Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Frankreichs roter Planet

Frankreichs roter Planet

Im Selbstverständnis der Einwohner Marseilles liegt eine inspirierende, rebellische Kraft.

„Wesh Manuel Neuer, oder was?“ Auf den Zuschauerbänken steigt der Lautstärkepegel. „Bruder, der Kerl ist eine Wand“, sagt ein Typ, Anfang 20, Boxerschnitt. Er hat eine selbstgedrehte Kippe im Mund, eine grün-rot gestreifte Gucci-Umhängetasche ziert seinen dürren, braungebrannten Oberkörper. Ich grinse kurz in mich hinein. Keine Ahnung, wo dieser Reflex gerade herkam.

Eigentlich habe ich im Tor nichts verloren. Doch egal ob Rio, Amsterdam oder eben Marseille — auf den Bolzplätzen dieser Welt gilt die eiserne Regel: Wer neu ist, muss in den Kasten. Man weiß ja nie. Unkalkulierbare Risiken kann jedenfalls keiner gebrauchen, wenn bei Niederlage Arschbolzen droht und damit „die Ehre“ — das wichtigste Kapital im Straßenfußball — am seidenen Faden hängt.

Aktuell ist mein Ehrenkonto üppig gefüllt. Nicht nur habe ich mit einer Parade mein Team gerade so im Spiel gehalten, nein, mit dem darauf folgenden Abwurf habe ich auch noch unseren Ausgleich zum 1 zu 1 eingeleitet. Noch ein Tor und wir gewinnen das Spiel. Das wiederum wäre gleichbedeutend damit, für eine weitere Partie auf dem Platz bleiben zu dürfen. Meine Teamkollegen feiern mich, und das Misstrauen mir gegenüber, dem unbekannten Alman mit dem französischen Namen, scheint zu bröckeln. Also versuche ich, die Gunst der Stunde zu nutzen: „Auf geht’s, Jungs, Torwartwechsel!“, rufe ich beschwingt in die Runde.

Betretenes Schweigen. „Bruder …“ — mein Mitspieler kommt langsamen Schrittes auf mich zu. Noch bevor er fortfährt, weiß ich, was das zu bedeuten hat. Es gibt diese bestimmte Art, das Wort Bruder auszusprechen, auf die nur selten gute Nachrichten folgen. „Wir brauchen dich im Tor“, sagt er, woraufhin die anderen zustimmend mit dem Kopf nicken. Na sauber, denke ich mir. Spielst du scheiße, musst du ins Tor, spielst du gut, bleibst du im Tor. Fickt euch.

Nun gut, diskutieren hätte wohl nicht viel gebracht. Mit einigen der hier Anwesenden ist nicht wirklich zu spaßen. Wobei — so ganz stimmt das nicht. Es ist nicht so, dass hier nicht viel gelacht würde. Man muss nur wissen, was man sich als Neuling erlauben darf. Und ich befinde mich noch in der Abtastphase. Das liegt auch daran, dass vor ein paar Minuten, als mein Team noch draußen saß und wir darauf warteten, endlich an der Reihe zu sein, einige zwielichtige Gestalten auf Rollern vorbeigefahren waren. Laut hatten sie nach einem meiner jetzigen Gegenspieler gerufen. Nach einer kurzen Begrüßungszeremonie mit Nackenklatschern und Backenküssen wurde dem Typen dann zu verstehen gegeben, dass er heute lieber nicht zu Hause schlafen solle. „Vor deiner Wohnung warten ein paar Jungs mit Maschinengewehren“, hieß es da.

Der Kerl wollte sich natürlich nichts anmerken lassen. Er witzelte mit seinen Freunden herum und wurde nicht müde zu betonen, dass „die schon noch sehen werden“. Seine Verunsicherung war aber deutlich zu spüren. Mir war klar, dass man sich mit ihm besser nicht anlegen sollte. Eine falsche Bemerkung, ein übertriebener Torjubel oder noch schlimmer — ein ehrverletzender Tunnler — all das konnte das Fass zum Überlaufen bringen. Und da ich nicht wusste, auf wen der hier Anwesenden daheim ähnliche Probleme warteten, wollte ich keinen unnötigen Widerstand leisten und schlurfte mit betretener Mine zwischen die zwei Pfosten zurück.

