Heute Morgen, 7.12.2021
Vom Zusammenbruch einer Freundin im Kampf gegen den Totalitarismus erfahren. Sie liegt nun irgendwo in einem Krankenhaus. Ich weiß nicht wo. Kann sie nicht erreichen. Ebenso heute Morgen, kurz danach, schreibt mein Schwager: Ja, dieser Staatsrechtsprofessor, der von der Auflösung der Rechtsstaatlichkeit spricht (1), das sei schon interessant. Aber am Ende, so müsse er sagen, bleibe doch der Eindruck, dass sich da einer profiliere. Er selbst finde alles halb so schlimm.
Schlaf, komm und rette mich.
Menschen, die ihre Stelle verlieren: halb so schlimm.
Impfschäden bis zum Tod: halb so schlimm.
Traumatisierte, Suizide, explodierende Krebsfälle: halb so schlimm.
Ärzte und Richter, die vom Staat überfallen werden: halb so schlimm.
Eine ganze Menschheit, über deren Körper ein paar Reiche bestimmen: halb so schlimm.
Ein Irrer als Gesundheitsminister, der über Leben und Tod bestimmt: halb so schlimm.
Menschen ausgesperrt, erste in Camps eingeliefert, Mauern und Zäune zwischen diesen und jenen, Kinder zu Geiseln der Konzerne gemacht und dann erst diese Sprache auf allen Kanälen, dieses Gebrüll und Gebell: Wie schlimm ist eine Hälfte?
Schlaf, komm und rette mich.
2021. In drei Schritten zur Wirklichkeit
- Der Präsident Südafrikas äußert sich kritisch zu den „Impfungen“.
- Zwei Tage später ist die südafrikanische Covid-Variante aus dem Hut gezaubert, die in Südafrika nicht zu spüren ist, Deutschland aber auslöscht.
- Mit dieser Variante bewaffnet schlägt Sonja von nebenan, schlagen Hunderttausend Sonjas auf alles ein, was irgendwie nach Denken riecht. Bis alles tot ist und still und die Sirenen von ARD und ZDF durch die Gassen dröhnen.
Mein Schwiegervater, ein paar Tage davor, hat geschrieben: „Ideologische Brille absetzen. Denken einschalten. Impfen.“ Bei Smartphones kommt es nicht drauf an, ob sie ein- oder ausgeschaltet sind. Ihren Hauptzweck erfüllen sie so oder so. Gelungene Angleichung der Gehirne ans Gerät. So könnte ich dem Schwiegervater zurückschreiben. Ich schreibe nicht. Der südafrikanische Präsident aber hat Glück.
Noch ist er nicht den Weg des tansanischen Präsidenten gegangen, der sich kritisch zum „Impfen“ geäußert hat und kurz daraufhin mausetot war. Kolonialismus mit Nuancen. „Neger“ darf man nicht mehr sagen, Magufuli töten: das passt. Reste hegelscher Dialektik. Wer aber die sexuelle Identität Nummer 27 beleidigt, bekommt die ganze Härte des Gesetzes zu spüren. Und weil von Grundrechten gesäubert, ist diese Härte dieses Gesetzes besonders hart. Gott ist tot und Gates lebt. Halb so schlimm. Und Dietrich Bonhoeffer: Ja, interessant. Aber eben doch, so mein Schwager, der Eindruck, dass sich da einer zu profilieren versuche.
Schlaf, komm und rette mich. Und führe mich hinüber in die Welt von damals.
Sternstunde Hund 2000/2001. Ich lese:
Was hat man bisher aus den Menschen gepresst? Aus den Menschen hat man zunächst alles Unmenschliche herausgepresst, dann auch Geständnisse nie geschehener Taten. Man hat das Tierische sodann herausgepresst und die Sprachen ebenso. Aus dem Menschen wurden Leistungen herausgepresst, die ihm allesamt ganz und gar fremd bleiben mussten. Es wurden Dinge aus ihm gepresst, denen gegenüber er sich später als Fremdling herausstellte, ein Fremdling, der den Fehler stets bei sich suchte und der sich sagte: Ich bin dem Herausgepressten gegenüber fremd und muss mich deshalb noch mehr auspressen lassen, bis nichts mehr zurückbleibt und ich bloß noch als Herausgepresstes existiere, nicht abgetrennt vom Herausgepressten an sich, das zuvor schon herausgepresst worden ist — also noch bevor ich selbst aus mir herausgepresst worden bin.
(...)
Der Frieden ist gekommen. Mit den neuen Möglichkeiten ist er gekommen. Seit Menschengedenken bringen die neuen Möglichkeiten neben vielem anderen den Frieden. Der Frieden ist bis jetzt aber niemals so friedlich ausgefallen, dass für neue Möglichkeiten nicht die Möglichkeit bestanden hätte, weiterhin den Frieden zu bringen. Seit dem homo sapiens, vielleicht auch schon seit dem homo erectus, vielleicht gar vom ersten Australopithecen an wurde und wird in der Welt der Frieden gebracht.
Die Australopithecen standen morgens auf und brachten — indem sie neue Möglichkeiten suchten — den Frieden. Auch der erectus stand auf und brachte dann den Frieden, alle Urmenschen, die Etrusker, die Syrer, zuvor die Altinder, die Ägypter, die Römer, die Russen und vor allem die US-Amerikaner standen und stehen am Morgen auf und schauen dann, dass der Frieden gebracht wird in alle Haushaltungen.
Es müsste also, würde ein Mensch überfahren, irgendwie der Frieden herausgepresst werden, es müssten Spuren des Friedens sichtbar werden, denn schon so viele Male ist dem Menschen — und sogar jedem einzelnen — der Frieden gebracht worden. Aber niemals - und das ist das Unerklärbare - ist aus einem überfahrenen und auch mehrfach überfahrenen Menschen der Frieden herausgequollen. Entweder hat sich der unzählige Male gebrachte Frieden im Menschen drin immer sogleich aufgelöst oder aber es war der Frieden, obgleich immer gebracht, niemals in ihm drin.
