Abzocke durch geplanten Verschleiß
Eine sehr weit verbreitete Form von Kundenabzocke ist die heimliche Verkürzung der Produktlebensdauer, sodass die Geräte schneller kaputtgehen. Dadurch müssen die Verbraucher schneller Ersatzgeräte kaufen (1). Das kurbelt den Umsatz und damit die Gewinne kräftig an. Der Fachausruck dafür lautet: geplanter Verschleiß oder geplante Obsoleszenz (2). Es ist eine Spielart der verdeckten Produktverschlechterung.
Der Grundgedanke
Letztlich läuft der geplante Verschleiß auf eine verdeckte Preiserhöhung hinaus. Wenn nämlich ein Kunde ein Produkt erwirbt, kauft er im Normalfall die Nutzung für einen bestimmten Zeitraum in der Zukunft. Wenn man sich eine Waschmaschine kauft, möchte man so und so viele Ladungen Wäsche sauber bekommen. Wenn man einen Rasierer ersteht, möchte man sich so und so oft rasieren. Wird vom Hersteller die Haltbarkeit des Produkts heimlich verkürzt, ohne dass der Preis entsprechend gesenkt wird, steigt der Preis pro Nutzung.
Eine solche verdeckte Preiserhöhung hat für den Hersteller den Vorteil, dass sie von uns Käufern nicht so leicht erkannt wird wie eine offene Preiserhöhung, weil es oft Jahre dauert, bis man es merkt.
Ein Beispiel: Angenommen, es gibt für elektrische Rasierapparate zwei größere Anbieter, die den Markt dominieren, Anbieter A und Anbieter B. Da praktisch jeder Mann, der sich trocken rasieren möchte, bereits einen elektrischen Rasierer hat, ist der Markt weitgehend gesättigt, und es gibt kaum mehr Wachstumspotenzial. Die durchschnittliche Lebensdauer der Elektrorasierer liege bei etwa zehn Jahren. Die Umsätze wachsen kaum, die Rentabilität beziehungsweise die Gewinne stehen wegen des Wettbewerbs unter Druck. Damit in dieser unglücklichen Situation die Gewinne beziehungsweise die Renditen auf das eingesetzte Kapital trotzdem erhöht werden können, hat Anbieter A die Idee, bei einer neuen Modellreihe billigeres Material zu verwenden, beispielsweise Plastik statt Stahl, oder die Verarbeitung etwas schlechter zu machen. Dadurch verringern sich die Kosten, außerdem wird die Lebensdauer etwas kürzer, vielleicht sinkt sie von zehn auf neun Jahre. Ganz wichtig dabei ist, dass die Verkürzung der Lebensdauer so gering ist, dass die Käufer sie nicht wahrnehmen, das heißt, sie muss unter der Wahrnehmungsschwelle der Kunden bleiben und verborgen ablaufen, sodass wir Kunden es nicht merken.
Anbieter A hat von dieser Strategie zwei Vorteile:
- Kosteneinsparungen durch die billigeren Materialien bzw. die einfachere Verarbeitung. Das erhöht sofort die Gewinne beziehungsweise Renditen auf das eingesetzte Kapital.
- Nach einigen Jahren steigt der Umsatz, da nun die kürzere Lebensdauer der Produkte zum Tragen kommt. Gewinn und Kapitalrendite steigen noch mal, und der Marktanteil wächst.
Ein Zahlenbeispiel dazu: Angenommen, ein elektrischer Rasierer kostet 100 Euro und hat eine Laufzeit von 2.000 Rasuren, so kostet einmal rasieren 5 Cent. Wird die Laufzeit um 20 Prozent auf 1.600 Rasuren reduziert, so erhöht sich der Preis pro Rasur um 25 Prozent auf 6,25 Cent, eine stattliche Preiserhöhung. Bei gleichbleibenden oder gar sinkenden Herstellkosten bedeutet das einen riesigen Anstieg der Gewinne.
Anbieter B sieht den Erfolg von Anbieter A, dessen steigenden Gewinn, dessen steigenden Aktienkurs, und hat berechtigte Angst vor Marktanteilsverlusten. So greift er zur gleichen Strategie. Auch er spart an der Qualität der eingesetzten Materialien und der Verarbeitung. Dadurch verringert sich auch bei ihm die Haltbarkeit der Rasierapparate, zum Beispiel auf acht Jahre. Nun kann Anbieter A diese Erfolgsstrategie weiter forcieren, und das Spiel beginnt von vorn mit dem Ergebnis, dass über viele Jahre hinweg die Lebensdauer der Produkte ständig leicht abnimmt, sodass sie sich zum Beispiel über einen Zeitraum von 20 Jahren halbiert (3).
Diese Strategie der verdeckten Haltbarkeitsverkürzung wird vom Markt in Form niedrigerer Kosten, steigender Umsätze und steigender Gewinne belohnt statt durch Kundenabwanderung bestraft.
Produzenten, die bei diesem „Spiel“ nicht mitmachen, werden vom Markt durch niedrigere Gewinne und Umsätze bestraft.
