„Meine Kollegin hatte einen sauerstoffpflichtigen Patienten zur Radiologie gebracht. Nach der Untersuchung musste der Patient drei Stunden warten, bis er abgeholt wurde. Er verstarb unbemerkt. An Sauerstoffmangel. Es war kein Personal anwesend, das bemerkt hätte, dass seine Sauerstoffflasche leergelaufen war.“
Der Auftritt des jungen Mannes am Rednerpult der gut gefüllten Kirche ist kurz, aber seine Geschichte bleibt hängen. Nur einer von vielen Fällen, die dokumentieren, wie kaputt, wie krank das deutsche Gesundheitssystem ist. Endlich einmal wird eine Kirche genutzt, um die Gesellschaft wachzurütteln, statt erfundene Götter um Beistand zu bitten, den sie nicht liefern können. Es liegt an uns Menschen, unsere Probleme zu lösen.
Jonas Alters Filmdoku „Höchstens vier Wochen — Die Geschichte des größten Streiks im deutschen Gesundheitssystem“ begleitet die Streikenden der sechs Unikliniken Nordrhein-Westfalens während ihres 77 Tage langen, basisdemokratisch organisierten Kampfs für akzeptable Arbeitsbedingungen. Die Massenmedien ignorieren den Streik so gut sie können. Gesundheit ist offenbar nicht sexy. Zudem kratzt das Thema an der schönen neuen Welt des Neoliberalismus, dem sich Politik und Medien vollständig verschrieben haben. Womöglich sind die Medien auch zu sehr damit beschäftigt, den Menschen die Prioritäten dieses Systems und seiner Lakaien in der Regierung schmackhaft zu machen: „Waffen, Waffen und nochmals Waffen“ (1).
„Mehr von uns ist besser für alle!“
Die Parole „Mehr von uns ist besser für alle!“ zeigt, dass es den Arbeitern nicht wie so oft bei Arbeitskämpfen um mehr Geld geht — obgleich auch das ein mehr als legitimes Anliegen wäre —, denn sonst hieße es „Mehr für uns (…)“. Es geht schlicht um mehr Personal. Personal, um die täglich nötige Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wie der Name Krankenhaus vermuten ließe. In seinem kürzlich erschienen Buch „Würde“ (2) erinnert Gerald Hüther daran, dass es bis Mitte der 1980er-Jahre in der BRD gesetzlich verboten war, „in Krankenhäusern Gewinne zu machen“.
Spätestens seit die Bundesregierung 2004 unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) mit tatkräftiger Beihilfe Karl Lauterbachs ein neues Finanzierungsmodell eingeführt hat, das DRG-System (DRG steht für „diagnosebezogene Fallgruppen“), sind die Kliniken quasi Profitcenter und folglich chronisch unterbesetzt. Seitdem geht es nicht mehr um die Gesundheit der Patienten, sondern um lukrative Behandlungen.
Kurz: Personalabbau, denn Personal kostet. Dafür Operationen um jeden Preis. Die bringen Geld. „Bei Patienten, die längerer Zuwendung bedürfen, aber dem Betreiber kein Geld einbringen, wenn eine vereinbarte Operation abgeschlossen ist, kommt es oft zur sogenannten blutigen Entlassung“, schreibt Hüther.
„Die Wunde ist noch nicht verheilt, aber das Krankenzimmer schon an den Nächsten verkauft. Die Ärzte und das Pflegepersonal wissen, wie sehr die Würde aller unter einer Behandlung mit der Stoppuhr leidet.“
Inhalte statt Effekte
Der Film ergreift klar Partei für die Streikenden. Und das ist gut so. Denn das ist die Aufgabe von Journalismus: gesellschaftliche Schattenseiten beleuchten, die Verantwortlichen benennen und den Menschen zeigen, dass sie Probleme lösen können, wenn sie sich zusammentun. Ein großes Lob an den blutjungen Regisseur Jonas Alter, der bis dato ausschließlich YouTube-Videos (3) drehte.
Seine 60-minütige Doku ist ein sehr intensiver Film, der sich nie in dekorativen Bildern verliert. Und wenn die Streikenden durch die Straßen ziehen oder vor den Kliniken pfeifen und Parolen rufen, dann um die Wut dieser Menschen zu zeigen, aber auch die große Solidarität untereinander.