(…)
... es werden die Menschen, die es auf Erden nicht mehr gibt, in endlosen Kolonnen warten — richtungslos, in keiner Angelegenheit, sie werden bloß warten — und vielleicht werden sie bloß darauf warten, dass sie einmal wieder warten dürfen mit einer Richtung. Zu Ferrer, der zusammen mit mir die Reste überfahrener Hunde auf den Straßen Indiens fotografiert, sage ich: Der Frieden im Gesicht eines Hundes im indischen Teer ist der einzige, der sich einstellen konnte. Alle anderen Frieden wurden nur gebracht. Es war nämlich keine neue Möglichkeit, die dem Hund den Frieden gab, mit dem er in den Teer eingegangen ist. Es war der Hund selbst, der sich entschlossen hat, in Frieden zu sterben.
Heute Morgen, 2021
Alles ist halb so schlimm. So höre ich mich sagen mit einer verstellten Stimme. Aber jedes Halb-So-Schlimme, mein lieber Schwager, hat eine ganze Geschichte.
Sternstunde Hund 2000/01
Jeder Schriftsteller und jede Schriftstellerin deutscher Sprache hat im ausgehenden Jahrtausend einen Juden erfunden. Jeder, der für den Frieden war und gegen den Rassismus, wusste plötzlich eine Geschichte aus der Zeit des Dritten Reichen, das auch einmal für neue Möglichkeiten zuständig war und als Abwehrsystem gegen den mit den neusten Möglichkeiten kurz zuvor hergebrachten nicht ganz und vollständig friedlichen Frieden diente, und aus der Zeit danach.
Die Geschichten waren nicht neu — sie lagen bereits vor den 1960-er Jahren auf und man hätte sie lesen können. Aber das war nicht interessant, denn die amerikanischen Konzerne setzten die europäischen Banken erst am Ende der 1990-er unter Druck. Ich war erstaunt, als ich sah, wem alles eine jüdische Geschichte eingefallen war. Jeder und jede übermalte seine Helden mit irgendwelchen jüdischen Attributen, die er in irgendwelchen Kursen oder Zeitungen oder Archiven eingesammelt hatte. Auch Leute, die in den 60-er Jahren noch aktiv und beteiligt waren am Fertigmachen des jüdischen Dichters Paul Celan, malten nun ihrerseits das Jahrhundert aus - und wenn darin kein Vorzeigejude war, dann die Selbstgerechtigkeit unvermittelt.
(…)
Ständig ist von Schulreformen die Rede, selten von Depressionen, welche die Schülerinnen mit oder ohne Reformen ergreifen. Die Leute, die die Reformen leiten, leiden nie an Depressionen, zumindest wenn sie in die Kameras und in die Mikrofone lächeln, dann leiden sie nicht, sondern erzählen von der Notwendigkeit der Reformen, ohne die es nicht mehr gehe und ohne die nur noch der Untergang folge. Der Untergang folgt aber bestimmt und die Wahrheit ist, dass er mit den Reformen noch viel schneller kommt. Das ist mir recht, damit die Welt von den Gesichtern befreit wird, die sie reformieren wollen.
2021
Schlaf, rette mich und führe mich in den Traum. Im Traum bestimme ich den Gesundheitsminister. Einer, der nicht lallt. Bestimme ich die Vorsitzende der Ethikkommissionen, eine, die zwei Argumente aufeinander beziehen kann. Bestimme ich den Präsidenten des Verfassungsgerichts, einer, der nicht mit der Exekutive schmust und diniert. Entgegen der Gepflogenheiten des Landes fallen meine Nominierungen nicht auf die Irren und Mörder aus Ingeborg Bachmanns Erzählung (2).
Gedicht, 2002
wer zaubert mir das alte nochmals hin
für wenig geld
wer reizt meine areale
wer begleitet mich zum neuronenfeuern in V5
und wer bis zum tod?
wer lässt mich die sprache
nochmals sprechen
wer myelinisiert die leitungen neu
wer setzt mich ein letztes mal
in kraft
und wer gegen geld
unterschreibt
dass alles noch kommt
endlich kommt
wer lacht mich aus
gegen geld
und wer überreicht mir meine teile
wer nimmt mich weg aus A6
und aus allen limbischen systemen
wer speichert mich
an einem heiligen ort
wer schickt mich in die felder
und feuert auf mich ein
wer redigiert meine karten
und bettet mich neu
damit der schlaf wieder ist
der schlaf und bloß der schlaf
2021
Ich erwache, 7. Dezember, und sehe, dass B. im Kampf gegen den Totalitarismus zusammengebrochen ist und sich schwere Verletzungen zugezogen hat, und dass mein Schwager alles halb so schlimm findet. Am Mittag, ein Glück, sind A. und G. zum gemeinsamen Denken auf Besuch. Ich erzähle von B. Wir schenken uns die letzten Gültigkeiten. Ohne Gewähr. Und wir lachen wie früher, als wir auseinander gehen. Im Januar vielleicht wieder hier. So rufen wir. Oder doch schon im Lager?
Eintrag nach langer Zeit, 2003
Ich müsste sehr dringend etwas ändern. Ich müsste sehr dringend umsteigen, abhauen, mich auflösen - um mich zu retten oder zumindest: meine Vorstellung von mir. Schon glaube ich mich von Parkinson bedroht, sehe ich jemanden zittern, flattern mit den Nerven, zucken mit dem Augenlid; ich sehe darin einen Provokation, einen Spott, einen Hohn, eine Bedrohung und wenn es die Nähe der Beziehung erlaubt, so greife ich nach dem Arm und frage: Ist dir bewusst, dass du zuckst? Ich habe immer schon gezuckt, so dann die Antwort, was hast du bloß?
(...)
