Das Tucker-Interview mit Putin ersetzt gewissermaßen die nicht vorhandene Diplomatie zwischen den USA und Russland. Zwar gibt es immer noch das sogenannte Rote Telefon, das seit den Zeiten der Kubakrise im Jahre 1962 zwischen den Präsidenten der beiden Großmächte eingerichtet wurde. Doch Biden hat seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine das Rote Telefon nicht mehr benutzt, um den Konflikt zu entschärfen. Diese Nicht-Kommunikation fördert willentlich die Eskalation eines regionalen Konfliktes zu einem Weltenbrand. Das scheint im Raumschiff der US-Regierung in Washington wohlwollend einkalkuliert zu werden.
Doch immer mehr normale US-Bürger sehen nicht mehr ein, warum Milliarden von Dollars für Kriege in Ländern, die fast kein Amerikaner kennt, verpulvert werden. Und zuhause in der amerikanischen Provinz ist kein Geld für elementarste öffentliche Aufgaben da. Erziehung, Bildung, Kultur, Gesundheit, regionale Infrastruktur, alles verrottet.
Ein Gespräch mit dem Kriegsgegner Putin wäre eine gute Idee, um Geldmittel für die Reparatur der USA politisch durchsetzen zu können.
Und nun nähert sich auch noch die Präsidentenwahl im nächsten November. Auch die beiden Häuser des Washingtoner Kongresses werden mit neuen Parlamentariern besetzt. Da ist es hochexplosiv, wenn ein beliebter Fernsehmoderator in das Geschehen eingreift und die Narrative der Kriegsregierung mit den Auffassungen des Feindes konfrontiert.
Das ist Sprengstoff in den Händen der Opposition. Ich will die Frontstellung so charakterisieren: Auf der einen Seite stehen die „Bidenisten“. Die Demokratische Partei mit ihrem senilen Präsidenten Joe Biden. Ihre Strategie zur Erhaltung der US-Vorherrschaft in der Welt besteht darin, Russland soweit zu schwächen, dass es womöglich in viele Einzelstaaten zerfällt. Dem stehen die „Trumpisten“ gegenüber. Die Trumpisten wollen die Weltherrschaft der USA sichern, indem sie das konservativ-christliche Russland auf ihre Seite ziehen wollen, um sich dann ganz auf den Krieg gegen das als kommunistisch wahrgenommene China konzentrieren zu können.
Auch Tucker Carlson ist in diesem Sinne ein „Trumpist“. Es gibt noch andere unabhängige Kanäle in den USA wie zum Beispiel Redacted. Sie sind wie frühere neokonservative Medien auch in ihrer Ausrichtung christlich-konservativ und strikt antikommunistisch. Außerdem lassen sie alle eine Nähe zur Ölindustrie erkennen. Sie sind aber im Gegensatz zu früheren konservativen Medien weniger ideologisch und sehr viel pragmatischer eingestellt. Es geht jetzt nicht um einen christlich-endzeitlichen Glauben, sondern um ganz konkrete Probleme der ordinary people, draußen im Lande. Diese Sendeformate werden immer beliebter und haben zum Teil die gängigen, meistens privaten, Mainstream-Formate überholt. Denn sie müssen keine bestimmte Agenda durchpeitschen und müssen kein Blatt vor den Mund nehmen.
Die unabhängige Medienszene ist zu Tucker Carlson gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Denn Carlson hat jahrelang als Moderator bei den führenden Mainstream-Sendern CNN und Fox News gearbeitet. Im April 2023 allerdings wagte es Carlson, öffentlich die Finanzkrake BlackRock zu kritisieren. Dummerweise war BlackRock kurz vorher als Teilhaber bei Fox News eingestiegen. Fox News wurde von BlackRock genötigt, sich von seinem Star-Moderator und Quotenbringer Carlson zu trennen. Da machte Carlson seinen eigenen Sender auf und jagt als Alleinunterhalter den Mainstream-Medien jede Menge Quoten ab.