Erschwerte oder verteuerte Reparierbarkeit
Eine andere, sehr weit verbreitete Form dieses Kundenbetrugs ist, dass die Reparierbarkeit von Produkten verhindert oder erschwert wird. Zum Beispiel werden von den Herstellern immer häufiger nicht auswechselbare Akkus in Elektrogeräte eingebaut. Oder man lässt die Ersatzteile auslaufen. Oder man macht Ersatzteile, Service und Wartung besonders teuer. Oder man konstruiert die neuen Geräte so, dass die Ersatzteile nicht mehr zu den alten Modellen passen. Das nennt man im Fachjargon geplante Inkompatibilität (4). Durch diese zahlreichen Tricks werden Reparaturen dramatisch teurer, und so kauft der Verbraucher lieber gleich ein Neuprodukt: Mission completed, Gewinn steigt, Kunde übertölpelt.
Intransparenz und unvollständige Information
Die Strategie geplanter Obsoleszenz funktioniert nur, wenn die Verschlechterung der Produkte verdeckt abläuft, sodass sie unter der Wahrnehmungsschwelle des Kunden bleibt. Diese Fragestellung bringt die Zeitschrift Absatzwirtschaft gut auf den Punkt: „Wie schnell darf Ware verfallen, ohne zu enttäuschen?“ (4). Die Gefahr, dass Kunden zur Konkurrenz abwandern, besteht nur dann, wenn der Hersteller einen zu großen, auffälligen oder wahrnehmbaren Sprung in der Lebenszeitverkürzung macht.
Doch selbst wenn die Lebensdauerverkürzung ganz offen wahrnehmbar ist, schadet das den Herstellern nicht wirklich, wie das Beispiel von Apple und Samsung zeigt: Im Herbst 2018 wurde Apple von der italienischen Wettbewerbsbehörde wegen „geplanter Obsoleszenz“ (5) zu einer Strafe von — lächerlichen — 10 Millionen Euro verurteilt, Samsung zu einer Strafe von 5 Millionen Euro.
Die Begründung der italienischen Behörde lautete, Apple und Samsung hätten „unlautere Geschäftspraktiken“ angewandt, indem sie die Software in alten Geräten zu der Zeit, als neue Modelle auf den Markt kamen, bewusst verlangsamt hätten, um Ersatzkäufe von Kunden zu beschleunigen (6). Die Strafzahlung hatte keine erkennbaren Auswirkungen auf den Aktienkurs von Apple. Am 23. Oktober 2018 betrug der Apple-Kurs 222,73 US-Dollar beziehungsweise 189,18 Euro, am 24. Oktober 215,09 US-Dollar oder 192,31 Euro, eine Woche später am 31. Oktober 218,86 US-Dollar beziehungsweise 193,73 Euro.
Der Aktienkurs fiel in US-Dollar also fast gar nicht, in Euro stieg er sogar als Reaktion auf das Behördenurteil. Das sagt alles. Ähnlich bei Samsung: am 23. Oktober 2018, einen Tag vor der Strafankündigung, betrug der Aktienkurs 668,99 Euro, am 24. Oktober 657,31 Euro, am 31. Oktober, also eine Woche nach der Strafankündigung, 689,50 Euro (7). Der Aktienkurs von Samsung stieg also in den sieben Tagen nach der Strafe um 3 Prozent. Das kann man nicht gerade eine große Sanktion nennen.
Den Märkten scheinen die Behördenentscheidungen reichlich egal zu sein. Die mantraartigen Wiederholungen, ein Konzern könne sich keinesfalls erlauben, Kunden zu übervorteilen, könne sich nicht leisten, eine öffentliche Blamage zu erleiden, denn das führe zu einem irreparablem Ruf-Schaden, sind unseres Erachtens bloßes Geschwätz und haben wenig mit der Realität zu tun. Das sind reine Werbeaussagen. Damit soll nur der Mythos kultiviert werden, Unternehmen könnten sich Kundenbetrug und Verbrauchertäuschung gar nicht leisten. Intransparenz beziehungsweise unvollständige Information seitens der Konsumenten sind also von zentraler Bedeutung.
So kann man sich zum Beispiel fragen, ob folgende Informationen zu dem Produkt zum Kaufzeitpunkt vorhanden sind:
- Wie lange halte ich?
- Kann man mich reparieren? (Bin ich verklebt oder verschraubt?)
- Gibt es für mich nach drei Jahren noch Ersatzteile?
- Was kosten meine Ersatzteile?
- Was kostet meine Reparatur in drei Jahren?
- Was kostet meine Entsorgung?
All diese Information haben die Käufer von Produkten im Normalfall beim Einkaufen nicht. Zentrale Produktangaben fehlen uns also beim Kauf in den allermeisten Fällen. Das ist kein Zufall. Die Hersteller wollen diese Daten selbstverständlich nicht offenlegen.