Die Sirenen — diesmal stadteinwärts. Dann die Klingel unmittelbar vor der Wohnungstür. Und dann ist es bloß die Frau von nebenan mit einem Hinweis, gut gemeint. Ich warte schon seit Tagen und Jahren auf eine Ernennung aus Indien. Als Ganges-Reiniger, Elefantentreiber, Software-Spezialist in Bangalore. Ich warte auf eine Ernennung, die ich nicht konkretisieren kann. Mein Problem ist nicht jener Angriff. Ich bin gegen solche Angriffe immun. Ich klatsche Beifall und bin immun. Ich habe einmal eine Spritze bekommen, die hat mich immunisiert gegen alles. Gegen jede Art von Leid und Freud. Ich lache eigentlich nie. Ich weiß gar nicht, was das ist — und zudem finde ich es absolut komisch. Nur wenn ich zum Tier gemacht werde, dann kann ich lachen. Dann lacht es aus mir heraus.
Manchmal, wenn ich junge Unternehmer sehe und ihre Brillen, wenn ich ihren Eifer sehe und ihre Coolness, wenn ich also sehe, wie es feuert in diesen Gehirnen, dann wünschte ich mir, es wäre auch für mich ein Glück möglich gewesen. Aber es ist keins möglich gewesen und das Wenige, das verbleibt, möchte ich nicht auch noch zerstören, indem ich dauernd diesem nicht möglichen Glück nachtrauere.
(...)
Ich bin sehr müde geworden. Ich möchte sehr viel sagen und schreiben über meine besten Freunde, ich möchte an ihrem Leben teilnehmen, so teilnehmen, wie sie erstaunlicherweise immer noch glauben, dass ich teilnähme, aber mein Gehirn verweigert mir diese Teilnahme. Meine Freunde können sodann dieses machen oder jenes und ich möchte mich beteiligen und mich mitreißen lassen, aber sobald ich das möchte, befällt mich die große Müdigkeit. Sie sind mir nicht gleichgültig geworden, diese Freunde, keineswegs, aber mein Gehirn sperrt mich von ihnen weg.
Jeder Satz, den ich bilde, wird, indem ich ihn bilde oder aber auch nur zu bilden versuche, ein müder Satz. Jeder Satz der Anteilnahme verkehrt sich, indem ich mir auch nur vorstelle, ihn auszusprechen, in sein Gegenteil. Und daher habe ich aufgehört, über Freunde zu sprechen, ja, auch nur an sie zu denken. Denn jedes Sprechen und Denken öffnet der Müdigkeit die Tore. Die Freunde selbst werden müde in mir, versuche ich über sie zu sprechen oder auch nur an sie zu denken. Die einzige Möglichkeit, meine Freunde als lebendige zu bewahren, besteht darin, sich nicht mehr mit ihnen zu beschäftigen. Denn beschäftige ich mich mit ihnen, so werden sie Opfer der großen Müdigkeit, deren Opfer ich schon längst geworden bin.
Heute Morgen, 7. 12. 2021
Große Schwester der Nacht! Lasse nichts zu und mach Gott wieder lebendig. Denn wir haben es versucht, gottlos versucht über lange Jahrzehnte und Jahrhunderte, und gelandet sind wir 1933. Eher 35, bald 38, 42. Die Zeit rast. Schwester, stoppe die Zeit! Wirf ihr Gott zwischen die Beine. Als ein Mann vor der Hildegard von Bingen-Schule Bibeln an die eintreffenden Schüler verteilte, kam ein Lehrer herbeigeeilt und rief: Nehmt keine Bibeln an, Kinder, nehmt nichts an von diesem Mann! Auch das war heute Morgen. Am Ort, an dem der Mann Bibeln verteilen wollte, steht bald schon der Impfbus.
Notizen, 2010
Ich habe gelesen, von Verhaftungen, von Durchsuchungen, von Abtransporten ins KZ, aber so was muss man erlebt haben, sonst kennt man die Bedeutung nicht. Da helfen keine neuronalen Codes, keine Romane, da hilft bloß die schlichte Erfahrung, das Erleben in der ersten Person. Bloß, wer ist diese erste Person?
(…)
Im Roman, der jetzt zu schreiben ist, geht es ans Leben heran. Es geht um die Demütigung und die Vernichtung. Im Namen des Guten und der Demokratie. Es geht um Faschismus.
Wir beginnen. Es klingelt. Polizei. Wir machen eine Hausdurchsuchung.
Wie kann man einer Durchsuchung entgehen? Variante 1: Man verwandelt sich rechtzeitig in einen Käfer. Variante 2: Man erschießt sich rechtzeitig. Variante 3: Man öffnet nicht.
(…)
Die Menschen, die hier auftreten, haben alle gelebt oder leben immer noch. Sie sind alle aus einer Erziehung auferstanden, haben sich eingemischt oder mischen sich noch immer ein, und alle leiten irgendein Recht ab für sich, aus unbekannten Quellen. Sie essen oder haben gegessen, einige sehr wenig, fast anorektisch, könnte man sagen, sie kaufen ein, oh ja, das tun sie gern, sie gehen in Geschäfte und greifen in Regale, reißen heraus und legen im Warenkorb ab. Vor allem beim Ablegen in den Warenkorb kommt es zu ergreifenden Szenen. Einige müssen flüchten, weil andere jagen. Einige müssen sich erholen und vergessen — und andere jagen weiter.
Es ist also von Jägern die Rede, aber auch von Politikern, die auf dem großen Schachbrett Figuren verschieben. Darüber hinaus von Leuten, die über Grenzen gehen, von Feen auch und von denen, die überwachen, kontrollieren, sicherstellen. Es ist ein Buch über die Geheime Staatspolizei, kurz Gestapo, ja, das kann man so festhalten. Auch wenn nicht alle Angestellten der Gestapo auftreten, sondern letztlich nur ganze sechs plus die Vorsteherin. Auch ist es ein Buch über Mörder und Irre und über eine sozialdemokratische Bildungspolitikerin und ihren Henker zur Rechten, beide der Asche Goebbels entstiegen.