Und so ist niemand in den USA augenblicklich geeigneter, als Volkstribun eine Art Parallelpolitik zu betreiben und sich mit Putin zusammenzusetzen. Es liegt in Carlsons Hand, einen möglichen nuklearen Weltenbrand zu verhindern, indem er massiv auf die Meinungsbildung in den USA, kurz vor den Wahlen, Einfluss nimmt.
Überall auf der Welt wissen die „einfachen“ Leute, dass sich die Kräfteverhältnisse auf dieser Welt in den letzten Jahren massiv verändert haben. Nur den US-Bürgern und den Briten wird diese Wahrheit vorenthalten. So sagt es Carlson in seinem Ankündigungsvideo in Moskau. Und die Warnung der US-Regierung vor diesem landesverräterischen Interview mit dem Feind hat natürlich ein enormes Interesse erregt. Nach dem Motto: Verbotene Früchte schmecken am besten.
Das Interview
Es gibt gewisse Regeln für ein erfolgreiches Interview. Es soll natürlich nackte Fakten vermitteln. Da das aber zu dröge ist, muss es spannend sein, wie Frager und Antwortender menschlich miteinander können. Und neben informativ wertvollen Fragen muss man auch weniger wichtige Fragen stellen, um den Spannungsbogen zu halten.
So. Und hier ist gleich der Super-GAU eines Interviewers passiert. Denn Putin reißt die Sache für die erste halbe Stunde des insgesamt zwei Stunden währenden Interviews an sich. Er hält einen drögen Vortrag über die Geschichte der ukrainisch-russischen Beziehungen — und das seit dem Jahr 800, wenigstens nach Christus. Also muss Carlson das Interview im Nachhinein anmoderieren und sich quasi für dieses Impulsreferat bei seinen Zuschauern entschuldigen. Er hatte den Verdacht, so sagt er, dass Putin Zeit schinden wollte. Sie kennen das alle: Sie fragen bei einer öffentlichen Veranstaltung einen Politiker etwas. Der antwortet: „Das war eine gute Frage!“ Um Sie und das ganze Publikum mit irgendeinem anderen Thema einzuschläfern.
Es gibt in den US-amerikanischen Parlamenten die eklige Unsitte des Filibusterns. Ein Redner darf im Kongress so lange über ein Thema schwafeln, wie er möchte. Manche Redner haben mehrere Tage geschwafelt. Und das strittige Thema war begraben. Darauf spielt Carlson hier an. Um dann zu sagen, dass Putins Exkurs in die Geschichte durchaus — im Nachhinein betrachtet — gerechtfertigt war.
Und nun geht es los. Wir sehen Putin und Carlson auf Barockstühlen in einem historischen Saal des Moskauer Kremls sitzen. Carlson braun gebrannt im vollen Saft der mittleren Lebensjahre. Putin dagegen wirkt erschöpft, ein bisschen resigniert. Er hat die Stimme eines alten Mannes, während das Gesicht erstaunlich faltenfrei ist. Die beiden Männer, das zur menschelnden Konstellation, mögen sich. Aber es kommt trotzdem nicht jener spritzige intellektuelle Austausch zustande, den man aus anderen Zusammenhängen von Putins Gesprächen gewohnt ist. Der Esprit ist heute zuhause geblieben. Carlsons Mimik, sicher vorher genau überlegt, wechselt zwischen skeptischem Brauen-Hochziehen und mildem Lächeln.
Putin ist ein Asket, der sein Privatleben mit Ehefrau und den zwei Töchtern im Jahre 2013 aufgegeben hat. Putin ist mit Russland verheiratet. Diese Melancholie ist im Interview deutlich zu spüren.
Also beginnt Putin ungebeten mit seinem Vortrag über die komplexen Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen. Das ist in der Tat eine hochkomplexe Geschichte. Wenn man die nicht kennt, kann man nicht wirklich verstehen, was die russischen Streitkräfte eigentlich in der Ukraine sollen. In den Reichen von Kiew und Nowgorod gab es nur ein russisches Volk. Brüche kamen dann durch den Mongolensturm. Das Territorium der Ukraine wechselte immer wieder den Besitzer. Nichtsdestoweniger fühlten sich neunzig Prozent der Menschen dort als Russen. Auch in der Sowjetunion wurde die ethnische und kulturelle Identität der Völker respektiert und gepflegt. Der Auftritt von knallharten Nazis an der Seite Hitlers hat eine Brutalisierung eingebracht, die wesentlich zum heutigen Dilemma beigetragen hat, sagt Putin. Nach dem Maidan-Putsch ist es nunmehr unvermeidlich geworden, den Krieg so lange weiterzuführen, bis die Nazi-Organisationen zerschlagen sind.
