Die achtjährige Bertha hält es bei ihrem hartherzigen Vater, einem Schäfer, nicht mehr aus und flüchtet allein in die Waldeinsamkeit. Sie wird dort von einer alten Frau aufgenommen. In einer idyllischen Hütte leben die beiden zusammen mit einem Hund und einem Vogel. Mit letzteren hat es eine besondere Bewandtnis: Er legt täglich ein Ei mit einer Perle darin. Bertha lernt das Spinnen und betreut die Tiere, wenn die Alte unterwegs ist. Es hätte alles so schön sein können — ein Idyll, in sich „rund“ und durch nichts getrübt. In der pubertierenden Bertha allerdings schwillt mit den Jahren die Sehnsucht nach der großen Welt „draußen“. Eines Tages stiehlt sie eine Schale voller Edelsteine, verlässt den Wald und den Hund. Den Vogel erwürgt sie, weil sein Lied ihr Gewissen beunruhigt.
Wenn die Waldeinsamkeit das Paradies war, dann ist dies der Sündenfall. „Der blonde Eckbert“ ist ein Kunstmärchen, geschrieben von dem Frühromantiker Ludwig Tieck, 1797. Die Brüder Grimm hatten ihre Märchensammlung damals längst noch nicht veröffentlicht. Ludwig Tieck, der erste große Geschichtenerzähler der Romantiker-Generation, überließ Aussage und „Moral“ nicht dem Zufall. Sein Märchen enthält eine deutliche Warnung. Die Perlen des Vogels — es waren Kostbarkeiten, die ungefährlich blieben, solange sie nur schönes Spiel waren, keinem Zweck, keiner Gewinnabsicht unterworfen. Als Bertha diese Schätze auf den Markt trägt, um sie zu verkaufen und „etwas zu werden“ in der Welt, zieht sie einen Fluch auf sich, der sie am Ende einholt. Die Geschichte endet mit Wahnsinn, Mord und Tod.
Nur Naturkitsch?
Romantik — was ist das eigentlich? Wer die historischen Hintergründe nicht kennt, hat vielleicht eine oberflächliche Vorstellung davon: Romantik habe etwas mit viel Gefühl zu tun, mit Rosamunde Pilcher-Filmen zum Beispiel oder Romantic Comedies mit Julia Roberts. Mit Gefühlen hat Romantik gewiss zu tun, und eine gewisse Skepsis gegenüber der vermeintlichen Allmacht des Verstandes wohnt ihr inne. So schrieb Novalis, ein Zeitgenosse Tiecks, 1799:
„Reizender und farbiger steht die Poesie, wie ein geschmücktes Indien dem kalten, toten Spitzbergen jenes Stubenverstandes gegenüber.“
Das ist nicht nur eine schöne Liebeserklärung an die Poesie, sondern auch selbst höchst poetisch.
Die andere wichtige Assoziation, die „Jeder“ mit Romantik verknüpft, ist Natur. Vor einigen Jahren veröffentlichte die „Welt“ einen großen Artikel mit dem Titel „Kann uns Romantik retten?“ Von einer Flucht aus unserer von Technik und Ratio übermäßig dominierten Moderne war darin die Rede. Auch von einem Bewusstseinswandel, der das Ende unseres Zivilisationsoptimismus einläute.
Von einer Sehnsucht „zurück zur Natur“ berichtet der Autor dort, festgemacht an ein paar Symptomen eines in jüngster Zeit aufflammenden Natur-Hypes. Die Landzeitschriften mit ihren ästhetischen Gartenfotografen werden da ins Feld geführt. Und Peter Wohlleben, der Sachbuchautor der Stunde, bekannt geworden durch seine einfühlsamen Werke über das Innenleben von Eichen und Eichhörnchen.
Der Artikel ist hoch interessant, hat jedoch in puncto Religion und Spiritualität einen blinden Fleck. Wie der pragmatische Peter Wohlleben, der Tieren zwar Gefühle und relative Komplexität zuschreibt, jedoch keine schöpferische, gar göttliche Kraft in ihnen wohnen sieht. Dies ist durchaus legitim, jedoch nicht im ursprünglichen Sinn romantisch.
