Herz oder Kopf? Individuum oder Kollektiv? Mensch oder Tier? Huhn oder Ei? Das eine oder das andere? Immer noch zerreiben wir uns an der Frage, wer schuld ist an der aktuellen Misere. Rechts oder links, oben oder unten, die Spitze oder die breite Masse — wer trägt die Verantwortung für die Situation, in der wir uns allesamt befinden? Durch alle Schichten zieht sich eine kriegsbefeuernde Dynamik, die im Gegenüber den Feind sieht. Derart reduziert, bleiben wir im Widerspruch einer Dialektik stecken, in der die Gegensätze sich längst nicht mehr gegenseitig befruchten, sondern annihilieren.
Tief hat sich ein Weltbild in uns eingeprägt, bei dem entweder das eine oder das andere gilt. Auch Menschen, die vorgeben, sich für den Frieden zu engagieren und nach dauerhaften Lösungen zu suchen, tappen immer wieder in dieselbe Falle und fördern letztlich das, was sich ausschließt, und nicht das, was sich ergänzt. So tun sie damit nichts anderes als die, die sie kritisieren: die Reduktion auf Fake und Wahrheit, Klimaschützer und Klimaleugner, Impfbefürworter und Impfgegner, Putinversteher und Putinhasser.
Entweder das eine oder das andere — in einer auf die Spitze getriebenen Polarisierung verpufft eine Energie, die einmal als Einheit angelegt war. Anstatt Mosaike zu bauen, in denen jeder Teil seinen Platz und seine Bedeutung hat, stehen wir konsterniert vor den Trümmern einer sich immer weiter zersetzenden Gesellschaft.
Immer mehr schließen sich These und Antithese gegenseitig aus und führen zu Resultaten, bei denen immer mehr Menschen den Kürzeren ziehen.
Zersprengt
„Die Wahrheit“, so sagt ein altes Sprichwort im Sufismus, „ist ein Spiegel, der in ebenso viele Teile zersprungen ist, wie es Menschen gibt.“ Doch wir wollen recht haben. Anstatt unsere Scherbe umzudrehen und uns darin zu betrachten, um uns besser kennenzulernen, schwingen wir unsere Scherbe wie eine Waffe und verletzen uns und andere mit den scharfen Kanten. Statt zuzuhören versuchen wir zu überzeugen, statt den anderen in seiner Wahrheit wahrzunehmen, nehmen wir ihn auseinander. Wir verfangen uns in Rechtfertigungen und Verurteilungen und analysieren, kritisieren und protestieren, als hinge unser Überleben davon ab.
Immer tiefer wird der Sumpf in unserer Entweder-Oder-Welt, immer schauerlicher unsere Realität, immer absurder unser Handeln, immer abstrakter unsere Analysen. Bald sind auch die Letzten mit ihrem Latein am Ende. Schon setzt sich eine Vision durch, wonach viele es für das Beste halten, wenn alles mit einem großen Knall endet. Vom Big-Bang bis zur Atombombe: Die Welt, die wir so nicht wollen, doch von der wir uns eingestehen müssen, sie aktiv oder reaktiv mitgestaltet zu haben, fliegt uns regelrecht um die Ohren.
Während die Extreme unaufhörlich auseinanderdriften, wird es immer dringlicher, das Zersprengte wieder zusammenzuführen. Denn nicht das gegenseitige Ausschließen — das haben wir in den vergangenen Jahren deutlich zu spüren bekommen — bringt uns weiter, sondern das Integrieren. Wer wirklich eine bessere Welt will, wer wirklichen Frieden anstrebt, in dem niemand unberücksichtigt bleibt, macht sich daran, das Ausgeschlossene, Zurückgewiesene, Verdrängte wieder zurück nach Hause zu holen.
Systemische Arbeit
Wohl jeder kennt die Ohnmacht, in einer Situation nichts ausrichten zu können. So sehr wir uns auch anstrengen: Auch denen, die uns am nächsten stehen, können wir oft nicht helfen. Der andere ändert sich einfach nicht. Die Probleme bleiben bestehen. Anstatt sich immer mehr am Außen abzuarbeiten, bietet die Therapiemethode des Familienstellens Möglichkeiten, die auch in der gesamtgesellschaftlichen Situation zur Wirkung kommen können.