Carlsons Gesicht wird immer länger. Putin: „Ja, ich habe Sie doch am Anfang gefragt, ob Sie eine Talkshow haben wollen oder ein ernsthaftes Gespräch?“ Nun geht es um die amerikanisch-russischen Beziehungen.
Putin betont, dass er im Gespräch mit dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton diesem durchaus angeboten hat, mit dem Westblock zusammen ein gemeinsames Bündnis zu schmieden, im Interesse des Weltfriedens. Das sei aber nicht zustande gekommen. Er habe sich sogar mit George Bush dem Älteren getroffen, um über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zu verhandeln. Daraus ist nichts geworden, wie wir alle wissen.
Und überhaupt sei George Bush der Jüngere gar nicht so blöd, wie alle immer glauben. Er selber sei hervorragend mit ihm klargekommen. Eine solche Konstellation hätte ja hervorragend den Vorstellungen der Trumpisten entsprochen, denke ich mir. Gott sei Dank, so kann man einwerfen, ist daraus nichts geworden. Denn Russland, der NATO-Block und die USA geeint gegen den Rest der Welt, das wäre letzterer wohl schlecht bekommen.
Man sieht, Putin ist kein Hardliner. Er ist immer noch Diplomat und möchte am liebsten einfach nur Frieden mit dem Westen. So ist er gezwungen, zum Helden der unterworfenen ehemaligen kolonialen Völker aufzusteigen und an der Seite Chinas an einer neuen Weltordnung zu bauen.
Da ist zum Beispiel die gescheiterte Friedensvereinbarung in Istanbul. Es hat drei Verhandlungsrunden gegeben, an deren Ende ein fertiger Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine gestanden hat. „Der Krieg hätte vor sechzehn Monaten schon zu Ende sein können!“, sagt Putin. Doch da kam dann der damalige britische Regierungschef Boris Johnson und setzte Selenskyj unter Druck, nicht zu unterschreiben, letzter Hand wahrscheinlich auf Veranlassung Washingtons.
Wer bestimmt eigentlich die Politik in den USA? Der Präsident ja offenkundig nicht. Es gibt sogar mal eine kleine Anspielung auf die Demenz des amtierenden Präsidenten Biden. Nein, so Putins Diagnose, es sind andere Kräfte hinter dem Weißen Haus und dem Capitol. Und immer wieder kommt Putin auf die CIA zu sprechen. Irgendwie möchte Putin auch hier nicht so richtig an die wirklichen Drahtzieher aus dem militärisch-industriellen Komplex und der Finanzwelt heran. Er ist eben diplomatisch, wie immer. Was dann doch enttäuscht. Er möchte doch nicht so richtig ran an den heißen Brei und hofft immer noch, diese Kreise nicht für alle Zeiten zu vergrämen.
Und Tucker Carlson möchte Putin gerne das Stichwort geben, dass er nicht andere Länder angreifen will. Nein, so Putin, was soll er denn in Polen? Wir schlagen nur zu, wenn die Polen uns angreifen. Und was ist mit der Sprengung von Nordstream, dem größten Terrorismus-Akt im Energiesektor und die größte CO2-Emission in der Geschichte? Jetzt wird es sogar mal witzig. Putin zu Carlson: „Waren Sie das?“ Carlson: „Nee, zu der Zeit war ich woanders.“ Großes Gelächter. Putin: „Im Gegensatz zu Ihnen kann die CIA kein Alibi vorweisen!“
Warum machen die Deutschen nichts? Eine Gasleitung von Nordstream könnten wir Russen wieder aktivieren. Eine weitere Pipeline geht durch Polen. Deutschland ist durch die EU der größte Sponsor Polens. Aber es geht kein Gas mehr durch Polen. Und auch auf die Ukraine könnten die Deutschen Druck ausüben, die Pipelines wieder freizumachen. Schließlich bezahlen die Deutschen die ukrainische Rüstung.