Das Spiel sollte ohnehin bald sein Ende finden. Bei meinem Rückweg ins Tor ist ein Angriff der gegnerischen Mannschaft bereits im vollen Gange. Ein großer schlaksiger Typ im Trikot der senegalesischen Nationalmannschaft dribbelt zwei meiner Mitspieler aus. Beide lassen die Köpfe hängen. Aber Hauptsache, nicht ins Tor gehen wollen, denke ich verärgert und will noch „Nachsetzen!“ schreien, merke in dem Moment aber, dass es dafür keine wörtliche Übersetzung gibt. Schon steht der Trikotsenegalese vor meinem Kasten. Ich versuche noch, den Winkel zu verkürzen, aber keine Chance. Lässig zirkelt er den Ball ins obere Kreuzeck. Zwei zu Eins — das Spiel ist aus, wir fliegen vom Platz und meine Ehre ist wieder bei null. Als wir vom Platz gehen, schaut mich der Typ mit der Gucci-Umhängetasche grinsend an und fasst in seinen Worten präzise zusammen, was gerade geschehen ist: „Er hat eure Toten gefickt.“

Eine Taxifahrt mit Nachwehen

Für einige mag es nun befremdlich klingen, wenn ich sage, dass das, was ich oben geschildert habe, für mich sehr nahe an einen perfekten Urlaubsnachmittag herankommt. Doch es ist so. Schon lange versuche ich, rationale Erklärungen dafür zu finden, warum es mich Jahr für Jahr aufs Neue während meines Sommerurlaubs in die französische Mittelmeermetropole verschlägt. Auf ihre Bolzplätze, ihre Boulevards, ihre Strände. Bei einem bin ich mir inzwischen sicher: An den Stränden liegt es sicherlich nicht. Die sind in Cannes, Antibes und an anderen Orten der Côte d’Azur zweifelsfrei schöner. Es ist auch nicht das Stadtbild. Ich meine, ja, es gibt definitiv malerische Orte — der alte Hafen, Notre Dame, die Calanques — die ihren Zauber versprühen. Doch das ist es nicht. Zumindest nicht nur, denn solch wunderschöne Orte gibt es an der Riviera zuhauf.

Nein, es ist mehr ein Gefühl, das hier — nur hier — aufkommt und das ich erstmals verspürte, als ich etwa 13 Jahre alt gewesen war und gerade die ersten vier Teile der legendären Taxi-Filmreihe gesehen hatte. Plötzlich ging mein deutsch-französisches Ich, das bis dahin alle Mühe gehabt hatte, sich mit seinen französischen Wurzeln zu identifizieren, mit einem Teil von Frankreich in Resonanz, der auf den ersten Blick so gar nicht ins Selbstbild der Grande Nation passte: Marseille — geheimnisvoll, widerspenstig, unangepasst. Das schwarze Schaf auf der Landkarte des Hexagons. Eine pubertierende Stadt, voller Unzulänglichkeiten und Probleme, die sie jedoch in einzigartiger Selbstironie in Szene zu setzen vermag. Eine Stadt, die mir endlich ein Korrektiv zum französischen Patriotismus lieferte, der mir bis dahin als übermäßig selbstgefällig und hochmütig in Erscheinung getreten war.