(…)
Es geht in diesen Erzählungen um Zeiten, um Abfahrt und Ankunft, also um Verbindungen. Und in erster Linie ums Registrieren und Durchsuchen. Auch, aber etwas weniger, ums Forschen. Sie, lieber Leser, liebe Leserin, kennen die einzelnen Leute wohl kaum, haben von ein paar wenigen dieses oder jenes mal aufgeschnappt, zum Beispiel von Kohl, einem früheren Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Damit Sie nicht unvorbereitet sind, damit Sie nicht aus einem Kopfkissen geschreckt werden und sich sodann von irgendwelchen unbekannten Gesichtern umringt sehen, stellen wir Ihnen die Menschen, die Sie bald schon überfallen werden, kurz vor. Ja, schütteln Sie doch allen kurz die Hand, zur Begrüßung, auch wenn das hygienisch etwas bedenklich sein mag. Aber diese Begrüßung dauert ja nicht ewig und danach können Sie sich in der Toilette die Hände waschen. Noch bevor Sie weiterlesen.
Wir sind nun gleich im Foyer, die Leute schon da. Der Entscheid, ob Sie wirklich eintreten wollen, gänzlich, der wird Ihnen nach der Vorstellung leichter fallen. Ist da niemand, den Sie interessiert, so legen Sie bitte das Buch weg, verschenken Sie es oder verkaufen Sie es. Benutzen Sie dafür doch eine Plattform im Web. Unsere Erfahrung zeigt, Sie werden Abnehmer finden. Vielleicht aber treffen Sie gar auf Bekannte. Dann lassen Sie sich am besten nichts anmerken.
Achtung, wir sind hier, wir öffnen die Tür, und es kann losgehen — doch halt und einfach noch schnell der Präzision wegen und damit keine falschen Erwartungen aufkommen, es ist schon ziemlich laut, ich muss leider etwas schreien, einfach noch schnell ins Ohr geflüstert: Wir selbst stellen uns nicht vor. Wir erzählen zwar, das ist richtig. Doch Sie werden sehen, es ist nicht notwendig, dass auch wir uns vorstellen, zumal wir von der anderen Welt erzählen, von Einkaufzentren und Übergriffen, vom Kinderschutz und von ein paar Juden und Hexen, denen man nachgestiegen ist bis zur Vergasung. Ja, es wird auch gestorben, es gibt auch den Tod in diesem Buch. Getötet wird nicht keiner. Das sei auch noch ins Ohr gebrüllt — diese Musik — schrecklich!
2021
Schlaf komm und rette mich. Vor dem Bösen der Guten.
Notizen, 2011
Längst können mich meine Freunde nicht mehr begreifen, wenn ich den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie bloß als unterschiedliche Erzählhaltung einstufe. Manchmal spreche ich auch von zwei verschiedenen Kleidungsstücken, denselben Inhalt hüllend. Vielleicht ist das Hüllvermögen der Demokratie größer, ja bestimmt ist es so, und die Diktatur das ehrlichere Kleid, wenn man Ehrlichkeit daran festmacht, wie sehr Schein und Sein auseinander fallen. Gerade das Verkleidungsdiktat der Demokratie macht sie zur schlimmsten Diktatur, zur Volksdiktatur — so sage ich zuweilen, im Wissen, die letzten verbliebenen Freunde damit vor den Kopf zu stoßen. Linke Freunde, die Zeit ihres Lebens sozialdemokratisch oder grün gewählt haben und die nie so recht begriffen haben, weshalb eine Intellektuelle wie Ingeborg Bachmann, die ALLES überragende österreichische Denkerin und Dichterin, die Linken und den Feminismus, traten sie institutionalisiert auf, als Teil des Faschismus sah und nicht etwa, wie diese Linken jahrzehntelang gutgläubig dachten, als Bollwerk dagegen.
Und weil sie das nicht verstanden, so begriffen sie letztlich gar nicht, dass sie selbst gemeint waren, wenn Ingeborg Bachmann von Krieg und Faschismus sprach. Nur wenn die anfangs zierliche und dann zunehmend depressive Denkerin von Kapitalismus und Krieg sprach, so glaubten sie zu begreifen und schrien ahnungslos mit, weil sie das Faschistische jeder Ordnung und jedes Staates nicht zu denken vermochten. Sie dachten zu einfach, fühlten noch harmloser und hielten sich im Zweifelsfall an Max Frisch. Ich glaube, ich habe immer so gedacht, immer gedacht, dass die Sozis mit ihrer Staatsgläubigkeit die furchtbarsten Faschisten seien. Bloß bin ich in einer Zeit aufgewachsen, als die Sozis noch andere Sprüche an die Wände schmierten, ja, also sie überhaupt noch Wände verschmierten. Macht aus dem Staat Gurkensalat. So war damals zu lesen. Und das gefiel mir.
Indes, sie meinten gar nicht den Staat. Sie meinten bloß den Staat, der sie selbst nicht mit Ämtern und Posten versah. Nachdem die Sozis aber diese Ämter erobert hatten, nachdem Schröder, Fischer und Konsorten die Minister spielten, nachdem Feministinnen in Abertausenden von staatlich geförderten Schutz- und Kontrollprojekten Einsitz genommen hatten, waren diese Sprüche weg. Plötzlich galt den Linken und Grünen als Faschist, wer aus dem Staat Gurkensalat machen wollte. Plötzlich waren ihnen, obwohl naturgemäß weitgehend unreligiös, Gesetze heilig und sie kreierten, einmal in den Ämtern sitzend, ständig neue hinzu, schärfere, und brachten die Total-Überwachung auf ein Ausmaß voran, wie es bis anhin nicht existiert hatte.
Linke Verkehrsminister fordern mittlerweile hemmungslos elektronische Wegfahrsperren für Raser, Trinker und Kranke. Feministinnen forderten Fußfesseln und Internetlisten für Täter und solche, die zu Tätern gemacht werden, als ob es den Judenstempel nie gegeben hätte. Nein, sie fordern es natürlich nicht mit diesem Bewusstsein. Der Zusammenhang würde sie bloß irritieren und es kommt ihnen sehr zugute, dass die Nazis — und natürlich auch die Stasi und die Terroristen — voll und ganz und wirklich bis zum Vergasen für das Abfeiern des Bösen instrumentalisiert worden sind, auf dass für das eigene Wirken mehr Raum bleibt.
(…)
Hinter der letzten Mauer des Dorfes
stehen die Kirchen und schlagen mit ihren Glocken
auf die vertriebenen Hunde ein, bis sie die Glieder strecken.
