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Die sterbende Staatsform

Die sterbende Staatsform

Die deutsche Demokratie könnte an der allseits wachsenden Unfähigkeit zum Dialog zugrunde gehen, der durch eine unduldsame Bekenntnisrhetorik ersetzt wird.

Circa 30 Prozent der Menschen in Thüringen und Sachsen und auch etwa 30 Prozent im Bundesgebiet wenden sich von der Politik ab beziehungsweise wenden sich der AfD oder anderen, populär definierten Parteien wie dem BSW zu.

Nach langer Zeit meines internen Abwägens und der Suche nach Begründungen stößt es mir immer mehr auf, mit welcher Eindeutigkeit und pauschalen Abwertung demokratische Meinungsbildung abläuft. Wie aus einem Guss wird von der Mündigkeit eines jeden Wählers gesprochen, die scheinbar klar definierte Würde eines jeden Menschen proklamiert und — welch ein Widerspruch in sich — ein konsistentes Demokratieverständnis vorausgesetzt. Ist es doch gerade der Sinn der Demokratie, dass es moralische Unterschiede in der Stimmabgabe gibt. Ich verteidige hier keine politische Richtung, doch manchmal scheint es so, als ob nur das Kreuz auf dem Wahlzettel akzeptiert, ja toleriert wird, das auf das klassische Parteienportfolio fällt oder die unbedeutenden Stimmen der vielen Splitterparteien betrifft. Letztere sind mit ihren vielfältigen Inhalten oft unbekannt, können als harmlos angesehen werden und fallen daher nicht ins Gewicht.

Statt offen miteinander umzugehen ist in der derzeitigen Demokratie die aktuelle Berichterstattung oder der persönliche Meinungsaustausch von Arroganz, Abwertung und oft unhinterfragten Wertvorstellungen geprägt.

Ich bin wahrhaftig kein rechtsextremer Mensch, doch müssen konservative Wertvorstellungen immer mit dem verbrannten Begriff „rechts“ gleichgesetzt werden? Mir sind dogmatische oder einseitig vehement auftretende Menschen jeglicher Couleur eher suspekt. Seit Jahren beschäftige ich mich mit der praktischen Bedeutung der Menschenwürde und versuche, diesem nebulösen und mächtigen Begriff aus Artikel 1 des Grundgesetzes näher zu kommen. Dabei baue ich Brücken zwischen verschiedenen mentalen Weltbildern, weil jeder Mensch eine unantastbare Würde in sich trägt, bei der seine Gesinnung zuerst unbedeutend ist.

Gerade in den letzten Jahren erlebe ich zunehmend eine sich ausbreitende „kognitive Dissonanz“. Hierbei bilden sich als unangenehm empfundene Gefühlszustände in erheblichem Widerspruch zu den damit verbundenen mentalen Begründungen aus. Dies fällt mir besonders bei Menschen auf, die genau zu wissen glauben, wie sich ein guter und politisch korrekter Mensch zu verhalten hat, und dabei die anderen Meinungen, gar den Menschen, oft ungeprüft ablehnen. Sie wissen, was „richtig“ ist, berufen sich auf bestehende Werte, verneinen eine Überprüfung und bezeichnen dabei oft aus Unwissenheit andersdenkende Menschen pauschal mit unsäglichen abwertenden Begriffen. Häufig resultiert dies aus einseitiger Unkenntnis, der Ablehnung einer sachlichen Auseinandersetzung oder basiert auf einer fast automatisierten Abneigung.

Selbst bei guten Freunden und in den zum Teil weiterhin sehr geschätzten klassischen Medien erlebe ich eine zunehmende, in eine Richtung weisende Eindeutigkeit, andererseits einer Oberflächlichkeit bezüglich bedeutsamer Themen und fehlende Ausgewogenheit. Charakteristisch ist der Rückgriff auf plakative Meinungen, die Verbreitung von Angst durch belastete Begriffe wie zum Beispiel Nazi-Deutschland, Eliten, Mainstream, undifferenzierte Aussagen oder emotionale Begrenzungen. Nivellierte und aus dem Gesamtzusammenhang gerissene Extremismusunterstellungen stehen in erheblichem Widerspruch zum grundlegenden Austausch in einer Demokratie.

Auch auf vielen alternativen, sogenannten freien Medienkanälen höre oder lese ich eine radikalisierte Sprache, eine eher idealisierte und einseitig wirkende Berichterstattung, doch zumeist die Bereitschaft für einen Austausch.

So frage ich mich: Wo liegen für all dies die Ursachen, dass ein Bekenntnis zur Tradition, zu auch wichtigen konservativen Werten, Menschen, die sich grundsätzlich als Demokraten bezeichnen, sich so weit voneinander entfernen können? Warum und wieso kommt es zu diesem Auseinanderdriften, zum stillen Protest und zur offenen Verweigerung des gegenseitigen Austausches? Es ist stetig leichter zu verurteilen, als sich auf einen demokratischen Dialog einzulassen. Dafür bedarf es Zeit, Einsatz und Wissen, das in der heutigen Komplexität immer schwerer scheint.