La vie est (re)belle

Marseille wird oft nachgesagt, sie sei eine raue Stadt. Und in vielerlei Hinsicht stimmt das auch. Sprachlich zum Beispiel: Die lokale Mundart ist laut, vulgär und klingt, obwohl die Wörter zweifelsfrei französisch sind, mehr nach einer italienischen Schimpftirade als nach der Sprache der Liebe (1). Das verwundert allerdings nicht weiter, wenn man weiß, dass das „Parler Marseillais“ — wie die Mundart offiziell bezeichnet wird — zu über 90 Prozent vom Provenzalischen, einer Variation des Okzitanischen, abstammt. Die provenzalische Sprache und das Italienische stehen sich wiederum sehr nahe. Darüber hinaus speist sich der Dialekt vor allem aus dem Arabischen, dem Korsischen und dem Komorischen. Ein bunter Mix also, der weitestgehend auf die Einwanderungsgeschichte der Stadt zurückzuführen ist.

Dass sich der Dialekt gehalten und entwickelt hat, ist in Frankreich allerdings alles andere als selbstverständlich. Lange Zeit leugnete der französische Staat nämlich, dass es so etwas wie Minderheiten und deren Sprachen überhaupt gibt. Noch in den 1950er-Jahren waren Lehrkräfte dazu angehalten, Kindern, die aus Versehen ein Dialektwort benutzten, auf die Finger zu klopfen. Eine starre, autoritäre Denke, die noch bis heute wirkt: So wurde unlängst ein Gesetzesvorhaben zur Förderung lokaler Sprachvariationen vom Verfassungshof kassiert mit der schlichten Begründung: „Die Sprache der Republik ist Französisch“ (2).

„Parler marseillais“ — also Marseillisch sprechen — ist somit auch ein Zeichen der Abgrenzung von zentralistischer Bevormundung. Eine sprachliche Abgrenzung, die sich jedoch nicht nur in Prosodie und Vokabular vollzieht, sondern auch in der Art und Weise, wie die Bewohner über sich und ihre Stadt sprechen. „Ici c’est Marseille!“ (Hier ist Marseille!) ist zum Beispiel einer dieser einfach klingenden Sätze, die man in der Stadt ständig zu hören bekommt, dessen Bedeutung jedoch weit über die wörtliche Ebene hinausgeht. In vielfacher Ausprägung war er unter anderem auf dem Song „Bande Organisée“ des Marseiller Rap-Kollektivs „13 Organisé“ zu hören, der inzwischen zu den erfolgreichsten französischsprachigen Liedern aller Zeiten gehört (3). Hier heißt es in einer Zeile: „C’est pas la capitale, c’est Marseille bébé“ (Das hier ist nicht die Hauptstadt, das ist Marseille, Baby), womit das eigene Selbstverständnis, nämlich das eines völligen Gegenpols zu Paris, klar zum Ausdruck gebracht wird.

Die Bewohner Marseilles sehen sich eben in erster Linie nicht als Franzosen, sondern als „Marseillais“, die den „Planeten Mars“ bewohnen. Und dieser Planet folgt seinen ganz eigenen Gesetzen. Wenn es denn überhaupt welche gibt. Ampelfarben zum Beispiel haben hier maximal Empfehlungscharakter. Jeder, der an einer roten Ampel stehen bleibt, wenn das nächste Auto noch mehr als 50 Meter entfernt ist, hat sich, ohne ein Wort zu sagen, als Tourist geoutet. Dies gilt übrigens oftmals auch andersherum für Autofahrer.

Als Empfehlung empfinden die Marseiller überdies auch viele Dekrete, die aus dem Parlament der Hauptstadt kommen. Als beispielsweise im Sommer 2021 der sogenannte Gesundheitspass eingeführt wurde, musste ich wirklich lange suchen, bis ich ein Lokal fand, das diesen von seinen Kunden tatsächlich verlangte. Auch die Polizei schien es nicht weiter zu interessieren — sie hat andere Sorgen. Es war, als sei dieses Gesetz, das im Rest Frankreichs für große Kontroversen sorgte, fast völlig an der Stadt vorbeigegangen — mit Ausnahme einiger schicker und teurer Restaurants. Doch kein Wunder: Im August 2021 — also genau zu der Zeit, als der „Gesundheitspass“ obligatorisch wurde — lag die Impfquote in Marseille bei gerade einmal 48 Prozent und damit deutlich unter dem Landesdurchschnitt (4). Welcher Gastronom, Nachtclubbetreiber oder Barbesitzer verzichtet nach über einem Jahr im Lockdown schon freiwillig auf mehr als 50 Prozent seiner Kundschaft?