Auf der toten Hand des Himmels zähle ich die Nägel
und schäme mich für jeden Traum.
Und die gerechten Frauen, getragen vom Wind der Wörter,
stempeln die Täter ab, keine Sorge:
Der Führer liebt Kinder.
Und die neuen Berge sind Helmhaufen.
Glasaugen starren zurück.
Geht ein Lüftchen noch? Schlägt etwas durch?
Dann aber kommen die Durchsichtigen mit ihren Leibern
und legen sich ins Öl.
Das Flimmern auf ihren Köpfen zerfällt in Stücke
und ihre Seelen, zu ihrem Schutz,
hängen an Nerven aus.
Zum Trocknen, sagt man. Bloß zum Trocknen.
Ich aber lege den letzten Nagel ins Kreuz und weiß:
Die Zeit ist zurück.
Notizen, 2012
Kann ein Roboter seinen Schöpfer konstruieren, im Nachhinein. Kann der Zauberlehrling den Zauberer hervorbringen? Das frag ich dich, Sa.
Pa, wir müssen die Zeit wegnehmen, begreifst du, wir müssen das Verhältnis von Schöpfer und Schöpfung verlegen, aus der Zeit verlegen, verstehst du. Mit den Mitteln des Denkens bleibt Gott immer ein geschöpfter, weil konstruierter Gott. Das sagt nichts über ihn aus, bloß über uns, die Geschöpften.
Aber der Apparat stirbt einmal, er ist Materie. Damit stirbt auch Gott.
Die Erfahrung, Pa, berichtet etwas anderes, die Erfahrung, die ich mit diesem Apparat habe. Indes, der Apparat kann sich nicht selbst überleben. Er kann sich allerdings vorstellen, er könne dies, er könne sich überleben, beispielsweise, aber auch diese Vorstellung gehört zum Apparat. Nach allem, was wir wissen, gehört sie zu ihm. Das allein aber streicht weder die Vorstellung noch den Apparat.
Der Apparat stirbt und in diesem Apparat auch die Vorstellung, dass der Apparat weiterleben könne auf alle Zeiten oder dass Teile des Apparates vom Tod nicht betroffen wären. Das müssen wir annehmen. Aber indem diese Vorstellung stirbt, wird das Weiterleben keine Spur realer, indes auch nicht unwirklicher, begreifst du, Pa? Die Tatsache, dass ein Apparat stirbt, sagt über die Existenz von Gott weder in der einen noch in der anderen Richtung etwas aus. Wohlverstanden, das Sterben des Apparates tastet alle Vorstellungen in keiner Weise an, die dieser Apparat hervorgebracht hat, also die Idee der Unsterblichkeit zum Beispiel, die Idee eines Geistes. Der Tod lässt auch die Bäume bestehen und die Wiesen und Weiten. Die Vorstellung kann durch den Tod des Apparates, der sie kreiert hat, niemals zum Erliegen kommen.
Der Tod tangiert sie nicht. Und das gilt gerade dann, wenn ich diesen Apparat nicht heilig spreche, ihn nicht als Geist oder Seele verkläre. Das kann ich zwar, Pa, ist aber nicht nötig und führt zu Widersprüchen, auf die zu verzichten ist. Gott bleibt Gott, wenngleich der Apparat, der ihn für uns erzeugt, aus einem Stoff ist und es neben diesem Stoff nichts anderes gibt. Gott muss mir den Apparat, der ihn erzeugt, nicht gegeben haben, niemals, und schon gar nicht am Anfang. Für meine Gültigkeit genügt, was ich erfahren kann. Nämlich Gott, der für mich, wie alles, vom Apparat erzeugt wird.
Der Tod des Apparates, angesichts der Tatsache, dass es einen Nicht-Apparat nicht gibt, ist für Gott in mir unerheblich. Nur für die, die den Apparat von Seele, Geist oder Gott abspalten, wird der Tod zum Problem. Denn der Tod des Apparates hat eine ganz andere Bedeutung, wenn diesem Apparat etwas anderes zur Seite gestellt wird, etwas, das mir Gott jedoch nicht gibt. Nur der Apparat kann mir die Welt geben, ich dagegen nur über die Beschaffenheit dieses Apparates etwas aussagen, das nichts mit mir zu tun hat und vielleicht auch sonst mit nichts.
Alles andere, Gott zuallererst, ist eine Erfahrung, die mit mir zu tun hat, und eine Erfahrung kann nur gelten. Gilt sie nicht, ist sie keine Erfahrung. Keine für mich. Dann hätte ich sie gar nicht erfahren. Ein Apparat, der Materie ist und bloß das, dem muss man die Eigenschaft der Materie, weil sie unterschiedslos gilt, nicht zusprechen. Man kann sie ihm auch nicht absprechen. Die Eigenschaft verliert die Bedeutung, der Apparat ebenso — und auch sein Tod, den es scheinbar gibt und von dem alle ausgehen, auch jene, die diesem Apparat von Beginn weg eine Konkurrenz gegenüberstellen, weil sie glauben, damit zu überleben: Dass auch dies eine Vorstellung bleibt, muss gesagt sein, und auch diese Vorstellung gilt. Selbstverständlich, ich kann mit ein paar Eingriffen auf diesen Apparat einwirken — und vieles zum Erliegen bringen. Auch diese Erfahrung bringen wir nicht los — die gescheitesten Sätze sind mit ein paar wenigen Strichen zu streichen.
Und weshalb weinen wir, wenn jemand stirbt, Sa? Weshalb habe ich um Ferrer geweint?
Ferrer stirbt für dich, Pa. Und Ferrer kann mit dieser Vorstellung sterben und also bemerkt er seinen Tod gar nicht. Er hat bloß eine Geschichte.
Ja, eine traurige Geschichte.
Alfredos Geschichte ist eine solch traurige Geschichte. Er war elf Jahre alt, als er aus Trümmern eines Autos gezerrt wurde. Er sah die Bilder, tausend Bilder, helle Flammen, ein Inferno, er sah sie jahrelang. Und lebte damit, jede Nacht. Seine Mutter war in den Flammen verkohlt. Er verlor für lange Zeit die Sprache. Und als er sie wieder fand, hatte er den Anschluss verpasst. Nur in geschützten Werkstätten konnte er arbeiten, und selbst an solchen Orten holten ihn depressive Rückschläge ein, immer wieder. Dann ist er gläubig geworden.
