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Ein bisschen „bekloppt“

Ein bisschen „bekloppt“

In der Psychiatrie geht es vielfach überraschend normal zu. Ob man sich dort wohlfühlt, hängt wohl eher davon ab, welche Alternativen man „draußen“ hat.

Es schreibt jemand, der die Psychiatrie von innen kennt. Ja, auch die geschlossene Abteilung. Der Artikel will ein bisschen was zur Aufklärung beitragen, weil diese zwei Worte „psychisch krank“ immer wieder benutzt werden im öffentlichen Raum.

Zunächst einmal ist absehbar, dass die Degradierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, wie heute noch so geläufig, nicht mehr alltagsfähig sein wird in Zukunft. Denn die Seelen so vieler junger Menschen von heute haben bereits derartig gelitten, leider, dass eine Behandlung notwendig wurde, so dass das Stigma „psychisch krank“ seine Macht verlieren wird. Weil es einfach zu viele Biographien betrifft.

Bis diese Menschen erwachsen sind und den Umgang mit diesem Thema maßgeblich mitbestimmen, für all die, die heute über „Klapsen“ reden, ein paar Informationen.

Wie sieht es eigentlich in so einer psychiatrischen Klinik aus? Nun ja, im Grunde weiß jeder, der schon mal ein Krankenhaus betreten hat, wie eine Psychiatrie aussieht. Es gibt einen Eingangs- und Empfangsbereich, wo das Versichertenkärtchen unter Umständen gebraucht wird, mehrere Abteilungen, lange Gänge mit vielen Zimmern, diverse Wartebereiche und Aufenthaltsgelegenheiten, zum Teil auch um das Gebäude herum. Auch die Beleuchtung ist wie in einem Krankenhaus, Leuchtstoffröhren, das medizinische Personal ist wie gewöhnlich an seiner Arbeitskleidung erkennbar.

Als ich in depressiver Phase mal am Fensterbrett im 5. Stock sitzend aus gefühlt heiterem Himmel eine attraktive Sogwirkung der unter mir befindlichen asphaltierten Straße spürte, rief ich mir nach einem Telefonat mit dem Sorgentelefon doch lieber mal einen Krankenwagen und ließ mich abholen.

Als mich der aufnehmende Arzt fragte, ob ich in die geschlossene Abteilung oder in den offenen Bereich wolle, entschied ich mich — zu meinem Schutz — für die geschlossene Abteilung. War auch gut so. Man hatte mir zwar den Gürtel abgenommen, aber die an den Schuhen verbliebenen Schnürsenkel übten einige Zeit später eine ähnliche Sogwirkung aus wie zuvor die unter mir liegende Straße. In der offenen Abteilung hätte ich nicht unter Dauerbeobachtung gestanden, also: richtige Entscheidung.

Weil auch an mir die Vorstellung, dass in geschlossenen Abteilungen „nur Verrückte“ rumlaufen, nicht gänzlich vorbeigegangen ist, behielt ich meine Mitpatienten etwas anders im Auge, als ich das bei einem Beinbruch getan hätte.

Die allermeisten waren komplett unauffällig in ihrer Erscheinung und ihrem Verhalten, nur ab und zu merkte man, dass jemand unter dem Einfluss von sedierenden Mitteln steht. Ansonsten: krankenhausübliche Beschäftigungen wie im Bett liegen, lesen, rätseln, warten auf Visite, reden, rauchen.

Für das Rauchen musste man selbstverständlich raus, und das geht in einer geschlossenen Abteilung ganz einfach. Man sagt jemandem vom pflegenden Personal Bescheid, dass man kurz raus rauchen geht, dann wird die Verriegelung geöffnet und gut ist. Nur mal so als Gegenbild zur Vorstellung der Gesellschaft, dass man in der Klapse vor allem irgendwelche bewegungseinschränkenden Jacken trägt, in Zimmern mit Gummiwänden sein Dasein fristet und dieses nicht verlassen darf.

Ja, natürlich habe ich auch mal gesehen, wie jemand „eingeliefert“ wird, auf der Bahre fixiert, ist ja auch ein Krankenhaus, und da kommt eben nicht jeder auf den eigenen zwei Beinen reinspaziert.

Schön ist die geschlossene Abteilung sicherlich nicht. Sie besitzt keine der seelischen Gesundheit dienende Atmosphäre, aber sie ist ein sicherer Ort insofern, als darauf geachtet wird, dass nichts Schlimmes passiert. Eine der seelischen Gesundheit dienende Atmosphäre wäre unter Umständen auch abträglich, weil sonst einige die Abteilung nicht mehr verlassen wollen würden.

