Das in den Ökonomie-Lehrbüchern zugrunde gelegte Axiom vom Zinseszins bedeutet, dass, betriebswirtschaftliche gesehen, künftige Ein- und Auszahlungen auf- oder abgezinst werden müssen.
Ein Beispiel: Nehmen wir an, ein Atomstromkonzern muss Rückstellungen für die Lagerung abgebrannter Brennstäbe für mehrere tausend Jahre bilden. Bei einem Zinssatz von 10 Prozent entsprechen
1 Millionen Euro in 10 Jahren heute 385.543 Euro,
1 Millionen Euro in 25 Jahren heute 92.296 Euro,
1 Millionen Euro in 50 Jahren heute 8.519 Euro,
1 Millionen Euro in 75 Jahren heute 786 Euro,
1 Millionen Euro in 100 Jahren heute 73 Euro,
1 Millionen Euro in 150 Jahren heute 56 Cent,
1 Millionen Euro in 200 Jahren heute 1 Cent.
Das heißt: Eine Million Euro in 200 Jahren sind bei einem Zinssatz von 10 Prozent pro Jahr unter Berücksichtigung der gängigen betriebswirtschaftlichen Zinseszinsrechnung heute nur einen Cent wert. Mit anderen Worten: Das Lagern von Atommüll ist ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft praktisch kostenlos. Daher war Atomstrom lange Zeit so billig auf dem stark verzerrten Markt zu haben. Würden die Kosten der Lagerung radioaktiver Abfälle realistisch bewertet, wäre Atomstrom die bei weitem teuerste Stromform überhaupt (1). Durch das Zinseszins-Denken werden alle künftigen Lasten und Nutzen so stark abgewertet, dass sie bei heutigen Entscheidungen keine nennenswerte Rolle mehr spielen. Die Bedürfnisse unserer Kinder oder gar Enkelkinder zählen nicht.
Das kann man verallgemeinern: Der Schaden, den eine Investition in ferner Zukunft auslöst, ist in der derzeit angewandten betriebswirtschaftlichen Rechnung heute fast nichts wert und wird deshalb bei den Investitionsentscheidungen auch nicht berücksichtigt. Das Gleiche gilt für die Erträge. Entscheidend ist, wie stark sich die Investition innerhalb der nächsten etwa zehn bis zwölf Jahre rentiert.
Danach kann die Welt unter Ertragsgesichtspunkten untergehen — die Rentabilität beeinflusst das kaum mehr. Die Unternehmen werden daher in unserem gegenwärtigen Zinseszinssystem gedrängt, vor allem die kurzfristigen Vorteile zu berücksichtigen. Langfristige Schäden spielen bei den Entscheidungen praktisch keine Rolle. „Sie holzen Bäume ab, die über Generationen gewachsen sind, zerstören Böden und Fischbestände für kurzfristigen Ertrag, ruinieren unser Klima und riskieren Endlagerkosten für atomare Abfälle für hunderttausend Jahre. Der Erhalt von Trinkwasserquellen, sauberer Luft, Artenvielfalt, tropischen Regenwäldern und dem klimatischen Gleichgewicht ist nicht rentabel“ (2).
Unternehmen, die gegen diese Spielregeln des Marktes verstoßen, indem sie ethische, langfristige, menschen- und umweltgerechte Investitionen tätigen, haben in der Regel finanzielle Nachteile, verlieren an Unternehmenswert und können dadurch, wenn sie börsennotiert sind, leicht zu Übernahmeobjekten aggressiverer Investoren oder anderer Unternehmen werden. Mit anderen Worten: Ethisch verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln wird normalerweise vom Markt bestraft.
Appelle an ethisches Verhalten helfen da wenig. Es besteht ein struktureller Anreiz, ja, für börsennotierte Unternehmen — das heißt beinahe alle Großunternehmen der Welt — ein Zwang zu kurzfristig gewinnorientiertem Handeln unter Nichtbeachtung der langfristigen Folgen. Daher kommt das sogenannte „Quartalsdenken“ vieler US-Konzerne. Damit werden der Ausbeutung der Natur Tür und Tor geöffnet und eine Mentalität des „Nach-uns-die Sintflut“ geradezu erzwungen.
