahrungen befindet sich das Einfallstor für Sündenbock-Propaganda. Wer von Krisenursachen, die im System liegen, ablenken will, errichtet eine Schuld-Architektur zur Meinungsmanipulation.
Die systembedingten Krisenursachen, die der Rassismus übertüncht, beruhen auf der Tatsache, dass Krisen im Kapitalismus regelmäßig vorkommen; sie werden entweder strukturell oder konjunkturell genannt (7). Innerhalb der Konjunktur zwischen Auf- und Abschwung ist ein unterschiedlich großer Teil der Lohnabhängigen für die Konzerne Manövriermasse; die Renditeorientierung für die Anteilseigner hat Vorrang, um das sogenannte Ganze, hier den Betrieb, zu retten. Die damit verbundenen Unsicherheiten destabilisieren Menschen und die Gruppen, denen sie angehören. Das gilt erst recht für Strukturkrisen.
Der Soziologieprofessor Oskar Negt schrieb 1971 in einem Text für die Befreiung der rassistischer Verfolgung ausgesetzten Angela Davis:
„Die Entschlossenheit des Systems (...), der kollektive Verfolgungswahn, die Projektion eigener, durch die fortwährende Unterdrückung der Menschen unter kapitalistischen Lebensbedingungen produzierter Aggressionen auf Minderheiten und andere Völker entspringt keineswegs nur sozialpsychologischen Mechanismen; das ist vielmehr Ausdruck eines sozialgeschichtlich bedingten Identitätszwanges von Menschen, die sich in einer Gesellschaft unsicher und in ihrer schwer erkämpften Lebensweise ständig bedroht fühlen. (...) Der wahnhafte Systemzwang, diese komplementäre Erscheinung zu der die Menschen isolierenden Konkurrenz (...) des american way of life, (...) der marktvermittelten Lebenschancen, alle, die es nicht schaffen,(sind) mit sozialer (...) Vernichtung bedroht, dies alles destabilisiert Individuen, Gruppen und die gesamte Gesellschaft“ (8).
Die Verarbeitung des Rassismus verlangt über die Kritik an seinen Symptomen und Erscheinungsweisen in den Institutionen und im Alltag hinaus eine Debatte über den Umgang mit Stereotypen, die durch den Kolonialismus genährt und zu seiner Rechtfertigung verbreitet wurden. Es kann eine solche Verarbeitung nur dann geben, wenn die westliche Kultur, die auf den Blutströmen des Kolonialismus aufgebaut ist, sich dieser ihrer Vergangenheit stellt.
Mit dem Narrativ einer vermeintlichen weißen Überlegenheit, die einst das Unrecht des technologisch Stärkeren legitimierte, werden Menschen bis heute ausgegrenzt, kontrolliert und systematisch benachteiligt.
Es gibt nicht allein Vorbehalte und Stereotypen gleichermaßen über alle, wie Oskar Negt schreibt, „anderen Völker“; auch gegenüber ethnischen Gruppen, unter denen Kolonialherren seinerzeit Sklaven rekrutiert hatten, gibt es die hartnäckigsten rassistischen Ressentiments, wie die Beispiele der aktuellen Polizeigewalt gegen Menschen mit familiären Wurzeln in Afrika ebenso zeigen wie entwürdigende Affengeräusche auf Zuschauerrängen in Fußballstadien, wenn einer der Spieler ein Mensch mit dunkler oder schwarzer Hautfarbe ist. Das Gleiche gilt für die Zugangshürden für „People of Colour“ zum Bildungs-, Rechts- und Sozialsystem.