Hinzu kommt, dass die Stadt den berühmtesten Coronamaßnahmenkritiker Frankreichs beheimatet — den Professeur Didier Raoult von der Universität Aix-Marseille. Raoult, ein Mediziner, Mikrobiologe und Infektiologe, der unter anderem aufgrund seiner Studien zu Hydroxychloroquin in Frankreich stark umstritten ist, begleitete die Pandemie mit regelmäßigen Kommentaren auf dem YouTube-Kanal seines Institutes.

In den zum Teil millionenfach geklickten Beiträgen meldete er unter anderem Zweifel hinsichtlich der Notwendigkeit von Impfungen für Nicht-Risikopatienten an und äußerte Kritik an der Lockdown-Politik des Landes (5).

Inzwischen ist Raoult in der Stadt mindestens genauso bekannt wie die Fußballstars von Olympique Marseille. Und das will was heißen. Viele Bewohner sind stolz darauf, dass gerade in ihrer Stadt ein Fachmann sitzt, der dem pandemischen Autoritarismus etwas Substanzielles entgegenzusetzen hat. Oft bekommt man zu hören, dass es „klar war“, dass so jemand wie Raoult aus Marseille kommt. „Ein Typ wie er, der derart von der Norm abweicht, würde in anderen Städten gar nicht funktionieren. Den würde dort keiner für voll nehmen“, meinte eine Bekannte von mir. Auch das bereits angesprochene Kollektiv „13 Organisé“ huldigte dem exzentrischen Wissenschaftler in einem ihrer Musikvideos, in dem ein Doppelgänger Raoults zu sehen ist, der am Block neben den Grasdealern ganz entspannt sein „Wundermittel“ Chloroquin an den Mann bringt (6).

Wissenschaft im Dienste der organisierten Kriminalität

Tatsächlich weist dieses im Musikvideo nachgezeichnete Nebeneinander von kriminellen Milieus und der Wissenschaft auch eine historische Komponente auf, auf die die Filmproduzenten bei ihrer Inszenierung vermutlich gar nicht abgezielt hatten: die der Drogenherstellung und -verbreitung. Denn über weite Strecken des 20. Jahrhunderts glich Marseille einem gigantischen Heroinlabor. Noch 1970 kamen 80 Prozent des in den USA gespritzten Heroins aus der Hafenstadt. Dieses wurde in Breaking-Bad-Manier von Chemikern hergestellt, die ihr wissenschaftliches Know-How lieber in urbanen Heroinküchen als in prestigeversprechenden Universitätslaboren anwendeten.

Zu Spitzenzeiten betrieben die Marseiller Syndikate etwa 20 bis 25 Geheimlabore, deren Output bei bis zu 150 Kilogramm Heroin pro Monat lag. Damit war es der Kosenmafia, welche die Labore betrieb, gelungen, Marseille für ganze 25 Jahre zum zweifelhaften Titel des „Heroin-Exportweltmeisters“ zu verhelfen. Alfred W. McCoy, Historiker an der Universität Wisconsin, beschrieb diese Zeitperiode, die von 1948 bis 1972 währte und in deren Verlauf türkisches Opium ungestört über die Marseiller Labors weiter in die USA verschifft wurde, als „eine Phase einzigartiger Stabilität“ im internationalen Drogenhandel (7).

Noch heute zeugen zahlreiche Prunkvillen in der Stadt von ihrer mafiösen Vergangenheit, die streng genommen nicht nur eine Vergangenheit ist, sondern in abgeschwächter Form durchaus gegenwärtige Aspekte aufweist (8).