Die Rolle des WACC
In diesem Zusammenhang ist besonders wichtig, welchen Zinssatz die Unternehmen zugrunde legen, wenn sie ihre Investitionsentscheidungen treffen. Je höher der verwendete Zinssatz ist, desto stärker kurzfristorientiert fallen die Entscheidungen aus, desto weniger zählen künftige Generationen, desto stärker ist die Naturausbeutung heute. Die börsennotierten Großunternehmen verwenden dafür normalerweise den WACC (Weighted average cost of capital), den durchschnittlichen Kapitalkostensatz. Bei dessen Berechnung werden allerdings nur die zinstragenden Passiva sowie das Eigenkapital berücksichtigt, kostenlos überlassenes Fremdkapital wie Lieferantenverbindlichkeiten oder Rückstellungen werden bei der Berechnung nicht einbezogen. Dadurch wird der Durchschnittszinssatz stark erhöht.
So stellt sich mir Frage: Warum werden die kostenlosen Verbindlichkeiten einfach aus der Berechnung herausgeworfen, obwohl sie doch in Wirklichkeit den Unternehmen zur Verfügung stehen? Warum oder wozu wird der Zinssatz künstlich hochgerechnet? Die Lehrbücher geben darauf in der Regel keine Antwort. In den meisten Fällen wird nicht einmal die Frage gestellt. Der wahre Grund dafür dürfte Folgender sein: Dadurch können die Kapitalrenditen in die Höhe getrieben werden und die Kapitaleigentümer bekommen höhere Gewinne. Für mich ist diese Durchschnittsermittlung eine rein interessengetriebene Vorgehensweise, um einseitig die Kapitalgeber zu begünstigen — zulasten der Arbeitnehmer, der Umwelt und unserer Kinder. Die Lehrbücher betreiben hier Interessenpolitik, Lobbyarbeit, betreiben Politik zugunsten der Reichen und Mächtigen — und verkaufen es uns als objektive Wissenschaft.
Die fragwürdige moralische Legitimation von Zinsen und Dividenden
Fragt man Ökonomen oder sucht man in Lehrbüchern nach der moralischen Legitimation für Zinsen und Dividenden, erhält man normalerweise die Antwort: Wer anderen Kapital gibt, geht dadurch ein Risiko ein und muss dafür in Form von Dividenden oder Zinsen entschädigt werden. Diese Argumentation hinkt jedoch, ist sehr einseitig und wiederum Propaganda zugunsten der Wohlhabenden. Denn ein Arbeitnehmer, der bei einem Unternehmen arbeitet, geht das Risiko ein, entlassen und arbeitslos zu werden.
Aber für dieses Risiko fordern die Ökonomen kein Entgelt, sehen keine moralische Legitimation für eine Risikokompensation. Die gängige ökonomische Lehre ist in vielerlei Hinsicht einäugig und vertritt meistens implizit einseitig ideologisch die Interessen der Mächtigen, ohne dies explizit offenzulegen. Sie ist daher auf vielen Gebieten alles andere als eine neutrale, objektive Wissenschaft, sondern ruht auf einseitigen weltanschaulichen Grundannahmen.
Die moralischen Auswirkungen des Zinseszins-Denkens
Das Denken in den Kategorien von Zins und Zinseszins treibt das Wirtschaftswachstum zulasten der Umwelt und zulasten der Zukunft an. Unternehmen, die Schulden haben, stehen unter Druck zu wachsen, da sie sonst die Zinsen nur schwer bedienen können. Das gleiche gilt für private Haushalte und Regierungen: In dem Maße, in dem sie verschuldet sind, besteht Druck, die Einnahmen zu erhöhen, wenn man nicht seinen Lebensstandard durch die Zinszahlungen senken will.
Das heutige Zinseszinssystem beruht also auf einem System des „mehr und mehr“. Um es am Laufen zu halten, muss auch für eine Mentalität des „mehr und mehr“ gesorgt werden, eine Mentalität der Gier und Unbescheidenheit.