Poesie, Religion, Anti-Ökonomismus
Rüdiger Safranski kommt da der Sache näher, wenn er in seiner großen literaturwissenschaftlichen Abhandlung „Romantik — eine deutsche Affäre“ schreibt, Romantik sei eine „Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln“. Diese religiöse Komponente ist unbedingt zu berücksichtigen. Sie wird ergänzt durch eine starke Abneigung gegen Ökonomismus und Zweckdenken. Dies ist die eigentliche „Romantikformel“ und repräsentiert zugleich das, was diese oft ironisierte Kunstrichtung für uns besonders aktuell macht: anti-ökonomistische Geistigkeit oder, mit den Worten Dorothee Sölles, „Mystik und Widerstand“. Poesie ist die dritte Komponente in diesem „Spiel“, sozusagen das Transportmittel jener anzustrebenden widerständigen Mystik.
Ziel der romantischen Bewegung, jeder romantischen Bewegung, ist die Poetisierung der Welt. Man müsste genauer sagen: ihre Wiederpoetisierung.
Zunächst noch einmal Genaueres zum Verhältnis Romantik und Religion: Kunst kann beschreiben — wie der griechische Philosoph Plotin es schön formulierte —, „wie die Seele von allen Seiten in die ruhende Welt einströmt, sich in sie ergießt, sie durchdringt und in sie hineinleuchtet“. Darin besteht auch die Funktion der Kunst: den aufgeschlossenen Leser aus der Halbblindheit der materialistischen Alltagswahrnehmung zu erlösen. Spirituelle Kunst kommt einem deshalb oft romantisch vor, weil Romantik immer schon spirituell gewesen ist. Das Wort wird heute vielfach missverstanden oder mit seichtem Liebeskitsch assoziiert. Dabei steht auch die romantische Liebe nur als irdisches Abbild für eine noch höhere, umfassende Form der Vereinigung.
Die Seele als Innenseite der Schöpfung
Der Urgrund romantischer Kunst ist das intuitive Wissen um die Einheit. Damit verbunden ist die Sehnsucht des scheinbar isolierten Einzelnen nach Wiederverschmelzung mit dem göttlichen Urgrund. Romantische Philosophie, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland ihre Blütezeit erlebte, zum Beispiel bei Fichte, Schelling und anderen, betrachtete die Natur als Außenseite der Seele, die Seele als Innenseite der Schöpfung, beide eigentlich nicht voneinander getrennt, sondern ein und dasselbe, nur aus zwei unterschiedlichen Perspektiven gesehen. Sprache, in ihrer wunderbaren Zweideutigkeit, ist das ideale Medium, um beide Seiten der Schöpfung — das Innen und das Außen — in Eines zu fassen.
Wenn der Dichter „Herbst“ sagt, kann er eine Jahreszeit meinen (außen), gleichzeitig aber auch Melancholie, Abschied, Niedergang, das Sterben einer beglückenden Liebesbeziehung (innen). Schon Schelling hatte diese Fähigkeit von Dichtung gepriesen: „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer, wunderbarer Schrift verschlossen liegt.“
Wenn wir die Mystik, nicht etwa die personale Liebe oder die Naturbetrachtung, als den Kern von Romantik definieren, so müssen wir auch die Kräfte benennen, die der mystischen Sehnsucht entgegenstehen:
Wir erkennen dann, dass ein großer Teil unserer erlebten modernen Realität eigentlich Anti-Mystik ist. Sie zielt auf die Vereinzelung, Zersplitterung, Zerstreuung, auf die Vertreibung von Stille und Versenkung.