Nicht, dass er die Frage stellt, was der Sinn von allem sein könne, nicht das macht seine Gläubigkeit aus. Es ist vielmehr seine behutsame Weise, Dinge zu berühren, Gegenstände anzufassen, sein stilles Lächeln, seine Versunkenheit, sein Blick durchs Fenster. Das alles zeugt von Gottes Wirklichkeit. Wer Alfredo sieht, sieht keine Gültigkeit, die hier und jetzt gilt. Er sieht vielmehr hinüber, erkennt eine andere Welt. Alfredo wird keine Ländereien besitzen, keine Gewinne erzielen, das Internet ist für ihn zu schnell. Eines Tages aber wird er gewinnen. So, Pa, erzählt mir mein Apparat die Geschichte von Alfredo, den ich in einer Klinik kennen gelernt habe. Nur ein Apparat, der von Gott ist, kann die Geschichte so erzählen.
(…)
Machen wir uns alle nackt, hängen eine rote Landschaft auf, bauen eine Bühne und tanzen bis ans Ende. Gott nimm uns auf, halte uns! Machen wir uns nackt, geben wir uns hin, belachen wir den Tod, weiden wir uns am Vergehen und machen wir uns noch nackter. Eines Tages im Spätsommer des Jahres 1975 stiegen drei Mädchen und drei Jungen, alle elf- oder zwölfjährig, in den Keller des Schulhauses. Sie mussten Malmaterialien beschaffen, so der Auftrag des Lehrers. Und als sie zwischen den Regalen standen und nach dem Verlangten Ausschau hielten, wurde es plötzlich dunkel. Jemand hatte das Licht gelöscht. Aber es wurde nicht dunkel, es wurde hell. Hell in den Kindern drin. Machen wir uns nackt, alle nackt. Das ging ihnen durch den Kopf. König David hatte sich fast gänzlich entkleidet, als er tanzend in Jerusalem einzog. Sein Tanz fand Verachtung bei seinen Frauen, seinen Kusinen, bei Hofbeamten. Er aber sagte, ich tanze nackt und schneide Grimassen! Ich tanze nackt für Gott!
Und er meinte: Wenn ich tanze, nackt, so bin ich bei Gott. Nackt bin ich Gott. Das meinte David, als er Grimassen schneidend und zuckend und fast gänzlich nackt in Jerusalem einzog. Tanzen wir, sagte das Mädchen, welches das Licht gelöscht hatte, Lilo hieß sie. Tanzen wir und schließen wir die Augen, und wenn zwei aufeinander treffen, dann küssen sie sich. Egal, ob Junge oder Mädchen, wir küssen uns. Später, als sie wieder ins Schulzimmer zurückkehrten, kicherten sie und schnitten Grimassen.
Die anderen sagten: Seid ihr blöd, seid ihr Affen? — Wir sind nicht blöd, wir sind nicht Affen, so entgegneten sie und lachten noch mehr und strahlten, und die anderen schwiegen plötzlich aus tiefer Betroffenheit. Der Lehrer stellte fest, dass sie die falschen Materialien mitgebracht hatten. Er sagte: „Dann muss ich wohl selber gehen. Vielleicht komme ich hinter den Zauber, der in diesem Keller steckt.“ Und er verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. Er war ein Lehrer, der noch nicht im Banne des Schutzes groß geworden war und deshalb Geheimnisse noch nicht mit der Radikalität abstrafte, wie es im neuen Jahrtausend im Zuge des Endsiegs der Korrektheit zum obersten Prinzip jeder Pädagogik geworden war.
2021
Schlaf, komm und rette mich, bevor ich alle Wünsche verliere. Im Traum aber verteile ich die Spritzen. Milliarden Dosen mit Ungehorsam. Und in der Tagesschau habe ich ganze 10 Minuten allein für mich und ich sage: Wir müssen die Menschheit impfen. Die ganze Menschheit.
Die ganze Menschheit? Halb so schlimm, wir erinnern uns.
Ungeordnetes Material, 2017
Die Welt zerfällt. Hier die glänzenden Screens, die spiegelglatten Geräte, die Cockpits der Autos, die High Tech-Elektronik. Dort mehrmals überpflasterte und kaum mehr gepflegte Straßen und Wege, düstere Unterführungen für Fußgänger, Risse in Schulgebäuden, geschlossene Schwimmbäder und das Gerangel um jeden Euro.
Die leuchtende Linie im Nebel.
Wenn alles unklar ist, verschwommen, wenn klare Konturen fehlen, dann ist der sichere Halt, den es im Nebel nicht gibt, das erste, wonach die Hand greift.
Für die Vielen soll Alles im Nebel sein. Damit das Viele, das die Wenigen in Händen halten, viel bleibt. Denn bei klaren Verhältnissen lägen die Dinge offen und es wäre schwierig, die Vielen von einer anderen Verteilung abzuhalten.
Bosnienkrieg. Die Agentur, die mit „Auschwitz“ die Serben zum Scheitern brachte. Beziehungsweise die Guten, und das sind meine Freunde, zur Einsicht, dass gegen die, die Auschwitz wieder errichten, Bomben zu schmeißen sind. Diese Freunde wussten nichts von der Zertrümmerung Jugoslawiens und seiner Wirtschaft lange vor dem Krieg. Sie wussten nichts von dem Plan, der jenseits des Atlantiks gesponnen wurde. Sie nickten stattdessen, als einer sagte: Nie wieder Auschwitz. Wenn ich nun die schauderbare Geschichte erzähle, weshalb meine Freunde am neuen Auschwitz, das sie angeblich nie wieder wollten, mitmachen, so muss ich mich zunächst erklären. Ich meine mit Auschwitz nicht, wie die Agentur damals, ein KZ-Camp. Ich meine gar kein Camp zwischen Birken. Ich verstehe die Aussage, wonach Auschwitz wieder machbar sei mit meinen Freunden, zunächst als Allegorie, ohne Ort im Realen.