Tausende von Werbebotschaften — jeder Bundesbürger nimmt täglich 3.000 bis 13.000 Werbebotschaften auf — sorgen dafür, diese Mentalität der Gier und Unbescheidenheit hervorzurufen oder zu verstärken. Und von den Lehrkanzeln der Ökonomie wird täglich verkündet, dass wir Konsum- und Wirtschaftswachstum brauchen. Mehr ist besser. Das Dogma des Wirtschaftswachstums ist geradezu ein Credo der Ökonomen. Ich meine das ganz wörtlich. Es ist ein Glaubenssatz, ein Dogma, eine weltanschauliche Grundeinstellung. Es hat nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern ausschließlich mit Moralvorstellungen.
Martin Luther bringt gut auf den Punkt, was diese Mentalität auf moralischer Ebene bedeutet: „Und abermal (…) Wilche reich wollen werden, die fallen dem Teufel in den Strick, und in viel unnutze, schädliche Begierde, wilche die Leut versenken ins Verderben und Verdammniss.“ Luther empfiehlt daher guten Christenmenschen, dass sie „lieber wollten mit Gott arm, denn mit dem Teufel reich sein“ (3).
Mephisto hat also an denjenigen, die immer mehr haben wollen, die immer reicher werden wollen, seine Freude. Nicht umsonst war Avaritia (Geiz, Habgier) eine der sieben Todsünden. Unser derzeitiges Wirtschaftssystem kann ohne das mephistophelische Prinzip der Avaritia gar nicht bestehen. Zu erkennen, dass es sich hier um ein Mephisto-Prinzip handelt, das uns Menschen schädigt und uns Menschen schädigen soll, ist wichtig, um im Inneren den Impuls zu finden, es zu ändern.
Zinseszins kombiniert mit unbegrenzter Vermögensanhäufung
Unsichtbare Zahlungsströme: Wer zahlt an wen?
Unser gegenwärtiges Geldsystem verbirgt verschiedene Zahlungsströme, die gewissermaßen unterirdisch, unbewusst in unserem täglichen Wirtschaftsleben stattfinden. Ein bestimmter Teil dieser Zahlungsströme soll daher nun dargestellt werden. Ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht, durch jeden Kaufvorgang werden bestimmte Zahlungsflüsse ausgelöst.
Erstes Beispiel: Unser täglich Brot
Der Preis eines jeden Produktes, das wir kaufen, enthält Kapital- und Arbeitsanteile. Man kann sich das am Beispiel eines Brotkaufs klarmachen. Um das goldene Korn aus dem Boden hervorzuzaubern, braucht der Landwirt Boden, Kapital und seine Arbeitskraft. Wenn er den Boden pachtet, muss er an den Eigentümer Pacht zahlen. Wenn er das Land mit Kredit gekauft hat, muss er an die Bank Zinsen zahlen, auch wenn diese momentan recht niedrig sind. Wenn der Boden ihm selbst gehört, muss er — das ist für Nicht-Ökonomen anfangs recht unverständlich —, sogenannte kalkulatorische Eigenkapitalkosten dafür ansetzen, denn er könnte sein Land ja verpachten oder verkaufen.
Also egal, wem der Boden gehört: Es fallen dafür Kosten an, die in den Produktpreis, das Korn einfließen. Für sein Betriebskapital, also die eingesetzten Maschinen oder das Saatgut, muss der Landwirt entweder Zinsen zahlen oder, wenn sie mit Eigenkapital finanziert sind, muss er entsprechende Eigenkapitalkosten dafür ansetzen. Auch diese Kosten werden auf das geerntete Getreide umgelegt. So ruht auf jedem geernteten Korn eine bestimmte Summe von Kapitalkosten für Pachten, Zinsen oder Eigenkapital.
Das Korn wandert zur Mühle, dort gilt das Gleiche. Die Mühle steht auf Grund und Boden, für den Kosten anfallen. Die Getreidemühle selbst stellt ein Kapitalgut dar, für das auch Kapitalkosten anfallen. Beim Bäcker passiert das Gleiche. Die Bäckerei steht auf Grund und Boden, benötigt Kapital in Form von Backöfen, Inneneinrichtung, Vorräten und so weiter, wofür wiederum Pacht und Kapitaldienst anfallen.
