Hatten Sie je den Wunsch, Sie könnten sich selbst als Kind begegnen, Ihr kindliches Ich in seiner oft trostlosen Unausgereiftheit trösten und ihm in Schlüsselsituationen den richtigen Weg weisen? Und umgekehrt: Sehnten Sie sich im verworrenen Lebensvollzug schon einmal nach dem Rat Ihres älteren, reiferen Ich, das durch „all das“ schon hindurchgegangen ist? Dem siebenjährigen, namenlosen Mädchen in Birgit Vanderbekes Jugendroman „Ich freue mich, dass ich geboren bin“ passiert Letzteres . In schlimmer seelischer Anfechtung hört sie in ihrem Kopf auf einmal die tiefe Stimme ihres Erwachsenenichs. Später, im Fortsetzungsroman „Wer dann noch lachen kann“, können wir diese merkwürdige Beziehung zwischen Ich und Ich dann auch aus der Perspektive der Erwachsenen verfolgen. Das ergibt faszinierende Wechselwirkungen zwischen den Erzählebenen. Die Zukunft wirkt auf die Vergangenheit ein, und umgekehrt – wie in „Star Trek“, wenn es um Zeitparadoxien geht, nur dass statt eines Raumschiffs das äußerlich und psychisch versehrte Nachkriegsdeutschland als Schauplatz dient.
„Ich freue mich, dass ich geboren bin“ – was sich anhört wie ein harmloses Kinderlied von Rolf Zuckowski, ist starker Tobak, ein Schicksal, das an die Nieren geht. Das Mädchen ist mit seinen Eltern aus dem Osten nach dem Krieg ins „Land der Verheißung“ ausgewandert, sprich in diese unsere Bundesrepublik. Nach Aufenthalt im Flüchtlingslager bezieht die kleine Familie ihr Domizil in einer westdeutschen Stadt. Die Nöte des Mädchens sind universell. Sie könnten auch Kindern von heute bekannt vorkommen, nur dass sie bei der Protagonistin sehr gebündelt auftreten. Ungefragt in eine ganz ungemäße Situation namens „Leben“ geworfen, ist sie von Anfang an gezwungen, mit dem Sinn ihrer Existenz zu hadern. „Mein Vater hatte sicherlich von gar keinem Kind geträumt und dann unversehens doch eins bekommen, weil meine Mutter von einem Kind geträumt hatte, allerdings nicht von so einem, wie ich dann eines geworden bin, sondern von einem ganz anderen.“
Von Beginn an wird man als Leser so in die traurige Geschichte eines Mädchens hineingezogen, das im Grund niemand so richtig gewollt hat.
„[…] [A]ber es wäre im Grunde besser für alle gewesen, wenn es mich nicht gegeben hätte.“ Die Protagonistin sehnt sich nach ganz einfachen Dingen und bekommt sie nicht. Zum Beispiel schlicht danach, mit jemandem reden zu können. „Im Grunde glaubten sie beide [meine Eltern], jeder auf seine eigene Weise, dass sie mir nicht zuzuhören brauchten, weil sie sehr viel besser wüssten, wovon ich träumte. Viel besser als ich selbst. Aber das stimmte nicht.“
Raffinierterweise nimmt Birgit Vanderbeke im gesamten Buch auch sprachlich die Kinderperspektive ein. Es klingt streckenweise wie das noch ungelenke, aber spontane Vor-sich-hin-Plappern eines Kindes, dessen Herz überfließt, dem aber die passenden Worte teilweise noch nicht zur Verfügung stehen. Es ist Vanderbekes erzählerischer Geniestreich: Gerade die „falsche“ Ausdrucksweise des Kindes tut Wahrheit kund. Das ist von der Autorin äußerst liebevoll, charmant und mit einem Augenzwinkern gestaltet. „Die weitaus meisten Leute, die ich bisher kannte, kamen aus Büchern.“
Ungeheuer erhellend auch, weil die scheinbaren Selbstverständlichkeiten des Erwachsenenlebens durch den Kindermund verfremdet erscheinen, so dass die ihnen innewohnende Absurdität offengelegt wird. So vor allem, wenn es um die für eine Siebenjährige nicht begreiflichen Vorgänge rund um Sexualität und Geburt geht. Was ist z.B. so schlimm daran, dass eine Bekannte in Flüchtlingslager, genannt „Tante Eka“, mit gleich zwei Männern zusammenlebt? Und stimmt es wirklich, was die Eltern über die Geburt Jesu erzählen – dass der Heilige Geist nämlich die Seele des Erlösers wie eine Kaulquappe aus einem transzendenten Teich gefischt und auf rätselhafte Weise in den Bauch der Jungfrau Maria verpflanzt hat?
