Bejahung der sexuellen Wildnatur
von Dieter Duhm
Der französische Jesuitenpater Teilhard de Chardin hat uns einen erstaunlichen Satz hinterlassen: „Das Lebendigste des Greifbaren ist das Fleisch, und für den Mann ist das Fleisch die Frau.“ Dieser Satz stammt von demselben Mann, der die große „Hymne an das Weibliche“ geschrieben hatte. Was hatte er mit diesem Satz gemeint — und was wird heute dazu assoziiert? Es geht um die Bedeutung des „Fleisches“ in der Begegnung der Geschlechter.
Fleisch ist hier ein Wort für das Innerste des Leibes, seine nackteste und authentischste Bewegung im Zustand der Lust, die „orgonotische Urbewegung“ (Wilhelm Reich). Sie gehört zu den Grundfunktionen des Lebendigen. In diesem Zustand bilden die Leiber zweier Liebender eine energetische Einheit, beseelt von den Heilströmen und Freudeströmen des Lebens und der Schöpfung.
Ist es nicht erstaunlich, dass ein katholischer Jesuitenpater das gewusst hat? Ich bringe noch ein weiteres Zitat aus der Literaturgeschichte, ebenso überraschend wie das vorige. Es stammt von dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer:
„Wenn man mich fragt, wo denn die tiefste Erkenntnis jenes inneren Wesens der Welt, das ich den Willen zum Leben genannt habe, zu erlangen sei oder wo er die reinste Offenbarung seiner selbst erlangt, so muss ich hinweisen auf die Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das ist das wahre Wesen und der Kern aller Dinge, Ziel und Zweck alles Daseins“ (aus seinem Buch: „Die Welt als Wille und Vorstellung“).
Ist es nicht erstaunlich, dass ein deutscher Philosoph vor 200 Jahren dies gewusst hat? Wie gesagt:
Es kann in der Welt keinen Frieden geben, solange in der Liebe Krieg ist.
Es gibt vor allem einen Punkt in der Beziehung der Geschlechter, an dem sich entscheidet, ob auf der Erde Krieg oder Friede sein wird. Ich meine den Punkt der fleischlichen Begierde und der Wollust, wo in animalischer Freude der Leib geliebt und genossen wird. Man hat sich „zum Fressen gern“. Hier fließt ein Starkstrom, der alles andere überschwemmen kann, die Leidenschaft des Fleisches. Ob aus einer „animalischen“ Vereinigung Glück oder Unglück hervorgeht, hängt davon ab, in welchem Geist sie vollzogen wird.
Das Zauberwort für das Glück heißt „Kontakt“. Kontakt ist ein tiefes Wort, es kommt aus dem lateinischen „contingere“ und bedeutet wörtlich „zusammenhängen“. Wo sich zwei Seelen leiblich im Sinne dieses Kontakts begegnen, da entsteht Liebe, sexuelle Liebe. Das ist der Punkt, wo Sex und Liebe zusammenkommen — im Urgrund des Eros.
Es ist diese wilde, geile, unwiderstehliche Kraft, die bislang aus unserem Kulturkanon verbannt wurde. Im Namen der Wahrheit und der Liebe muss sie endlich angenommen und bejaht werden. Glück oder Unglück einer Gesellschaft hängen auch davon ab, inwieweit sie in der Lage ist, zu ihrer eigenen Triebwelt ein positives Verhältnis zu finden. Solange die wilde Seite des Eros verdrängt wird, wird sie untergründig weiter schwelen und zu unkontrollierten Eruptionen führen. Auf dem Grund unserer Gesellschaft gärt ein Bodensatz von sexueller Gewalt, von Sadomasochismus und Schlachtungsphantasien, deren fürchterliche Auswirkungen sich bisher in allen Kriegen gezeigt haben.
Alles, was in sadistischen Onaniefantasien oder brutalen Comics erdacht wird, ist auch irgendwo und irgendwann auf der Erde getan worden. Die Enthüllungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass solche Barbareien bis in die höchsten Stufen der Gesellschaft gepflegt werden. Im Kraftfeld verdrängter Sexualität entsteht ein furchtbares Verlangen nach Grenzüberschreitung, perverser Befriedigung und sexueller Gewalt. Dieses Verlangen wartet nur darauf, die passende Gelegenheit zu finden. Die ganze Kriegsgeschichte der Menschheit möge auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.