Leistungslose Einkommen
In der Summe enthält also der Brotpreis einen bestimmten Anteil von Kapitalvergütung. Für jeden Laib Brot, für jedes Brötchen, die wir kaufen, zahlen wir, ob wir wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht, einen bestimmen Betrag an Geld an die Eigentümer von Boden und Kapital, häufig ohne dass diese Menschen an dem Arbeitsprozess beteiligt sind. Diese Einkünfte bezeichnen die Ökonomen als „Renten“, das sind Einnahmen, denen keine Arbeitsleistung gegenübersteht, leistungslose Einkommen, die man einfach dafür erhält, dass man Vermögen besitzt.
Da stellen sich zwei Fragen. Erstens: Wie hoch sind diese Geldströme? Und zweitens: An wen fließen sie?
Nach der Methodik des Sachverständigenrates der deutschen Wirtschaft (die „Fünf Weisen“) beträgt die Höhe dieser „Nicht-Arbeits-Einkommenszuflüsse“ oder Rentiereinkommen an die Rentiers in Form von Mieten, Pachten, Dividenden, Gewinnentnahmen und Zinsen für die Jahre 2014 bis 2016 546 Milliarden Euro pro Jahr (4). Das ist sehr viel Geld. Zum Vergleich: Der deutsche Bundesfinanzminister hat 2019 ungefähr 340 Milliarden Euro zur Verfügung, also gut 200 Milliarden Euro weniger. Bezogen auf die Konsumausgaben der privaten Haushalte von etwa 1.680 Milliarden Euro 2016 (5) beträgt die Abgabenquote der privaten Haushalte an die Rentiers etwa ein Drittel.
Im Durchschnitt beträgt also der Kapitalanteil, den wir mit jedem Produkt- oder Dienstleistungskauf zahlen, etwa ein Drittel des Kaufpreises. Jeder von uns zahlt also täglich Zinsen, Dividenden und Pachten an die Bezieher dieser leistungslosen Einkommen, auch wenn wir keinen Kredit bei der Bank aufgenommen haben und in den eigenen vier Wänden wohnen.
Schaubild Vermögensverteilung in Deutschland (6)
An wen fließt dieser riesige Geldstrom von über 540 Milliarden Euro pro Jahr? Der größte Teil, nämlich etwa 60 Prozent, das sind über 325 Milliarden Euro, also knapp der gesamte Bundeshaushalt, fließt an die wohlhabendsten 10 Prozent der Bundesbürger, denn diese besitzen etwa 60 Prozent des deutschen Nettovermögens — das ist Vermögen abzüglich Schulden —, während die unteren 50 Prozent der Bundesbürger zusammen 2,5 Prozent des Nettovermögens besitzen (7). Das sind die offiziell von der deutschen Bundesregierung verwendeten Zahlen.
Ursula von der Leyen sagte 2013 als Sozialministerin, die untere Hälfte der Bundesbürger besitze etwa ein Prozent des Gesamtvermögens. Das Vermögen des obersten ein Prozent der Bundesbürger wird auf etwa ein Drittel geschätzt.
Es findet also im täglichen Leben eine Umverteilung statt durch leistungslose Zahlungsströme, die von allen zu vergleichsweise wenigen Menschen fließen, eine Umverteilung „von fleißig nach reich“.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Berger 2006.
(2) Berger, Wolfgang (2006), Verantwortung für die Zukunft ist unrentabel, in: Humane Wirtschaft 5/2006, Seite 28.
(3) Luther, Von Kaufshandlung und Wucher, 1524, WA 15.
(4) Eigene Berechnung: (1-Arbeitseinkommensquote) * Volkseinkommen, Statistisches Jahrbuch 2017, Seite 328 und folgende, Methodik zur Ermittlung der Arbeitseinkommensquote in SVR 2008, Seite 459.
(5) Statistisches Jahrbuch 2017, Seite 325.
(6) Deutsche Bundesbank Monatsbericht März 2016, Seite 67.
(7) Vergleiche Deutsche Bundesbank Monatsbericht März 2016, Seite 67.
Die vollständigen Quellen können bei Interesse dem Buch von Christian Kreiß „Das Mephistoprinzip in der Wirtschaft“ entnommen werden.
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