Die Welt der Erwachsenen ist für ein Kind voller Rätsel, teilweise aber auch nur deshalb, weil diese sich aus Verklemmtheit um klare Aussagen herumdrückt. Später wird das Mädchen da skeptischer, es lernt den Aussagen der Eltern mit gesundem Misstrauen zu begegnen: „Im Grunde konnte man gar nichts wissen.“ Warum z.B. war es dem Mädchen im Flüchtlingslager verboten, von dem viel besseren Essen der rumänischen und bulgarischen Frauen zu naschen, das köstlich nach fremden Gewürzen roch. Der Mutter zufolge nur, „weil es keine Deutsche waren“. Und „so, wie sie nach Knoblauch dufteten, waren sie wahrscheinlich Zigeunerinnen.“ Das „Flüchtlingspack“ nämlich, so die Oma des Kindes, sei mit Leiterwagen aus Schlesien und Pommern angereist, und habe „den ordentlichen Leuten die Haare vom Kopf gefressen.“ Oje, zum Glück sind derartige Vorurteile ja heutigen Menschen völlig unbekannt, oder?
Onkel Winkelmann, ein früher Mentor der Protagonistin, gibt ihr jedenfalls einen guten Rat mit auf den Weg, an den sich die erwachsene, politisch sehr scharf blickende Birgit Vanderbeke offenbar gehalten hat: „Egal, was sie dir erzählen: Hinhören und das Maul aufmachen. Der Welt wäre was erspart geblieben.“ Mach was aus dir, entdecke, wer du bist, und dann kümmere dich um all das, was in der Gesellschaft schiefläuft – das scheint überhaupt eine der „Lehren“ dieses ja gar nicht aufdringlich pädagogischen Doppelbuchs zu sein. Das Zauberwort heißt Selbstvertrauen, denn dass man den „Großen“ und ihren manipulativen Diskursen nicht trauen kann, wird schnell klar.
„Es gibt nur einen einzigen Menschen, der für Sie denken und auf Sie aufpassen kann. Das sind Sie. Und wenn Sie es nicht können, kann es niemand für Sie tun. Auch Ihr Kühlschrank nicht“.
Was im Tonfall und in der Thematik ein bisschen an „Trümmerliteratur“ aus der Nachkriegszeit erinnert (man denke etwa an das aus Kinderperspektive geschriebene „Haus ohne Hüter“ von Böll), ist doch erkennbar heutige Literatur. Wer beim Thema „Flüchtlingslager“ hellhörig wird, wird sich bestätigt sehen. Und auch anderer aktueller Bezüge ist sich Birgit Vanderbeke durchaus bewusst.