Wo der Mensch versucht, elementare Kräfte seiner Natur zu unterdrücken, werden sich diese Kräfte irgendwann in Gewalt verwandeln und unendliche Grausamkeiten erzeugen, wie sie in der Geschichte der letzten Jahrtausende oft genug verübt worden sind und heute weltweit weiterhin verübt werden.
Die Lebensenergie verwandelt sich in Todesenergie. Die Opfer waren fast immer Frauen.
Heute kommen im Rahmen der globalen Kinderpornografie noch unzählige Kinder dazu. Wir haben heute ein weltweites Feld von sexueller Gewalt auf unserer Erde: die Folge einer unsäglichen Verfehlung in der Steuerung der sexuellen Lebenskräfte. Sollte jemals auf unserem Planeten eine echte Friedensbewegung entstehen, dann soll sie nicht mehr die vielen sexuellen Entgleisungen beklagen, sondern sie muss herausfinden, wie die Erde von der sexuellen Gewalt befreit werden kann. Sie hat dann an einem ungewöhnlichen Thema zu arbeiten.
Die Unterdrückung elementarer Sexualkräfte führt zu weiteren Perversionen, die vor allem an Tieren begangen werden. So werden beseelte Wesen, Kühe und hochintelligente Schweine, als Nutzvieh betrachtet und für die Fleischproduktion gezüchtet. In Schlachthöfen werden sie dann für den menschlichen Konsum vorbereitet. Allein der Begriff des Fleisches hat im kollektiven Unbewussten der pornografischen Gesellschaft fatale Assoziationen erzeugt.
Fleisch ist nicht mit der Vorstellung einer Liebkosung, sondern mit der Vorstellung des Schlachtens verbunden. Dies gilt nicht nur für das Fleisch der Tiere. Liegt nicht schon in der Schlachtung eine spürbare sexuelle Komponente? Ich habe schon als Kind meine sexuellen Regungen gespürt, wenn ich sah, wie Schweine geschlachtet wurden.
In falsch geschalteten Männerhirnen haben sich Assoziationen zwischen Weib und Schwein entwickelt, über die wir kaum zu sprechen wagen. Wäre nicht diese kollektive und historische Entgleisung passiert, so hätte sich gegenüber dem lebendigen Fleisch eine vollkommen andere Haltung entwickelt, eine Haltung der Liebe und Verehrung, denn im Fleisch steckt das ganze Wunder des Lebens. Ich weiß nicht, ob Männer, die das Fleisch der Frau lieben gelernt haben, noch in der Lage wären, Schweine zu schlachten.
Die wilde Lust kommt ebenso aus der göttlichen Quelle wie die Liebe, sie ist ein Teil der heiligen Matrix.
Diese Kraft konnte in den großen Religionen nicht angenommen werden, sie wurde in die Gosse geworfen. Dort müssen wir sie aufheben, von allen Vorurteilen reinigen und in angemessener Weise feiern. Die Akzeptanz der Wildnatur, die Akzeptanz der fleischlichen Wollust, die Akzeptanz unserer göttlichen Animalität ist eine Bedingung für eine Welt ohne Krieg.
Wenn Vertrauen zwischen den Geschlechtern entsteht und wenn dieses Vertrauen bis in die intimsten Regionen der Wollust hineinreicht, wenn dieser Vorgang nicht nur zufällig und kurz zwischen zwei Partnern stattfindet, sondern ein integraler Bestandteil einer neuen erotischen Kultur geworden ist, dann entsteht wirklich etwas Neues. Das Hologramm der Angst hat sich in ein Hologramm des Vertrauens gewandelt. Neue Botenstoffe werden im Körper der Menschheit ausgeschüttet. Es wird physiologisch kaum noch möglich sein, einander umzubringen.
Durch die Verdrängung und Verheimlichung der animalischen Gelüste kam eine Lüge in die Welt, die seitdem in der Form eines latenten Geschlechterkrieges weiterwirkt. Der patriarchale Kampf gegen Weib und Leib hat in Frauen wie auch in Männern tiefe Wunden hinterlassen. Jahrtausende hindurch war es einer Frau kaum möglich, ihre sexuelle Urnatur zu offenbaren, ohne ihren guten Ruf oder gar ihr Leben zu riskieren. Um diese Urnatur noch einmal mit anderen Worten zu beleuchten, möchte ich einige Sätze zitieren, die Clarissa Estés in ihrem Buch „Die Wolfsfrau“ geschrieben hat:
„Auf dem tiefsten, unerforschten Grund ihrer weiblichen Psyche kann jede Frau auf eine Urkraft stoßen, die dort verschüttet liegt: ihre naturgegebene Wildheit, voller richtiger Instinkte, leidenschaftlicher Kraft und alterslosem Wissen. Diese Quelle weiblicher Urenergie gilt es für die moderne Frau wiederzufinden. (...) Wir alle sind von einer Sehnsucht nach wilder Ursprünglichkeit erfüllt. Aber es gibt kaum ein kulturell akzeptiertes Mittel, das diese Art von Heißhunger stillt. Man hat uns Scham vor diesem Verlangen anerzogen, und so haben wir gelernt, unsere Gefühle hinter langen Haarmähnen zu verbergen. Aber ein Schatten der wilden Frau verfolgt uns bei Tag und auch bei Nacht. Wo wir auch hingehen, ein Schatten trottet hinter uns her — und immer einer auf vier Beinen.“
(...)
