Diskriminierung und Handlungsziel
Soziologisch motivierte Abhandlungen über Rassismus und andere Formen der Diskriminierung in Deutschland verweisen gern auf die Kolonialpolitik des deutschen Kaiserreiches. Dafür scheinen mir vor allem zwei Gründe verantwortlich zu sein. Zum ersten folgen die meisten identitätspolitischen Publikationen über Rassismus in Deutschland der Argumentationslogik entsprechender früherer Publikationen in den USA und Großbritannien.
Vor allem die USA haben einen erheblichen Anteil dunkelhäutiger Bevölkerung, circa 13 bis 14 Prozent; Großbritannien circa 3 Prozent, und beide Länder verfügen über eine lange und folgenreiche Sklaven- beziehungsweise Kolonialgeschichte. Auf Deutschland trifft keiner dieser zwei Sachverhalte zu. Der heutige Anteil dunkelhäutiger Mitbürger an der Gesamtbevölkerung ist verschwindend gering, deutlich unter 1 Prozent. Selbst dieser Anteil stammt nicht aus ehemaligen Kolonien, sondern es handelt sich um Flüchtlinge und Migranten der letzten Jahre oder um Kinder aus Verbindungen mit Angehörigen ehemaliger Besatzungsmächte.
Zudem war die deutsche Kolonialpolitik nicht Teil einer durch rassistische Auffassungen motivierten übergreifenden staatlichen Strategie, sondern bestand aus unzusammenhängenden, wenn auch zum Teil brutalsten, Maßnahmen zur Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen deutscher Kaufleute. Mit anderen Worten: Deutsche haben die Bevölkerung deutscher Kolonien aus finanziellen und nicht aus rassistischen Gründen unterdrückt und ausgebeutet. Auch sind weder Kolonialpolitik noch Herabsetzung und Versklavung anderer Völker noch der Sklavenhandel eine Erfindung weißer alter Männer — wie in zahlreichen identitätspolitischen Publikationen unterstellt.
Tatsächlich war die Sklaverei innerhalb von Afrika bereits lange vor dem internationalen Sklavenhandel unter Beteiligung europäischer Mächte gängige Praxis, wie etwa in Ägypten und dem islamischen Westafrika. Auch in Asien, etwa ausgehend vom heutigen Iran oder Afghanistan, wurden Kolonialismus und Sklaverei vielfach praktiziert. Dies ist der Grund, warum Vincent Brown von der Harvard University in dem Arte-Film „Menschenhandel: Eine kurze Geschichte der Sklaverei“ ausführt:
„Die Geschichte der Sklaverei ist keine schwarze Geschichte und auch nicht nur die Geschichte der weißen Kolonisierung, sondern die Geschichte menschlicher Ungleichheit, die unser aller Erbe ist. Ein Erbe, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Die Weißen dürfen sich nicht nur als Nachkommen von Sklavenhaltern sehen. Sie müssen sich auch als Nachkommen von Sklaven verstehen. Auch die Schwarzen müssen sich als Nachkommen von Sklavenhaltern sehen.“
Der zweite Grund, warum Abhandlungen über Rassismus gern auf die deutsche Kolonialpolitik verweisen, besteht in dem Versuch, dadurch die Hypothese eines wie auch immer gearteten „strukturellen Rassismus“ plausibel zu machen, der spätestens seit dieser Zeit in den Institutionen verankert sein soll — eine Überlegung, die ich am Ende dieses Kapitels besprechen werde.
Das Beispiel der Kolonialpolitik des Kaiserreiches ist deswegen interessant, weil es überraschende Parallelen zu den Erfahrungen von Jimmy Hartwig aufweist. Vor allem das Engagement des deutschen Kaiserreiches in Afrika ging auf die privaten Initiativen deutscher Kaufleute zurück, wie des Kaufmanns Adolf Lüderitz in Südwestafrika oder von Carl Peters in Ostafrika. Diese Initiativen hatten ausschließlich ökonomische Ziele und auch Bismarck betrachtete die deutschen Kolonien zunächst vor allem als Handelsstützpunkte. Nur widerwillig entsandte der Reichstag Militär als sogenannte „Schutztruppen“ zur Verteidigung deutscher Handelsinteressen, allerdings mit der späteren Folge eines Vernichtungskrieges und Völkermords an den Herero und Nama.
Die für uns wesentliche Frage besteht nun darin, welche Beziehung zwischen diesen und anderen Gräueltaten in Verbindung mit deutscher Kolonialpolitik einerseits und rassistischer Ideologie andererseits besteht.
Die Überlegungen von Aktivisten unterstellen in der Regel eine kausale Beziehung: Die rassistische Sicht auf Afrikaner und Einwohner anderer Kolonien haben ursächlich sowohl die Kolonialpolitik als auch die damit verbundenen Gräueltaten bewirkt. Nichts scheint mir weniger plausibel. Alle verfügbaren Belege weisen auf vor allem ökonomische Ziele sowohl der ursprünglichen Besitzerwerbungen als auch der zur Wahrung dieser Besitze eingesetzten militärischen Maßnahmen hin.