Ich habe einen Regenwurm gesehen. In der Freiheit. Geregnet hat es nicht.
Früher wurden die Juden aus ihrem Leben von der Gestapo abgeholt. Gerade da, wo sie eben aufgespürt wurden. Heute gibt es keine Juden mehr und alle werden abgeholt, da, wo sie gerade sind auf ihrer Customer Journey. Nicht von Nazi-Schergen werden sie abgeholt. Nicht von Beamten, die einfach ihren Job tun. Softwarelösungen sind es, die sich um die Menschen kümmern. Die Menschen aber landen nicht wie die Juden in einer Gaskammer, sie landen im ewigen Kreislauf der Codes, wo nur die Seele vergast wird und die Biomasse leidet, bis sie den Zahlen entspricht.
Nicht nur der Kopf, der Körper insgesamt war auf die Fläche gerichtet. Er krümmte sich förmlich zu ihr hin und versuchte dabei, so der Eindruck, selbst glatt zu werden. Wo immer sie waren, wo sie gingen, standen, lagen, stets war ihr Körper auf einen Screen gerichtet. Dieser Screen war gewissermaßen das Zentralorgan. Zentrum des Selbst. Und dieses Selbst suchten die Körper ab. Nach Botschaften. Und sie suchten nicht vergeblich. Alles, was sie zu wissen brauchten, konnten sie ablesen. Vorgefertigt, in verbrauchergerechten Tranchen. Das Leben zuvor dagegen, bevor es diese Bildschirme gab, war für die meisten, bestimmt aber für jene, die nie etwas anderes gekannt hatten, undenkbar. Denn zu reibungslos und glatt floss alles ineinander auf den Screens. Der undigitale Mensch von Gestern dagegen, auch nur kurzzeitig vorgestellt, war im Grunde eine Zumutung. Schmutzig. Einer, der sich nicht gewaschen hatte.
Manchmal allerdings, das lässt sich leicht denken, war es auch gar viel. Und war eine Weltmeisterschaft vorbei, eine Show zu Ende, die Beute aus dem Shopping verstaut, ein Download beendet, der Aktienkurs gefallen, die Google-Listen sortiert, dann blieb der leere Blick aufs Gerät. Ein Daumen streichelte es. Im Unterleib Hunger. So fand man sie vor. An Haltestellen, in Straßenbahnen, in Stadtparks, an Konferenzen.
Manchmal standen sie auf einem Bein bloß und traten dahin, dorthin. Beugten die Finger, berührten die Wangen. Die Glieder standen ab. Und hätte das ein Sigmund Freud hundert Jahre zuvor noch sexuell gedeutet, so hatte dieses Abstehen in der Zeit der digitalen Freiheit jede sexuelle Note verloren. Nicht bloß das Seelische, auch das Biologische war vorbei. Die Glieder suchten nicht nach Schmutz, nach Unanständigem, nach dem Verbrechen. Die Glieder wussten vielmehr nicht mehr, wie ihnen zumute sei. Schwand dadurch indes auch die Kraft zu kaufen und zu vergleichen und zu bewerten, so blieb das nicht unbemerkt.
Ein Apparat rechnete Daten aus dem ratlosen Körper heraus und teilte sie mit. Diese Zahlen erschreckten die lebensmüden Biorestmengen und banden sie wieder ein ins digitale Universum und also ins Knopfloch. Der Körper, im Grunde, war eine Cloud-Lösung. Nein, eine sinnentleerte Gesellschaft war das nicht. Stattdessen eine Gesellschaft, die mit sich ins Reine und darüber hinaus ins vollständig Glatte gekommen war. Herumstehende Glieder: das gab es nicht mehr. Denn es waren Zahlen, die in der Luft lagen, und wer an Bushaltestellen und in Parks dennoch glaubte, ratlos herumstehenden Gliedern zu begegnen, der war noch in einer alten Welt gefangen. In jener Pasolinis und seiner Strichjungen von Rom. Zum Beispiel.
Bildung zu Zeiten des Neoliberalismus: Eine ganze Reihe von Institutionen sorgte dafür, dass die Welt komplex blieb und müde machte. Stiftungen, Konferenzen, Verbände. Unter klingenden Namen wie Bologna und Pisa stellte man Programme auf und testete. Wie Ameisen arbeiteten die Menschen sich ab und in Daten gingen sie auf. In Milliarden von Daten und Zahlen und Punkten. Verbände und Stiftungen aber bezahlten nicht nur die Professuren, bestimmt, die vorgeprägten Gehirne in Empfang zu nehmen, sie lieferten bereits für die Grundschulen das Lernmaterial und die Software. So bewegte sich die heranreifende Generation in einem geschlossenen Kreislauf. Gelockt und getrieben von Kreditpunkten. Jeder aber, der noch hätte lesen können, hätte gesehen, wie die Bildungsmaschine eingestellt war: Gehirnwäsche. 100 Grad.
In einem Telepolis.-Artikel lese ich: Industrie 4.0 sei unausweichlich. Es wird darüber gesprochen, als handle es sich um ein Naturereignis, mehr noch aber und um Religion. Es wird schon erst gar nicht versucht, dagegen anzudenken, es wird nur in der Fortsetzung gedacht, in eine Richtung. Und da kommt das Grundeinkommen. Die biologische Restmasse muss zufrieden gestellt sein, damit es nicht knallt. Damit es nicht knallt. Heißt es wortwörtlich im Artikel.
Die Lehrerin, die Süßigkeiten an die NATO-Soldaten senden ließ. Das ist nicht umstritten und das mögen die Linksliberalen und die Antideutschen. Und den, den sie Hitler nannten, ebenso.