Der befreite Eros und seine Verwirklichung — Sexualität und Gewalt
von Sabine Lichtenfels
MeToo (1)! Wer von uns Frauen könnte nicht aus eigenem Erleben Situationen aufführen, in denen wir sexuell belästigt wurden, von Angst bedrängt durch die dunklen Gassen einer Großstadt liefen und uns der männliche, begehrende Blick überall zur Bedrohung wurde. Viele verschwiegene Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe wären ohne die MeToo-Debatte nie ans Licht der Öffentlichkeit gekommen. Das ist ihr großes Verdienst.
Wir leben in einer Welt, in der Millionen und Abermillionen von Frauen Opfer sexueller Gewalt werden, die UNO spricht sogar von einer Milliarde. In allen Kriegen wird Massenvergewaltigung als strategische Waffe eingesetzt.
Nicht nur Männer sind Täter sexueller Gewalt: Die unsäglichen Verletzungen durch Genitalverstümmelung — täglich bis zu 6.000-mal — werden mehrheitlich von Frauen an Mädchen verübt. Das Leiden der Opfer sexueller Gewalt ist so ausweglos und unermesslich, dass sich ein Ozean von Tränen ergießen will. Und ein Aufschrei der Empörung!
Wie können wir sexuelle Gewalt beenden, weltweit, in jedem Land, jeder Kultur, jeder Familie und jedem Arbeitsverhältnis? Wir müssen unsere Stimme erheben — mächtig und entschlossen. Wir müssen Frauen Mut machen, dass sie sich trauen, wahrheitsgemäß zu berichten, was ihnen widerfahren ist. Vor allem aber müssen wir die Ursachen sehen. Wie konnte es überhaupt zu einer Kultur und Gesellschaft kommen, in der diese Art von Gewaltverbrechen zur Tagesordnung gehört?
Auch ich könnte aufschreien: Me, too! Auch ich bin Opfer einer fehlgelaufenen sexuellen Entwicklung — aber ich richte meine Anklage nicht gegen einzelne Täter, sondern gegen ein falsch organisiertes Liebessystem, in dem die Wahrheit und Schönheit zwischen den Geschlechtern nicht gelebt werden konnte.
Die Debatte um sexuellen Missbrauch zeigt uns die falschen Strukturen einer globalisierten Gesellschaft, in der es auch 50 Jahre nach der angeblichen sexuellen Befreiung keine geschützten Räume für Vertrauen und Wahrheit gibt. Sie zeigt überdeutlich, dass in einer Gesellschaft, die auf den kapitalistischen Gesetzen von Profit und Macht beruht, die erotische Anziehung zwischen den Geschlechtern ihren heilen und heiligen Kern verlieren musste. Sie zeigt uns, dass wir innerhalb dieses Lebenssystems nicht in der Lage sind, die sexuelle Wirklichkeit so zu gestalten, dass sich ihre Heilströme entfalten.
Eine in Vertrauen und Kontakt gelebte Sexualität führt niemals zur Gewalt. Aber wo sich in einer Gesellschaft die heilende sexuelle Wirklichkeit nicht frei entfalten darf, wo die Magie und der Starkstrom der Anziehung nicht geachtet und zelebriert, sondern unterdrückt und verheimlicht werden, da entsteht ein gesellschaftlicher Untergrund, den niemand mehr durchschaut. Kriminalität, Widerstand, Perversion und Folter spielen sich in verbotenen Nischen der Gesellschaft ab, bis sie in Kriegs- und Krisensituationen mit gewaltiger Macht ans Licht kommen. In anarchistischer Eigenregie reißen sie alles mit sich, und niemand ist dieser anonymen Macht gewachsen.