Auch wenn also zum Beispiel Peters als „einer der grausamsten deutschen Kolonialisten”, so Joshua Kwesi Aikins im Interview mit dem Goethe-Institut, gelten kann, so wird er seine Besitzungen kaum aus Rassenhass erworben und verteidigt haben. Vielmehr hat die rassistische Ideologie sowohl den betroffenen Privatpersonen als auch dem deutschen Reichstag als willkommene Rechtfertigung ihrer Taten gedient.
Wir begegnen hier also gewissermaßen auf staatlicher Ebene demselben Prinzip, das wir im Abschnitt über Meinung und Verhalten auf der persönlichen Ebene gesehen haben: Meinungen sind keineswegs Voraussetzungen oder Gründe menschlichen Handelns, sondern sie entstehen erst durch die Kommunikation über diese Handlungen, durch den Versuch der öffentlichen Rechtfertigung dieser Handlungen.
Wie kommt nun aber Jimmy Hartwig ins Spiel? Der von ihm berichtete Vorfall liegt viele Jahrzehnte zurück, aber Beleidigungen dunkelhäutiger Gegenspieler durch Fans haben auch in jüngster Zeit zu Spielabbrüchen geführt, und Affengeräusche sind immer noch Alltag in deutschen und anderen Fußballstadien — genauer gesagt: bei Spielen von Männerteams.
Schlimmer noch: In den mittlerweile entstandenen sozialen Medien erleben dunkelhäutige Spieler immer wieder Shitstorms, wie die englischen Nationalspieler Rashford, Sancho und Saka, nachdem sie ihre Elfmeter im Finale der Fußballeuropameisterschaft 2021 verschossen hatten. Mit Ausnahme dieses letzten Beispiels, das etwas komplexer gelagert ist, richten sich aber Kränkungen dunkelhäutiger Spieler fast ausnahmslos gegen Spieler der Gegenpartei. Wären die Urheber dieser Kränkungen tatsächlich rassistisch, wären sie also durch Rassenhass und eine abgrundtiefe Abneigung gegen dunkelhäutige Menschen getrieben, müssten sie genauso unduldsam und kränkend gegen dunkelhäutige Spieler ihrer eigenen Mannschaft vorgehen. Was sie aber nicht tun.
Ähnlich wie im Falle der deutschen Kolonialpolitik ist also rassistische Ideologie nicht die Triebfeder, nicht die Ursache des Handelns, sondern dessen Mittel. Kränkungen von Spielern der Gegenmannschaft haben ja in der Regel das Ziel, diese Mannschaft zu schwächen, um so die eigene Mannschaft zu unterstützen.
Kränkung ist also ein Mittel, um eigene Ziele zu erreichen. Wie aber erreiche ich die Kränkung einer anderen Person? Durch die Identifikation eines Schwachpunktes dieser Person, also eines Merkmals, dessen sich diese Person schämt oder wenigstens schämen könnte oder wegen dessen diese — oder eine vergleichbare — Person bereits vorher von anderen beleidigt oder ausgegrenzt wurde. Deswegen wurden Aílton mit Bezug auf seine Körperfülle, Alioski wegen seiner albanischen Abstammung und der Wasserballer Gutiérrez wegen seiner sexuellen Orientierung geschmäht, und im Zweifelsfall tut es auch das Angebot, Sex mit Familienangehörigen des Gegenübers zu haben.
Vor allem die Schmähung von Aílton als „Kugelblitz” kam in der Regel von gegnerischen Fans mit durchaus beachtlicher eigener Leibesfülle — eine natürliche Abneigung oder ein Vorurteil gegen vermeintlich oder tatsächlich dicke Menschen kann also nicht die Triebfeder gewesen sein. Kurzum, die Merkmale, die bei Schmähungen eingesetzt werden, werden nicht deswegen gewählt, weil man sie insgeheim oder offen ablehnt. Sondern weil man ahnt, dass deren Nennung die geschmähte Person kränken wird. Kränkungen sind also kein Ausdruck einer bestimmten Überzeugung oder Gesinnung, sondern ein Mittel, um gewisse Ziele zu erreichen.
Wie kommen Menschen auf Merkmale mit Kränkungspotenzial? Von welchen Merkmalen kann man annehmen, dass sie andere verletzen werden? Zum einen könnte man natürlich von spezifischen Schwächen der zu kränkenden Person wissen oder es könnte sich um Eigenschaften handeln, die für die meisten Menschen Schwachpunkte darstellen — wie etwa die Versuchung, über den eigenen Hunger hinweg zu essen oder Anstrengungen zu vermeiden, denken wir zum Beispiel an Mario Basler. Aber auch die öffentliche Diskussion trägt erheblich zur Identifikation von kränkenden Merkmalen bei. Die Wahl eines kränkenden Themas ist letztlich ein Entscheidungsproblem, das kreative Problemlösungsstrategien erfordert. Eine wichtige Strategie für derartige Problemlösungen ist die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik.