Rebellion in der DNA

Doch zurück zur rebellischen DNA Marseilles. Ich spreche hier bewusst von DNA, da die Forschung schon lange die Erkenntnis zu Tage gefördert hat, dass bestimmte Persönlichkeitsaspekte mitunter eine biologische, also genetische Komponente aufweisen. Dem folgend müssen die Gründerväter Marseilles — der Legende nach Griechen und Kelten —, schon damals, sechs Jahrhunderte vor Christus, ziemliche Revolutionäre gewesen sein. Denn im Laufe der Geschichte rebellierten die Einwohner „Massalias“, wie die Stadt einst hieß, mehr als nur einmal gegen die jeweils Herrschenden.

Im Jahr 49 vor Christus zum Beispiel schlugen sie sich bei einer Auseinandersetzung zwischen Römern und Galliern auf die Seite der Gallier. Später, im 11. Jahrhundert, als Marseille politisch zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte, verwaltete sich die Stadt praktisch selbst. Und als die Provence ab dem 15. Jahrhundert fortan unter der Ägide der französischen Krone stand, rief die Stadt, um ihre Autonomie zu verteidigen, einen eigenen, unabhängigen Staat aus. Diese urbane Republik existierte letztlich von 1591 bis 1596 (9).

Übrigens: Im Jahr 1792, also zu Hochzeiten der französischen Revolution, schickte die Stadt 500 freiwillige Kämpfer nach Paris, um die neue Regierung zu unterstützen. Bei ihrem Einzug in Paris sangen diese ein noch heute weltbekanntes Revolutionslied: Die „Marseillaise“ — heute die Nationalhymne Frankreichs. Besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist allerdings Folgendes: Als den Bewohnern Marseilles klar wurde, dass auch die neue Regierung mit den altbekannten Mitteln von Gewalt und Unterdrückung ihre Macht zu verfestigen suchte, widersetzte man sich den einstigen Revolutionären und stellte sich stattdessen auf die Seite der gemäßigten Girondisten (10).

Die Marsianer, sie können eben einfach nicht anders.

Zwischen Zerfall und Selbstermächtigung

Die aufrührerische Ader hat jedoch auch ihre Schattenseiten. Ohne Zweifel ist sie es, die dem Aufkommen von aktuellen Phänomenen wie Clan-Kriminalität, Selbstjustiz und städtischem Zerfall Vorschub leistet. Eine Stadt, in der von Haus aus anarchieähnliche Zustände herrschen, bietet den idealen Nährboden für das Aufkeimen der wilden, ungezähmten Saat, die meines Erachtens in allen Menschen als latentes Potenzial angelegt ist. Von den Folgen berichten unzählige Serien, Filme und Dokumentationen, darunter eine besonders Sehenswerte von Arte mit dem Titel: „Eine Stadt in Not“ (11).

Zu dieser Not gehört beispielsweise die zweifelhafte Ehre, 2018 als schmutzigste Stadt Frankreichs ausgezeichnet worden zu sein. Zu ihr gehört auch, dass über 10.000 Wohnungen in der Stadt eigentlich nicht bewohnbar sind, sie aber dennoch bewohnt werden. Im schlimmsten Fall bis zum tödlichen Einsturz. Und zu ihr gehören ferner 31 Vergeltungsmorde — alleine im Jahr 2022 (12, 13, 14).

Doch wo viel Schatten ist, ist auch Licht. Und so bin ich der Auffassung, dass Marseilles rebellischer Charakter Anlass zur Hoffnung gibt, dass eines der Wahrzeichen der Stadt, der Vieux-Port („alte Hafen“), nicht nur ein Fischereihafen, sondern auch weiterhin ein Hafen für Autonomie, Selbstbestimmung und -verantwortung in einer zusehends zentralistischen politischen Welt sein kann.

Von dieser Möglichkeit zeugt unter anderem ein Graswurzelprojekt, das sich der Sauberkeit der Stadt und der Strände verschrieben hat. Binnen weniger Jahre ist es der Initiative gelungen, vormals unbegeh- und beschwimmbare Strände in paradiesische Rückzugsorte zu verwandeln — und das, ohne auf die große finanzielle Unterstützung aus Paris zu hoffen.