Kann sich Otto Normalverbraucher mit seinen eigenen ignorierten seelischen Verletzungen gar nicht vorstellen, dass es Menschen geben kann, die aus der Psychiatrie gar nicht herauswollen. Ist aber so. Wie gesagt, vielleicht nicht unbedingt bei der geschlossenen Abteilung, die wegen der sicherheitsrelevanten Einrichtung den Charme einer sauberen öffentlichen Toilette besitzt.

Aber in den offenen Abteilungen ist es durchaus so, dass Patienten von gehässigen und kalten Mitmenschen und den gesellschaftlichen Anforderungen an den Einzelnen — wie etwa: „Arbeite hart, sonst bist du nichts wert“ — eine derartig erholsame Pause erhalten, dass sie die Klinik nicht mehr verlassen möchten.

In den offenen Abteilungen findet sich übrigens die depressiv verstimmte, einsame 74-jährige Nachbarin, bei der die ambulant verschriebenen Anti-Depressiva eine Verschlechterung ausgelöst haben. Oder der alkoholkranke Arbeitskollege, der volltrunken mit Gedächtnisverlust bei Eiseskälte im Bahnhofsviertel entdeckt wurde. Oder die Studentin, die nach der Party berauscht und völlig glücklich überzeugt ist, dass sie fliegen könnte, wenn man es sie nur ausprobieren ließe.

Viele von den Mitmenschen sind nur für ein paar Tage da. Andere für ein paar Wochen und machen dort therapeutisches Programm mit (in der Gruppe, einzeln, im Bastelraum, in der Sporthalle). Dazu gibt es — wie in den meisten Krankenhäusern — eher fades als gutes Essen, auf den gleichen Tabletts, aus den gleichen Essenwägen ausgeteilt. Gegessen wird allerdings weniger auf dem Zimmer, weil die meisten Patienten mobil sind, sondern im Gemeinschaftsraum. Aber ja, die Messer in der geschlossenen Abteilung sind nicht scharf und auch nicht spitz, aber das sind sie, wer ganz aufmerksam ist, auch in anderen Krankenhäusern nicht.

Der vielleicht überraschendste Einblick in die Psychiatrie ist, man kann mit fast allen, fast die ganze Zeit, ganz normal kommunizieren. Es gibt die üblichen Sympathien und Antipathien, wie auf einer großen Familienfeier, aber man teilt sich halt im schlimmsten Falle ein Zimmer und reißt sich deswegen am Riemen. Man schließt Bekanntschaften für die Zeit des Aufenthalts, manchmal auch Freundschaften darüber hinaus. Wenn Zeit dafür ist, verliebt sich auch jemand in einen Mitpatienten. Man entwickelt Vorlieben für bestimmtes Pflegepersonal — und erlebt aus deren Machtposition heraus auch mal alltagsübliche Übergriffigkeiten wie „draußen“.

Die Ärzte („Lass mich Arzt, ich bin durch!“ — ein Psychiatriewitz) sind wie in anderen Krankenhäusern Halbgötter in Weiß, ziemlich gestresst, aber durchaus bemüht, und sie zu treffen ist stets der Höhepunkt im Alltag eines Patienten, auch weil der ziemlich langweilig sein kann.

Wie eingangs erwähnt, finden die Worte „psychisch krank“ öffentlich immer wieder Verwendung. Wenn ich den Kontext typisiere und betrachte, lässt sich zweierlei vermuten.

Sollte ich innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre in irgendeiner Form auffällig werden, dann werden meine Krankenhausaufenthalte von vor ein paar Jahren bemüht werden, um mich von der Gesamtgesellschaft abzugrenzen: „Eine von denen.“

Sollte ich später erst auffällig werden, dann sind die Kinder und Jugendlichen, die zu großem Hauf in ihrem Leben schon mal gefühlt haben wie ich oder die anderen, bereits erwachsen und werden mich wegen meiner Krankenhausaufenthalte nicht zum Abschaum der Gesellschaft erklären. Wer weiß, vielleicht werden sie noch die „Weltherrschaft“ an sich reißen können, weil sie zu denen gehören, die nachweisen können, dass sie etwas für ihre seelische Gesundheit getan haben.

Aber wer weiß, vielleicht sehen ja auch alle einfach ein, dass man nach Corona nicht seelisch gesund sein kann, und es wird bald für höchstbedenklich gehalten, wenn sich jemand noch ernsthaft dafür hält.


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