Konsumenten können sich beim Produktkauf daher nicht vernünftig für das beste Produkt entscheiden, da die „total costs of ownership“, die tatsächlichen Kosten über die Gesamtlebenszeit des Produktes, in den wenigsten Fällen ermittelbar sind (8). Mit anderen Worten: Die Käufer kennen beim Kauf der allermeisten Produkte nicht die Kosten pro Nutzung, beispielsweise die Kosten für eine Stunde staubsaugen, für einen Waschgang der Spül- oder Waschmaschine, für eine Tasse Kaffee und so weiter. Und wenn der tatsächliche Preis pro Nutzung nicht bekannt ist, kann sich der Konsument auch nicht für das preiswerteste Produkt entscheiden. Diese Nichtkenntnis macht es für die Hersteller möglich, die Produktlebenszeit heimlich zu verringern und damit die Preise heimlich zu erhöhen.
Lebensdauer: Geplant oder Zufall?
Die Rolle der Ingenieure
Unter Entwicklungsingenieuren herrscht weitgehende Einigkeit, dass die Lebensdauer von Produkten dank exzellenter Produktdatenmanagement-Software sehr genau plan- und berechenbar ist. Da die Lebensdauer eine der wichtigsten Produkteigenschaften ist, wird sie im Normalfall von Herstellern äußerst präzise geplant (9). Die Produkthaltbarkeit wird bei technischen Produkten im Normalfall nicht dem Zufall überlassen, sondern ist genau geplant.
Geplanter Verschleiß und Werbung oder: Verkürzung der Lebensdauer durch Einführung von Modezyklen
Bei einer sehr weit verbreiteten Art von geplantem Verschleiß, bei Mode- und Modellzyklen, muss der Kunde mitspielen. Häufig hört man dabei von den Herstellern das Argument, der Endverbraucher wünsche sich ja einen raschen Produktwechsel, er kaufe freiwillig die neuen Produkte, obwohl das alte Produkt technisch noch funktionsfähig sei. Stichworte hierzu sind Wegwerfgesellschaft beziehungsweise Wegwerfmentalität, die zumindest teilweise vom Endverbraucher ausgehe, wenn nicht gar von uns allen so gewünscht sei.
Durch die Unterstellung, der Konsument entscheide sich aus freiem Willen für vorzeitigen Ersatz, wird die Verantwortung für dieses Verhalten von der Industrie auf den Konsumenten geschoben.
Einer der international renommiertesten Experten im Bereich Marketing und Verfasser des Bestsellers „Buy-ology“, Martin Lindstrom, führt an: „Mit 66 Jahren werden die meisten von uns rund zwei Millionen Fernsehspots gesehen haben. Umgerechnet bedeutet das acht Stunden Werbung täglich an sieben Tagen in der Woche und das ganze sechs Jahre lang“ (10).
Pro Tag prasseln heute etwa 3.000 bis 13.000 Werbebotschaften auf uns ein (11). Laut der Wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland (DGKJ) sieht ein fernsehendes Kind pro Jahr 20.000 bis 40.000 Werbespots (12). Von Kindheit an werden die Endverbraucher mit einer sehr einseitigen Flut von Produktdarstellungen überschüttet. Also erst werden wir Konsumenten ab dem zweiten Lebensjahr mit einer riesigen Flut von Werbebotschaften überschüttet, die alle die eine zentrale Botschaft übermitteln: kauf — kauf — kauf, „haben statt sein“. Erst werden Bedürfnisse mit Dutzenden Milliarden Euro pro Jahr geschürt oder geweckt, und dann behauptet man, der Kunde wünsche das ja alles und die Industrie sei nur der Diener, bediene nur die Wünsche der Verbraucher. Diese Darstellung ist unseres Erachtens an Unehrlichkeit und Verlogenheit kaum zu überbieten.
Wer gewinnt?
Durch geplanten Verschleiß werden die Umsätze angekurbelt und die Gewinne erhöht. Die Nutznießer dieser Absatzstrategie — besser Abzockstrategie — sind daher die Aktionäre beziehungsweise die Shareholder der Großunternehmen. Das Eigentum an Unternehmen ist sehr ungleich verteilt. So sind beispielsweise nur 10 Prozent der deutschen Bevölkerung im Besitz von Betriebsvermögen, nur etwa 11 Prozent der deutschen Haushalte besitzen Aktien (13). Dabei ist die Eigentumskonzentration an der Spitze besonders stark. So kontrollieren in Deutschland 7.700 Haushalte, das sind 0,02 Prozent der Gesamtzahl, über die Hälfte des deutschen Betriebsvermögens (14).
Ähnlich ungleiche Verteilungsverhältnisse finden sich in fast allen anderen Ländern der Erde. Das Hauptmotiv für eine verdeckte Verkürzung der Produkthaltbarkeit ist Gewinnmaximierung, die vor allem von Großunternehmen besonders stark verfolgt wird. Deshalb wird die Strategie geplanter Verschleiß auch überwiegend von Großkonzernen angewandt. Dagegen sind Beschwerden zu geplanter Obsoleszenz bei mittelständischen, inhabergeführten Familienunternehmen sehr selten (15). Die Haupttreiber hinter geplanter Obsoleszenz sind daher die internationalen Kapitalmärkte, die ständig höhere Gewinne fordern (16).
Quellen und Anmerkungen:
Bei Interesse entnehmen Sie die Quellen und Anmerkungen bitte dem Buch „Blenden Wuchern Lamentieren: Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt“.
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