Ich schreibe an einen Autor, der einen kritischen Artikel über Wikipedia geschrieben hat, ich schreibe: In Ihrem Beitrag über Wikipedia streichen Sie zu Recht die kafkaeske Dimension heraus. Allerdings scheint mir, dass diese Dimension nicht Teil eines Unvermögens per se sei, sondern System habe — eben wie bei Kafka. Dabei erweist es sich am Ende als System stützend, dass die Meta-Diskussion — nachzuprüfen zum Beispiel bei der von Ihnen herausgestellten Passage über die NachDenkSeiten — erkenntnistheoretisch im Grunde auf einem zuweilen fast als infantil zu bezeichnenden Niveau sich abspielt.
Für das System ist es ein Segen, dass solche „Menschen“ das Ganze, also dieses weltanschaulich zementierende Lexikon, in die Höhe stemmen. Brauchbare Realisatoren. Berichterstatter. Schnüffler. Hunde. Umsetzer jedenfalls ohne Selbstreflexion, ohne Standortkritik, ja ohne jedes erkenntnistheoretische Werkzeug überhaupt. Ein solches käme ja nicht nur hier in die Quere, auch beim effizienten Fluss des Kapitals stört es, bei der Aufrüstung und Militärübungen et cetera.
Wiki ist Teil einer Machtstruktur beziehungsweise einer wirkmächtigen Zeichenstruktur. Seine Denkbilder führen nahtlos ins Zentrum eines militärisch-industriellen Komplexes mit Zugriff auf Ressourcen und mediale Verbreitungskanäle weltweit. Dieser Komplex ist — auch da trifft Kafka — tatsächlich keine einfache beziehungsweise einfach fassbare Größe, sondern im Erscheinungsbild vernebelt wie ein Schloss und ohne letzte Instanz oder Stelle, von der Order abgingen.
Der Abgang von Befehlen ist sogar unsicher, zumindest kaum belegbar, und wird im Grunde allein durch die Ausführung derselben wahrscheinlich. Gleichwohl ist das Schloss oder eben dieser Machtkomplex real. Man kann Handlungen als Teil dieses Machtgefüges einlesen, erkennen, benennen und man sieht auch die Auswirkungen. Das bedeutet auf Wikipedia bezogen konkret: Es gibt keine Order an welchen Berichterstatter auch immer, die NDS so oder so zu besprechen.
Der Text über NDS (und Millionen andere Einträge) zeigt vielmehr: Muster sind internalisiert, bevor der Berichterstatter das Werk tut. Wiki ist Teil eines totalen Systems. Diesem System, exakt wie dem Schloss Kafkas, kommt die Totalität dadurch zu, dass Befehle der Zentrale antizipiert werden — wenngleich dadurch keineswegs gesagt wird, es gäbe Interessen und Haltungen, die hinter den Befehlen stünden, nicht. Im Gegenteil: Das Auftreten von zig Boten, Beamten, Auftraggebern et cetera spricht dafür, dass es sie gibt. Diese Form des Totalen und politisch Totalitären ist naturgemäß wirkmächtiger und unendlich schwieriger zu überwinden als Strukturen einer Ein-Mann-Diktatur. Ihr Wesen ist das Wuchern.
Die Berichterstatter sind Teil dieser Wucherung. Einverleibung. Übernahme. Ausradierung des Anderen. Es ist ein imperialistischer Akt, der naturgemäß in Bereichen ohne biologisch-physikalischen Korrelaten, in „geistigen“ Bereichen, viel umfassender und direkter vollzogen werden kann, verdeckt jedoch durchaus auch in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen funktioniert.
2021
Und wenn er nicht kommt, der Schlaf, stehe ich auf, inmitten der Nacht, und schalte eine Messe von Josquin Desprez oder ein Klagelied Jeremias‘ von Orlando di Lasso — ich gestehe - auf YouTube auf und das wird zuweilen unterbrochen von Werbung und der wahre Sinn von Werbung geht mir im Augenblick auf, da ich begreife: Wenn sie lächeln, so natürlich, und ihre Zähne zeigen und ihr Glück, diese Menschen wie du und ich, wenn sich alles so wundersam klärt und auflöst, wenn jede Erschwernis in ihren brutal schönen und brutal coolen und brutal linksgrünen Gesichtern und ihren brutal natürlichen Stimmen schwindet bei der Ankunft von Produkten und Dienstleistungen — so geht Ende 2021 Werbung noch immer und so wird es noch zu- und hergehen, wenn die Menschheit tot ist und irgendwo ein letztes Gerät inmitten einer Wüste aus digitalen Resthüllen endlos weiterstrahlt — wenn ich also begreife und erkenne, dass zur gleichen Zeit, da diese Menschen so brutal glücklich sind mit ihren Produkten und so brutal natürlich, andere, die den Mund öffnen, um zu denken und zu argumentieren und nicht einfach um ein Bonbon zu lutschen, entsorgt und stillgelegt werden.
Nicht wenige haben sich schon umgebracht. Diese Gleichzeitigkeit ist wichtig. In meinem Kopf fließen sodann die Werbevideos mit Bildern aus den KZs in Buchenwald und Auschwitz zusammen. Ich kann mich nicht wehren dagegen, ich sehe die Screens an den Wänden der Korridore hängen, durch welche die Schädlinge sich auf die Kammern zubewegen, sehe das natürliche Lachen und das natürliche Glück und die zerschmetternd natürlichen Fernsehstimmen auf die einstrahlen, welche ein paar Minuten später vergast werden, und ich kann mich ihr nicht entziehen: der zwingenden Logik dieses Zusammenspiels.
Es war einmal, 2019
I
es war einmal
hinter Birken
auf Gedenktafeln
in Reden
II
zwischen
Auschwitz
und Google
Formen
desselben
III
es war einmal.
hinter Birken
auf Gedenktafeln
in Reden.
es ist
1933 1935 1938 2022...
Keine Angst indes, es nimmt ab, die Endlösung greift, das Klima überlebt... wie es B. wohl geht? Wo liegt sie?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Der Schweizer Staatsrechtsprofessor Marcel Niggli hat sich im Vorfeld der Abstimmung über die Covid-Gesetze kritisch zu Wort gemeldet: moment-online.ch oder auch aargauerwoche.ch
(2) siehe Ingeborg Bachmann: Unter Mördern und Irren, herausgegeben im Erzählband „Das dreißigste Jahr“, 1961, siehe auch hier
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