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Die stumme Herde

Die stumme Herde

Unter dem Vermummungsdiktat herrscht in deutschen Supermärkten eine beklemmende Atmosphäre.

von Max Stadler

Meine Frau hat mir einen Einkaufszettel geschrieben. Nur halb leserlich, wie immer. Aber das ist mein Job, das Einkaufen, ich steige auf das Rad. Die Sonne scheint, fast zwanzig Grad. Ich hole tief Luft, ein schöner Tag. Ich beschließe, ein wenig weiter zu fahren. Nicht gleich um die Ecke einzukaufen, sondern zum Einkaufszentrum zu düsen. Das ist zwar zehn Kilometer weg, aber bei diesem Wetter ist die Strecke ein Vergnügen.

Als ich bei den Spandau Arcaden ankomme, traue ich kaum meinen Augen. Ich bin der einzige Mensch ohne Maske. Bleiche und leere Augen starren mich hinter Stoffstücken an. Ich fahre mit der Rolltreppe nach oben. Vor der Post: eine endlose Schlange. Ein Mann macht panisch einige Schritte beiseite, als er mein maskenloses Gesicht erblickt.

Ich bin darauf nicht vorbereitet. In fünfzehn Bundesländern herrscht Maskenzwang, doch Berlin war davon ausgenommen. Das dachte ich. Und jetzt bin ich umzingelt von vermummten Gestalten; alles wirkt herzlos und kalt. Ich mache kehrt und verlasse das Einkaufszentrum, steige auf mein Rad und fahre zum nächstgelegenen Supermarkt.

Auch hier überall maskierte Visagen. Ich fahre weiter. Beim nächsten Supermarkt frage ich den vermummten Sicherheitsposten am Eingang, warum alle eine Maske tragen müssen. „Ist seit gestern Pflicht“, teilt er mir mit, zieht dabei seine Maske ab und lächelt mir zu. „Wir haben aber hier welche, wenn Sie Ihre vergessen haben.“

Das Lächeln entschädigt mich ein wenig für die Beklemmung der vergangenen Minuten. Ich schüttle den Kopf und sage: „Ich ziehe keine Maske an.“ Er zuckt mit den Schultern und zieht sein Stoffstück wieder über Mund und Nase.

Ich gehe zur gegenüberliegenden Pizzeria und bestelle Pizza, Pasta und Spargel zum Mitnehmen. Dabei erzählt mir der überaus freundliche und maskenlose Besitzer, dass neulich eine Anwohnerin die Polizei gerufen habe, weil er wartenden Kunden einen Espresso spendiert habe. Und fragt mich im nächsten Atemzug: „Wollen Sie einen Kaffee?“

Dann nippe ich genießerisch an dem braunen Gesöff und beobachte, wie sich die Leute vor dem Supermarkt in ihre Masken zwängen und nach einem prüfenden Blick durch die Security eingelassen werden. Untertanentest bestanden, denke ich. Gestern noch frei, heute Sklave. Und fast alle beugen das Haupt.

Es macht ja jeder.


Max Stadler, Jahrgang 1981, studierte Literaturwissenschaften und Geschichte in Straßburg, Uppsala und Freiburg. Seit 2006 ist er als freier Übersetzer und Autor tätig. Er ist unter anderem die deutsche Stimme des norwegischen Enfant terrible Matias Faldbakken sowie zahlreicher weiterer Autoren, darunter DBC Pierre und John L. Parker. Er hat Helene Hegemann ins Französische übertragen.


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


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