Was nun mich selbst betrifft, so meine ich, der Antwort auf die Frage, warum mich diese Stadt so magisch anzieht, in den letzten Jahren ein wenig näher gekommen zu sein: Bei jeder Wanderung hinauf zu Notre-Dame de la Garde, jedem Spaziergang durch das Einwandererviertel „Le Panier“, jedem Dribbling auf einem der Bolzplätze, begegne ich ein Stück weit mir selbst. Ich trete in Kontakt mit meinem ureigenen Freiheitsdrang, seinen ebenso schöpferischen wie selbstzerstörerischen Anteilen. Ich wage mich vor ins Ungewisse, spüre das Gefühl von Würde, das mit innerer Autonomie so eng verwoben ist und blicke zugleich in die tiefen Abgründe ungezügelter Grenzenlosigkeit.

Und jedem Menschen, der sich schon einmal dabei erwischt hat, Kraft der eigenen Widerspenstigkeit Akte der Selbstsabotage begangen zu haben, kann ich nur empfehlen, es mir gleichzutun.

Marseille

Der Blick von Notre Dame de la Garde über Marseille (eigene Aufnahme)


Quellen und Anmerkungen:

(1) Le « Parler Marseillais » : https://www.youtube.com/watch?v=0YRIQykOgE8
(2) https://www.fr.de/politik/frankreichs-sprachen-fordern-ihr-recht-90792238.html
(3) 13 Organisé — Bande organisée: https://www.youtube.com/watch?v=-CVn3-3g_BI
(4) https://www.nzz.ch/international/impfen-in-frankreich-auch-eine-soziooekonomische-frage-ld.1639940
(5) https://www.youtube.com/watch?v=-LbJwJR3V7A
(6) https://www.youtube.com/watch?v=IT8O2KRaNtg
(7) Alfred W. McCoy (2019): Die CIA und das Heroin.
(8) Siehe zum Beispiel die „Guérini-Affäre“, bei der u.a. Jean-Noel Guérini, Senator und Präsident des Generalrats des Départements Bouches-du-Rhône, gemeinsam mit seinem Bruder Alexandre Guérini, Unternehmer, in die Veruntreuung öffentlicher Gelder in zweistelliger Millionenhöhe involviert war. Mehr dazu unter: https://www.lefigaro.fr/politique/2011/10/28/01002-20111028ARTFIG00455-les-guerini-ont-mis-en-place-un-systeme-mafieux-a-marseille.php
(9) https://www.lhistoire.fr/marseille-ville-rebelle
(10) https://www.planet-wissen.de/kultur/westeuropa/provence_landschaft_der_duefte/pwiemarseille100.html
(11) https://www.youtube.com/watch?v=VU5qx74iFKM
(12) https://www.20minutes.fr/planete/2274991-20180522-marseille-recoit-balai-or-ville-plus-sale-france
(13) https://www.youtube.com/watch?v=9YosEDFg2EE&t=13s
(14) https://fr.wikipedia.org/wiki/Liste_de_r%C3%A8glements_de_comptes_%C3%A0_Marseille


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

Weiterlesen

Die Beratungsresistenten
Thematisch verwandter Artikel

Die Beratungsresistenten

Die herrschenden Kräfte und „ihre“ Medien haben ausgefeilte Strategien entwickelt, um an längst widerlegten Narrativen festzuhalten.

Die Macht der Kreativität
Aktueller Artikel

Die Macht der Kreativität

Der Musikproduzent Rick Rubin hat ein Buch über Kreativität geschrieben, das den Leser inspiriert, sein eigenes kreatives Potenzial zu entdecken.

Der Ausnahme-Fall
Aus dem Archiv

Der Ausnahme-Fall

In manchen Fällen sollte man eine Nachricht auch publizieren, wenn sie nicht durch eine zweite Quelle abgesichert ist. Exklusivabdruck aus „Krieg und Frieden in den Medien“.