Doch gerade weil sich die Menschheit bekanntlich an einem Wendepunkt befindet, haben sich nationale wie europäische Wertediskussionen den Herausforderungen einer globalen digitalen Ökonomie zu stellen. Dennoch scheinen viele Menschen gerade in Deutschland, das auch als Land viel zu verlieren hat, eine heilige und unantastbare Monstranz der Besitzstandswahrung vor sich herzuschieben beziehungsweise die Scheuklappen der goldenen Vergangenheit angelegt zu haben.

Trotz der sich vollziehenden radikalen gesellschaftlichen Veränderungen, bei denen nur unpolitische Menschen ein „Weiter so!“ fordern können, dominiert die Traumwelt rückwärtsgewandter Denkmuster. Egal ob „links“ oder „rechts“, es ist in jedem Austausch wichtig, zwischen konservativ, progressiv und extremistisch zu unterscheiden.

Leider erlebe ich gerade bei denen, die das bestehende System eher pauschal verteidigen, eine hartnäckige Mentalität, dem Unbekannten, Ungewissen, Mehrdeutigen und Komplexen auszuweichen.

Wird also das permanent sichtbar gemachte scheinbar Feindselige, also das Populäre, sich national oder transhuman Verortende angegriffen? Sollen durch eine subtile wie offene Abwertung der eigene Besitzstand so lange wie möglich aufrechterhalten und notwendige Veränderungen verschleppt werden, ganz im Sinne Konrad Adenauers Spruch „es wird schon gut gehen“?

Mich jedenfalls erschreckt gerade wegen der Unantastbarkeit von Würde immer mehr, mit welcher Degradierung viele Menschen den Ausschluss einer kritischen Menge von Menschen billigend in Kauf nehmen.

Es kommt mir vor wie ein innerer Brain Drain von Kompetenz und Menschlichkeit. Ich halte dies für ein ebenso würdeloses Verhalten, sich einem Dialog zu verwehren, wie jede Anmaßung, das vermeintliche Wissen, die einzig richtige Sichtweise in sich zu tragen.

Bei all dem habe ich im Blick, dass unsere Geschichte uns Deutsche zu Recht vor einer braunen Gefahr warnt. Doch ist alles braun, was medial als braun bezeichnet wird? Doch die offensichtliche Feindseligkeit, mit der heute kritische, sachlich reflektierende Argumente oft ungeprüft in die Ecke des Bösen gestellt werden, entsetzt mich und beleidigt mein Menschsein. Gleichzeitig könnten wir nach unserer deutschen Geschichte auch die DDR mit ihren „linken“ Ansichten als Brandmauer hochziehen. Doch solche Ansichten haben sich heute aufgrund politischer Entscheidungen eher als „Wokeness“etabliert. Dabei wird mir wieder bewusst, wie sehr mediale Welt- und Menschenbilder den Geist gleichförmig prägen und ihn seiner Kreativität, Klarheit und des gesunden Menschenverstandes beraubt.

In allem wird deutlich, wie jeder innere Widerstand gegen Veränderung in die eine oder andere Richtung als Gradmesser für die eigene Potenzialentfaltung dient. Denn die Ausgrenzung durch emotionale Ablehnung anderer Menschen blutet den ursprünglichen Charakter oder zumindest den Urgedanken der Demokratie im Menschen aus. Gerade die Kraft und die Chancen des inneren Empfindens von Widerstand auf ein „besser werden“ und Dazulernen werden übersehen. Mich erschüttert, mit welcher scheinbaren Eindeutigkeit und Einseitigkeit viele Menschen persönlich und medial auf die Transformation der Vielfalt von Wertebildern im Übergang in eine neue Zeit verstärkter Steuerung durch die Fetische „Geld“ und „KI“ reagieren. In mir verstärkt sich die These, dass gerade dieses subtile Verhalten eines Verschweigens, Verdrehens und Ausblendens von Faktenprüfungen oft mehr spaltet, als es extreme Tendenzen wahrscheinlich könnten.

Mich schmerzt es, in Begegnungen zu erleben, wie sehr der Fokus einer Zukunftsgestaltung oft aus einer sehr engen Abwägung und dem Motor der Angst heraus geschieht. Als Lösung werden häufig der Begriff der Verantwortung und die Erinnerung an schlimme Zeiten genannt.

Leider häufig ohne genau zu benennen, wofür wir sie in diesen unklaren Zeiten einsetzen könnten. Denn dafür bedarf es auch einer gebotenen Streitkultur. Schade, denn gerade jetzt gäbe so viel voneinander zu lernen, wenn Menschen sich öffnen und gemeinsam ein neues Bauchgefühl für eine neue Zeit entwickeln, zu dem was Recht und Unrecht bedeutet.


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