„Im Zweiunddreißiger [Bus] hatten es die Russen genauso wie im Elfer auf unsere Teppiche und jungen Mädchen abgesehen, und sie standen direkt an der Zonengrenze und warteten nur darauf, ihre Atombombe endlich auf uns draufzuwerfen.“
Man kann bei dieser Passage an heutige Neo-Russenfeindlichkeit denken, muss es aber nicht. Solche Assoziationen drängt die Autorin ihren LeserInnen aber nicht mit dem Holzhammer auf. Gelegentlich lässt sie Gegenwartselemente bewusst einfließen, um zu zeigen: es ist eben doch kein historischer Roman und keine Trümmerliteratur, was wir hier lesen:
„Das alles ist noch gar nicht so lange her, wie Sie vielleicht denken. Die Welt war damals natürlich noch analog. Das ändert sich gerade, weil das Leben digital geworden ist und Kinder nie mehr allein sind, jedenfalls nicht in unserer Welt, in der auf alle aufgepasst wird.“
Leider wird es im zweiten Band der Reihe, „Wer dann noch lachen kann“, noch ein bisschen härter. Die Protagonistin beschreibt eindringlich, wie sie von ihrem Vater regelmäßig verprügelt wird. Birgit Vanderbeke beschreibt das auf sehr kunstvolle Weise nur indirekt, indem sie die Geräusche und die Schreie beim Verprügeln in den Mittelpunkt stellt – das, was Nachbarn von außen hören konnten oder hätten hören müssen, wären sie nicht zu feige gewesen, einzuschreiten. Die Frage, ob das Mädchen auch missbraucht wurde, hält die Autorin bewusst offen. Sie legt jedoch einige Fährten:
„Das Kennenlernen fing mit den Händen an, und der Rest kam hinterher, und es war sehr unheimlich, weil es dunkel war und ich noch nicht sprechen konnte. Hinterher wollten sie, dass ich das alles vergesse, aber ich weiß genau, wie es war, als ich meinen Vater kennenlernte, und ich weiß, dass ich mir wünschte, ich könnte wieder im schwarzen Teich Ewigkeit sein und im Nimmerland schwimmen, weil es da nicht so kalt gewesen war und nicht wehgetan hatte.“
Man wünscht sich fast, die Autorin hätte da bloß ein paar Thriller über Kindesmisshandlung gesehen und die im Buch verarbeitet. Aber die Intensität der Darstellung spricht eine andere Sprache, und der Klappentext sagt es unmissverständlich: „Kraftvoll, zornig, pointiert erzählt Birgit Vanderbeke die Geschichte ihrer Familie“. Ja, vieles wirkt durch heitere Ironie abgemildert und ist aus der gleichsam schon erlösten Perspektive eines Erwachsenenich geschildert, das an den Wunden der Vergangenheit gereift ist. Mit sich im Reinen scheint diese zurückblickende Frau zu sein, gewiss, aber längst nicht versöhnt mit den Tätern und mit einer Gesellschaft, die ihre Taten zu lange gedeckt hat.
„Ein Vater verprügelt sein Kind. Als er das tat, war es erlaubt. Es war keine Straftat. Allenfalls eine Erziehungsmaßnahme zum Wohle des Kindes. Kein Verstoß gegen das Strafrecht, kein Verstoß gegen die UN-Charta. Heute ist es nicht mehr erlaubt, sein Kind grün und blau zu schlagen, aber die Grenzen sind fließend, und ein Kind hat keine Stimme.“
Gibt es einen Ausweg, ein Happy End? Es ist ja ein dritter Band geplant. Man kann sich schon darauf freuen, dass dem gelben und dem blauen Buch ein rosafarbenes folgen wird – oder vielleicht in zartem Lindgrün? Schon jetzt ist die Zweidrittel-Trilogie aber nicht nur ein Buch des Leidens und des Haderns, sondern auch ein Buch der Hoffnung. Denn Heilung kommt aus der Zukunft – aus dem, was traumatisierte Menschen aus sich machen können, wenn sie ihren Verstand gebrauchen und ihrem früheren Ich die Fürsorge und Solidarität geben, die es braucht. Daniel Grosjean sagte es in einem Statement, das Birgit Vanderbeke eingangs zitiert:
„Jeder Mensch hat in sich selbst das Potenzial, sich zu reparieren, man könnte sagen, sich zu heilen.“
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