Der Denkpsychologe Gigerenzer und Kollegen haben zum Beispiel deutsche Versuchspersonen um Einschätzungen gebeten, zu denen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit viel zu wenig Hintergrundwissen mitbringen, wie etwa die Frage, welche der beiden amerikanischen Städte San Diego und San Antonio mehr Einwohner zählt. Da deutsche Versuchspersonen den Namen der Stadt San Diego mutmaßlich öfter gehört haben als den Namen der Stadt San Antonio, wurde erwartet, dass sie mehr Einwohner in der bekannteren Stadt vermuten würden — was tatsächlich auch der Fall war.
Wenn wir also unter großer Unsicherheit, das heißt angesichts geringen Wissens, nach einer Lösung suchen, dann neigen wir zur Auswahl von Lösungen, die uns als Erstes in den Sinn kommen, die also mental besser verfügbar sind. Dasselbe gilt natürlich für Lösungen, die sich bereits in unserem Kurzzeitgedächtnis aufhalten, weil sie täglich in den Medien erwähnt werden. Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft und sexuelle Orientierung sind dafür Musterbeispiele: Mit diesen Themen werden wir täglich konfrontiert und so bieten sie sich als wohlfeile Lösungen an, wo immer sie passen. Kränkungen sind dafür nur ein Beispiel.
Diese Überlegungen erklären, wie zumindest ein Teil von als rassistisch geltenden Übergriffen zustande kommt, und das ganz ohne die Notwendigkeit, bestimmte rassistische Überzeugungen aufseiten der Täter anzunehmen. Sie erklären allerdings nicht, warum die Neigung zunimmt, andere zu kränken, wie dies in den letzten Jahren der Fall ist. Sicher ist es leichter geworden, sehr viele Menschen mit sehr viel weniger Einsatz zu kränken: Um Jimmy Hartwig zu beleidigen, musste man noch ein Ticket erwerben, ein Fußballspiel miterleben und seine Stimme erheben.
Ein Eintrag bei Facebook und Twitter ist im Vergleich viel schneller geschrieben und kann sehr viel mehr Menschen auf einmal kränken. Zudem ist vielfach von einer Epidemie des Narzissmus die Rede, also von einer stetigen Zunahme persönlicher Selbstüberschätzung, die oft mit einer Zunahme von Aggression und Gewalt einhergeht. Die Gründe dieser Zunahme sind noch nicht eindeutig bestimmt.
Helikopter-Erziehung und der stetige Schutz Heranwachsender vor negativen Rückmeldungen sind plausible Faktoren, vor allem in Verbindung mit Meinungsblasen in den sozialen Medien. Jedenfalls werden wir im Abschnitt über Gruppe und Bewertung sehen, wie die eigene Selbstüberschätzung unmittelbar zur Abwertung anderer führt. In jedem Fall können wir festhalten, dass jede öffentliche
Aufmerksamkeit auf bestimmte Personenmerkmale mit Kränkungspotenzial die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass dieses Merkmal auch für persönliche Kränkungen eingesetzt wird — auch wenn wir oft das Gegenteil unterstellen.
Abbildung 4. Wie Diskriminierung entsteht
A. Die gängige identitätspolitische Theorie des Entstehens von rassistischem Verhalten geht von der Existenz einer Art „historischen Geistes“ aus, der in unklarer Weise „Besitz“ von unseren Institutionen nimmt und die damit in Berührung kommenden Personen infiziert. Neugeborene sind dieser Überlegung zufolge zunächst unschuldig (Tabula rasa; unbeschriebene Blätter) und werden erst durch Kontakt mit den infizierten Institutionen (Schule, Universität, Gesellschaft) zu Rassisten — ohne das selbst zu ahnen. Einmal Rassist, haben Menschen dann (jedenfalls ohne die nötigen gesellschaftlichen oder individuellen Gegenmaßnahmen) die unwillkürliche Tendenz, andere aufgrund ihrer abweichenden Eigenschaften zu diskriminieren.
B. Die handlungstheoretische Alternative geht davon aus, dass Diskriminierung nicht durch das Ausagieren interner Bedürfnisse entsteht, sondern instrumentell für das Erreichen von (meist sozialen) Zielen eingesetzt wird. Im Beispiel wurden Bernhard und Claudia zu einem Jobinterview eingeladen. Bernhard realisiert, dass Claudia aufgrund ihrer Fähigkeiten viel besser für den Job geeignet wäre, und fürchtet daher, den Job nicht zu bekommen. Um die bessere Eignung von Claudia abzuwerten, diskriminiert Bernhard Claudia aufgrund ihres abweichenden Merkmals. Wesentlich für den Erfolg dieser Strategie ist nicht, ob Bernhard dieses Merkmal tatsächlich ablehnt, sondern ob der Jobinterviewer es tut und ob die Kränkung von Claudia gelingt.
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Quellen und Anmerkungen:
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