Spannend ist der Abschnitt, in dem es um den neuen Block BRICS geht. Wieder betont Putin seinen Wunsch nach Harmonie. Ja, es gibt zwei große Machtblöcke, und BRICS hat G7 überholt. Aber das menschliche Gehirn hat zwei Hälften, die zusammenwirken. Es ist schlimm, wenn die beiden Machtblöcke gegeneinander arbeiten. Putin führt eine ganze Reihe wirklich sehr interessanter Statistiken auf, die den Aufstieg des BRICS-Blocks belegen. Und hier wird auch das Potential dieses Gespräches für die Zuschauer in den USA deutlich.
Wenn die USA nichts unternehmen, um ihre Infrastruktur in Ordnung zu bringen, werden sie weiter ins Hintertreffen geraten. Das passt jetzt gut in die Stimmung in den USA. Ja, und was tun die USA, um dieser Situation zu begegnen? „Gewalt, Gewalt und nochmal Gewalt!“, so Putin.
Leider meint Carlson, jetzt das Thema wechseln zu müssen. Sicher nicht aus Gründen der Selbstzensur. Er möchte einfach möglichst viele Zuschauergruppen bedienen. Also werden noch religiöse Fragen angeschnitten. Dabei enttäuscht Putin seinen amerikanischen Gast: „Nein, ich glaube nicht, dass eine höhere Macht unsere Politik lenkt. Da gibt es recht viele irdische Faktoren.“ Dann noch einen Fragenblock zu künstlicher Intelligenz und zum ersten Weltpolitiker ohne Staat, nämlich Elon Musk, dessen Privatvermögen aktuell bereits so hoch ist wie der Jahresetat mancher Staaten.
Carlson will jetzt noch einen Gefangenen in Russland freisetzen lassen. Der Korrespondent der Financial Times, Evan Gershkovich wird in Russland gefangen gehalten als vermeintlicher US-Spion. Ob Putin den mal eben freilassen kann? Putin stöhnt genervt, windet sich: „Das ist eine Sache der Geheimdienste. Wenn es einen Gefangenenaustausch geben soll, dann werden die sich darum kümmern.“ Wieder will Putin nicht wirklich anecken bei seinen westlichen „Partnern“, wie er den Westen vor dem Ukrainekrieg nicht müde wurde zu titulieren. Wir alle wären sehr dankbar gewesen, wenn er jetzt mal das Schicksal von Julian Assange angebracht hätte. Hat er aber nicht, und das ist schlimm, weil Assange demnächst in die USA ausgeliefert werden soll.
Doch Melodie und Rhythmus sind nach nunmehr einhundert Minuten Interview raus. Noch ein bisschen Geplänkel über den Ukrainekrieg, bis Putin genervt sagt: „So nun ist aber gut. Das Gespräch ist doch wohl jetzt zu Ende, oder?!“ Carlson: „Großartig. Vielen Dank!“
Schlussfolgerung
Trotz allem: Dass das Gespräch stattgefunden hat, und dass die Übertragung bei so vielen Klicks nicht zusammengebrochen ist, das ist schon ein großer Erfolg. Die „einfachen“ Bürger der USA können sich jetzt endlich bei Putin direkt über seine Sicht der Dinge informieren.
Dieses Interview kann zu einem Gamechanger avancieren. Es kann die zunehmende Kriegsmüdigkeit und Verdrossenheit über die Verrottung der amerikanischen Infrastruktur in sinnvolle friedliche Kanäle lenken.
Es gibt im November leider nur die Alternative: Bidenisten oder Trumpisten. Der Sieg der Trumpisten bedeutet mitnichten eine Aufgabe der hegemonialen Ansprüche der USA. Aber die Aussichten, dass der Krieg gegen Russland von europäischem Boden aus seinen Anfang nimmt, ist zumindest deutlich verringert. Sicherheit und Wohlstand kann es letztendlich auf diesem Globus nur geben, wenn die Amerikaner ihren Anspruch auf Weltherrschaft endgültig aufgeben.
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