MeToo ist ein Aufschrei der Geschlechter, der aufzeigt, dass wir alle gemeinsam in eine Sackgasse gelaufen sind. Haben wir das Wissen und den Mut, so zu leben, dass die erotische Anziehung zwischen den Geschlechtern wieder ihre Würde, ihre Wahrheit und Schönheit, ihre Heilung und Heiligung bekommen?
In unserer modernen Welt kommen Menschen aus vielen Kulturkreisen zusammen. Das führt auch immer wieder zu Missverständnissen und Irritationen im erotischen Bereich. Man stelle sich vor, es gäbe hier mehr erfahrene und wissende Männer und Frauen, die feinfühlig und mutig genug sind, auch über diese Themen offen zu sprechen. Vereinzelt geschieht dies bereits. Das sind wesentliche Beiträge für den Übergang in eine freie und multikulturelle Gesellschaft. Es geht hier um sexuelles Wissen, das uns von innen verstehen lässt, was Männer oder auch Frauen zu Gewalttätern werden lässt, und es geht um die Aneignung einer Frauenmacht, nicht länger aus Angst vor dem Mann zu schweigen. Denn es liegt jetzt wesentlich an uns Frauen, ob ein neuer Humanismus Wirklichkeit werden kann.
Wir — Frauen und Männer — sind an diesem Punkt herausgefordert, eine solidarische Bewegung zu formieren, die die sexuellen Hintergründe durchschaut und mutig beim Namen nennt. Es geht nicht um neue Anfeindungen und weitere Verschärfung der Fronten zwischen Frauen und Männern, sondern um Aufklärung, die mithelfen kann, die sexuelle Gewalt auf dieser Erde zu durchschauen und zu beenden.
Das Erwachen aus der Hypnose
von Sabine Lichtenfels
Ein großes Erwachen geschieht in uns Frauen. Der Ruf nach Gleichberechtigung war erst der Anfang, unser wirklicher Austritt aus dem Patriarchat reicht viel tiefer. Wir sehen das maßlose Leiden, das Ringen von Opfern und Tätern, das aus einer großen Hypnose hervorging. Wir erkennen, dass wir aus der Hypnose nur erwachen, wenn wir keine Anklage mehr gegen den Mann richten. Beide — Männer und Frauen — sind Opfer einer fehlgelaufenen Geschichte, und wir sind Mittäter. Wir haben uns gegenseitig nichts mehr vorzuwerfen. Eine neue Solidarität erwacht.
Lange hat der Mann von seiner künstlichen Stärke leben können. Jetzt beginnt er zu begreifen, was er den Frauen und dem Leben auf der Erde angetan hat und wie er sich dabei selbst um sein Glück gebracht hat. Er sieht ein, dass er bisher nicht fähig gewesen ist, die Frauen zu lieben. Er muss sich zu der Erkenntnis durchringen, dass es Angst war, die sich unter dem Mantel der Macht verbarg. Angst hatte sich als Herrschsucht, Wut und Gewalt maskiert. Tiefe Reue erfasst ihn — aber auch Wissen, dass es Vergebung gibt.
Der Mann beginnt zu erkennen, dass die Frau nicht nur aus einem verlockenden Leib besteht, sondern eine Seele hat, einen Geist, ein eigenes Wissen und einen eigenen Willen. Er beginnt, ihre Geschichte, ihr Schicksal zu verstehen, ihren Schmerz und seine Mitverantwortung daran.
Mitgefühl öffnet sein Herz. Jetzt, da er seine Liebe zur Frau wiederentdeckt, da er sich ihr öffnet bis ins Mark, bricht das Machtspiel der patriarchalen Welt in sich zusammen, und er beginnt, sie als wirkliche Partnerin zu suchen.
Wir — Mann und Frau — erkennen: Wir sind gemeinsam in einer Sackgasse gelandet und aufgefordert, einen Ausweg zu finden. Ein Meer von Tränen schwemmt nun fort, was uns bisher von der Realität des Lebens getrennt hat. Indem wir diese Tränen ganz erlauben, werden wir an den mächtigen Punkt der Vergebung geführt. Es ist Vergebung, die in die neue Gegenwart führt. Gemeinsam setzen wir unsere Kraft und Liebe für das Leben auf der Erde ein.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Und sie erkannten sich: Das Ende der sexuellen Gewalt“.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Zu MeToo: Das Aufbegehren von Schauspielerinnen gegen sexuelle Übergriffe in Hollywood im Herbst 2017 löste eine weltweite Debatte — MeToo, „Ich auch“— über sexuelle Macht und Gewalt aus, nicht nur in der Filmbranche.
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