Diese Doku ist eine fantastische Leistung, die dem mutigen und beharrlichen Einsatz der Streikenden ebenbürtig ist. Hier geht es um Inhalte, nicht um Effekte. Um ein Anliegen, das letztlich alle betrifft, auch wenn sich niemand dafür interessiert, bis er selbst im Krankenhaus liegt.
Drei beteiligte Menschen aus der Pflege kommen im Film verstärkt zu Wort: Kira, 27, Dominik, 31, und Carola, 51. Allesamt beherzte, kluge und reflektierte Menschen, die einen extremen Kontrast bilden zu den durch und durch biederen Politikern und Funktionären, die mit ihrer Ignoranz, Anmaßung und ihrem unerschütterlichen Glauben, alles lasse sich mit Geld bewerten, die Gesellschaft in den Abgrund reißen.
Es muss einiges schieflaufen, und das sehr lange, bis sich Menschen, die ihre Arbeit lieben, zu einem solchen Schritt entschließen, dessen Erfolg nicht absehbar ist. Wie erwartet ist die andere Seite, die der Profitmacher, sehr lange nicht verhandlungsbereit. Vielleicht denken sie an Maggie Thatcher, die Ikone des Profitdenkens und Privatisierens, die Mitte der 1980er durch ihr Aussitzen die Bergarbeitergewerkschaft zerstört hat. Doch womöglich haben sich die Profitmaximierer diesmal selbst ins Bein geschossen. Denn der Streik bedeutet für die Unikliniken weniger belegte Betten und damit weniger Einnahmen. It’s the money, stupid!
Elf Wochen Standhaftigkeit
Elf Wochen währt der Streik, auch weil die Streikenden beschlossen haben, alle Beschäftigten an der Uniklinik miteinzubeziehen. Sie fordern einen Tarifvertrag Entlastung (TVE). Einzelne Bereiche hatten bereits früher Angebote der Gegenseite erhalten, aber andere eben gar nicht.
„Aber genau deshalb machen wir das alle zusammen, weil wir für alle zusammen ein Ergebnis haben wollen“, sagt Kira.
Die Stimmung bei den Streikenden, auch das dokumentiert der Film, geht rauf und runter. So beschwingend das Gemeinschaftsgefühl auch sein kann: Die Entscheidung der Bonner Uniklinik-Leitung, mit einer einstweiligen Verfügung vor Gericht zu gehen, kann alles zerstören. Und noch einmal später, als das nordrhein-westfälische Landesparlament verhandelt. Ohne die Zusage der Politik, für die Finanzierung des TVE aufzukommen, wäre das Verhandlungsergebnis gescheitert. Bei der anschließenden Abstimmung unterstützen alle im Landtag vertretenen Parteien die gesetzliche Grundlage des TVE — mit Ausnahme der FDP, dieser unheilbar neoliberalen Sekte, die ein Recht auf Ausbeutung gerne im Grundgesetz verankern würde.
Das Schlusswort gehört dieser wunderbaren Krankenschwester Carola, die bei aller Freude über das Ergebnis realistisch bleibt:
„Die Unikliniken sind der kleinste Teil der Krankenhäuser in Deutschland. Der größte Teil ist kommunal und kirchlich. Da muss sich auch was tun. Karl Lauterbach ist derjenige, der diese DRGs mit ins Leben gerufen hat, der dafür mitverantwortlich ist, dass dieses System seit 20 Jahren so ist, wie es ist. Und solange es auf dieser Ebene kein Einsehen gibt, weil der Druck von unten, von der Bevölkerung fehlt, sind wir immer noch beim ersten Schritt.“
Mehr Menschen wie Carola und ihre Mitstreikenden wären wirklich besser für uns alle. Danke, Jonas. Danke, ihr Streikenden!
Die Geschichte des größten Streiks im Deutschen Gesundheitssystem - Höchstens Vier Wochen (Doku)
Quellen und Anmerkungen:
(1) Anton Hofreiter alias „Panzer-Toni“, Chefwaffennarr der olivgrünen Partei im ZDF zum Thema „Wie kann Deutschland der Ukraine helfen?“
(2) Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht — als Einzelne und als Gesellschaft, München, 2022
(3) Auch ein Making-Off/Erfahrungsbericht des Regisseurs gibt es auf YouTube: 77 Tage Streik an den Unikliniken — Ich war dabei! https://www.youtube.com/watch?v=7j5KTcmp79w
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