Familienaufstellung ist ein systemisches Verfahren, bei dem die Mitglieder eines Systems mittels Personen oder Puppen in einer Konstellation so angeordnet werden, dass Muster und Verstrickungen innerhalb des Systems erkannt und aufgelöst werden können. Ausgangspunkt ist ein kurz formuliertes Anliegen. Es muss nicht das gesamte Epos erzählt und verstanden werden. Per Resonanz wird über die aufgestellten Personen deutlich, wo genau der Haken ist und an welchen Punkten angesetzt werden muss, damit sich ein Problem auflösen kann.
Entscheidend hierbei ist die Erkenntnis, dass sich ein System ab dem Moment harmonisieren kann, in dem bisher Ausgeschlossenes wieder ins Ganze integriert wird. Solange Menschen verdrängt sind, zurückgewiesen oder nicht wahrgenommen, kann das Gesamte nicht gesunden.
Erst wenn auch der im Ersten Weltkrieg gefallene Soldat, der Nazi, die Prostituierte, der Ehebrecher, das abgetriebene oder totgeborene Kind wieder symbolisch in das Familiengefüge integriert wird, kann das Ganze Frieden finden.
Große Liebe
Was auch immer jemand getan hat: Er gehört dazu und hat seinen Platz. Trennung ist das Problem. Verbindung ist die Lösung. Auch wenn es uns schwerfällt: Solange wir nicht integrieren, was sich abgespalten hat, kann der Organismus nicht genesen. Ohne uns darüber bewusst zu sein, schwärt das Verdrängte im Untergrund und droht, das Ganze zu vergiften. Wie ein Tumor, der nach eigenen Regeln funktioniert, wie ein Trauma, in dem sich der Schmerz verkapselt hat, wirkt es aus dem Verborgenen heraus und bringt das ganze System aus dem Gleichgewicht.
Heilung erfolgt dann, wenn das Verdrängte wieder in die Einheit zurückgeholt wird. Liebe ist der Schlüssel, mit dem dies gelingen kann. Hier ist nicht die kleine Liebe gefragt, die besitzen will, nicht die romantische Liebe, die zu verführen sucht, nicht die bedürftige Liebe, von der wir uns erhoffen, dass sie eine Leere in uns ausgleicht. Es ist die ganz große Liebe, die hier gefragt ist, eine Liebe, die ohne Bedingungen gibt und nimmt und die in unserem eigenen Herzen ihren Ursprung hat.
Eine wahrlich große Liebe braucht es, dass wir in uns auch das integrieren, was wir nicht haben wollen: unsere Kontrollmechanismen, unsere Missgunst, unsere Selbstsabotage, unsere Schuld — und immer wieder unsere Angst: das, was uns eng macht, kleinlich, verschlossen. Wer gesund werden will, der öffnet sein Herz und seine Arme. Gütig wie eine bedingungslos liebende Mutter und großzügig wie ein behütender Vater umarmt er in sich all die hässlichen Entlein, die er bisher nicht haben wollte.
Das Licht anzünden
Wer sich daranmacht, das zu üben, der ist bereit für eine neue, friedliche Welt, die er aus sich heraus entstehen lässt. Er lässt das Fachsimpeln sein, das Besserwissen und das Rechthaben und sorgt dafür, dass These und Antithese nicht mehr verpuffen oder in faulen Kompromissen enden. Er lässt etwas entstehen, was der Alchemist Carsten Pötter Anathese nennt: das Neue, das von zwei Seiten befruchtet wurde und das mehr ist als die Summe der Gleichung, aus der es hervorgegangen ist.
In dieser Sicht auf die Dinge macht eins und eins nicht zwei, sondern drei. Anstatt zu versuchen, uns gegenseitig etwas zu nehmen, bereichern wir uns gemeinsam. Wundern wir uns übereinander. Doch weisen wir einander nicht zurück. Bauen wir zusammen an dem Mosaik. Setzen wir den Spiegel zusammen, Scherbe für Scherbe. Reiben wir uns aneinander. Sprühen wir Funken, doch verbrennen wir einander nicht.
Zünden wir die Kerzen an. Nehmen wir das Feuer der Reibung als Zeichen dafür, dass wir bereit für den Frieden sind.
Umarmen wir, was uns triggert, hören wir ihm zu und lassen es dann los, damit es an seinen Platz zurückfinden kann. Verzeihen wir auch den Teilen in uns, die uns daran hindern, die Blockaden zu lösen und gesund zu werden.
Holen wir in die Einheit zurück, was sich abgespalten hat, seien wir das Licht am Ende des Tunnels und feiern wir wirklich und wahrhaftig Weihnachten.
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