Der Schriftsteller Rudyard Kipling hat in genau diesem Zusammenhang seinen lyrischen Text „Des weißen Mannes Bürde“ (9) mit pointierten Worten verfasst:
„Nimm auf des weißen Mannes Bürde —
Schick fort das Beste, das Du hervorgebracht –
Binde die Söhne ins Exil;
Um dem eroberten Volk zu dienen
Über flatterhaftes Volk und wildes –
Ihre neu gefangenen mürrischen Völker,
Halb Teufel und halb Kind.“
Dieses Gedicht aufgreifend, schrieb Tupoka Ogette in ihrem Buch „exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen“ (10):
„Vier Jahrhunderte lang rechtfertigte Rassismus die Versklavung von Millionen AfrikanerInnen und den Tod von Millionen versklavter Menschen in Amerika. Er lieferte und liefert die Rechtfertigung, um Völker zu vernichten, Kulturen auszulöschen und Kontinente zu plündern. (… )
Rassismus hat das Schicksal ganzer Nationen und Generationen verändert und der heutigen Welt seinen grässlichen Stempel aufgedrückt. (...) Rassismus ist die Norm und nicht die Ausnahme.“
Die Mitbegründerin des Hashtags #ausnahmslos gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus regt als Antwort auf das Gift des Rassismus ein von ihr so genanntes „Perspektivenbewusstsein“ an, das verhindert, dass Menschen mit einem Absolutheitsanspruch durch die Welt gehen, so als sei ihre Wahrnehmung die absolute Wahrheit:
„Wenn Sie mit Perspektivenbewusstsein durch die Welt laufen, dann wissen Sie um die Begrenztheit der eigenen Perspektive, Sie sind sich dessen bewusst, dass der Horizont Ihrer Welt nicht den Horizont der Welt markiert. (...) In dem Moment öffnet sich die Welt für all das, was außerhalb Ihrer Welt sich befindet“ (11).
Zum einen geht es darum, dem Alltagsrassismus entgegenzutreten, sobald Menschen nicht als Individuum gesehen, sondern einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden. DemokratInnen sind gefordert, in jedem noch so klein erscheinenden Vorkommnis Betroffenen Solidarität zu zeigen, nicht aus Mitleid, sondern aus klarer Ansage gegen die Rücksichts- und Empathielosigkeit.
Und zum anderen geht es darum, sich mit einem Perspektivenbewusstsein in kritischer Selbstreflexion darüber im Klaren zu sein, dass sich Rassismus teils unmerklich im Denken und Sprechen auch jener befindet, die ihn bewusst bekämpfen. Es geht also auch um die Rahmenbedingungen des Seins.
Die Aufgaben eines jeden einzelnen wie auch der Menschenrechts-, Friedens- und aller alternativen Bewegungen umfassen über den eigenen Alltagshorizont hinaus die Verteidigung der Charta der Vereinten Nationen mittels konfliktlösender Friedenspolitik, die durch Abrüstung mit Vertrauensbildung in einer regionalen, kontinentalen und letztlich weltweiten Friedensordnung mündet. Nur dann wird unsere Zukunft nicht mehr von Menschenhand gefährdet.
Jedoch wird ein solcher Zustand nur nachhaltig, wenn die Menschheit die Hierarchie der Hackordnung hinter sich lässt, in der nur einige wenige Personen Privilegien genießen, die sie in die Lage versetzen, sich über andere zu stellen. Nur indem man Strukturen, innerhalb derer die Wenigen profitieren und unter denen die Vielen leiden, der Vergangenheit überlässt, wird dieses Bewusstsein Allgemeingut. Dann ist die Freiheit eines jeden einzelnen Bedingung für die Freiheit aller (12).
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/ueber-uns/auftrag/dimr-gesetz/ und:
https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Anwaltsblatt/Das_Verbot_rassistischer_Diskriminierung_nach_Art.3_Abs.3_GG_Anwaltsblatt_2013.pdf, Seite 2
(2) https://www.rubikon.news/artikel/orwell-3-0
(3) https://www.emma.de/artikel/wer-waren-die-hexen-316909
(4) https://www.songtexte.com/songtext/franz-josef-degenhardt/spiel-nicht-mit-den-schmuddelkindern-53cf13f9.html
(5) https://www.focus.de/finanzen/news/tid-19388/tid-19391/sozialstaatsdebatte-leistung-muss-sich-lohnen-auch-finanziell_aid_537805.html
(6) https://www.blaetter.de/ausgabe/2017/juni/aus-angst-wird-wut-wird-hass
(7) https://www.umsetzungsberatung.de/konflikte/strukturelle-konflikte.php und:
https://www.rechnungswesen-verstehen.de/lexikon/konjunkturzyklus.php
(8) Oskar Negt, Freiheit für Angela Davis, in: Klaus Vack (Hrsg.), Am Beispiel Angela Davis, Offenbach 1971, Seite 12
(9) http://www.kiplingsociety.co.uk/poems_burden.htm, Übersetzung: Bernhard Trautvetter
(10) Tupoka Ogette, exit RACISM, Münster 2020, Seite 40
(11) https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-neugier-genuegt-redezeit/audio-gerechter-sprechen--kuebra-guemuesay-100.html
(12) vergleiche Karl Marx/Friedrich Engels, Kommunistisches Manifest, Berlin 1969, Seite 51
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