Diese Beobachtung ist keine Erfindung unserer Epoche, die geprägt ist von Leistungs-, Wettbewerbs- und Verfügbarkeitsdruck, von Kunstwelten aus Glas, Stahl und Beton, von Smartphone-Sucht, verschärfter Technikabhängigkeit und fortschreitender Naturzerstörung. Schon die Frühromantiker spürten jene sich schon andeutende Schieflage im „Weltgeist“. Novalis (Friedrich von Hardenberg), der früh gestorbene Prototyp des romantischen Künstlers und Menschen, Dichter der „Hymnen an die Nacht“, sprach davon in seinem berühmten Gedicht:
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen (…)
Dann fliegt von einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.“
Die verlorene Ganzheit
Dabei hatten „Zahlen und Figuren“, Formeln oder geometrische Strukturen, seinerzeit bei weitem noch nicht die alles durchdringende Bedeutung, die sie heute haben: in einer Zeit, in der die Digitalisierung eigentlich alles auf die Dualität von 1 und 0 reduziert hat und Computertechnik jeden Lebensbereich überwuchert; einer Zeit, in der sich alles und jeder „rechnen“ muss, wirkliches Menschsein jedoch nicht zählt; einer Zeit, in der Naturwissenschaft zum Fetisch, Natur dagegen zu einem riesigen Müllentsorgungsplatz verkommen ist.
All das ist in den letzten zwei Jahrhunderten auf groteske Weise eskaliert. Und doch hat schon ein Novalis die Zeit der Aufklärung, in der er aufgewachsen ist, als ein dunkles Zeitalter empfunden, in der alles zergliedert, gezählt, vermessen und verglichen werden musste.
Romantik, die sich entfalten möchte, muss daher Widerstand leisten, muss politisch werden — auch wenn dies um 1800 oft „nur“ in allgemeiner, poetisch verklausulierter Form geschah. Schiller, darin ein Vordenker der Romantik, beschreibt in wunderbaren Worten, wie der moderne Mensch seine Ganzheit verlor und auf ein Fragment seiner selbst reduziert wurde. Beinahe als Vorläufer des Marxismus kann man ihn wegen seiner Ausführungen über entfremdete Arbeit verstehen:
„Der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohr, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts.“
Mystik und Widerstand
Der Mensch als „Abdruck seines Geschäfts“ — könnte man die Epoche der neoliberalen Globalisierung treffender beschreiben als mit diesen Worten des „alten Schiller“? Das Zweckdenken war für die Romantiker die Ursünde — wie auch das Märchen von Bertha und dem Vogel zeigt. Die Frage „Wozu kann ich es benutzen?“ Daraus leiten sich alle sekundären Sünden ab: die Frage nach ökonomischer Verwertbarkeit, die Ideologie einer Welt als Ware, persönliche Geltungssucht, Wettbewerbsdenken, ja die Zerstörung des „Anderen“, das man nicht mehr als ein Teil des „Eigenen“ zu erkennen vermag.
Der Homo oeconomicus, so beschrieb es der vor einigen Jahren verstorbene Physiker Hans-Peter Dürr, ist nicht mehr als die „Schrumpfform“ des Homo sapiens. Das hindert die politischen und wirtschaftlichen Mächte jedoch nicht daran, gerade diese Form geistigen Zwergwuchses zu züchten und darüber hinausragendes Persönlichkeitswachstum zu kappen. So wie der unsensible Hausmeister einer hässlichen Wohnanlage Sträucher zuschneidet, bevor sie sich zu ihrer ganz individuellen Schönheit auszuwachsen „drohen“.
Novalis beklagte in einem zentralen Manifest der Frühromantik mit dem Titel „Die Christenheit oder Europa“, des Menschen Geist habe sich ganz auf „die Bedürfnisse und die Künste ihrer Befriedigung“ konzentriert. „Der habsüchtige Mensch hat so viel Zeit nötig, sich mit ihnen bekannt zu machen und Fertigkeiten in ihnen sich zu erwerben, dass keine Zeit zum stillen Sammeln des Gemüts, zur aufmerksamen Betrachtung der inneren Welt übrigbleibt.“ Mystik und geschäftliche Betriebsamkeit vertragen sich nicht — sie bilden den größtmöglichen Gegensatz. Novalis spricht dann von einem in seiner Zeit virulenten Religionshass, der sich pauschal gegen Enthusiasmus, Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe wende.
Der entzauberte Kosmos
Dieser Hass, so schließt der Dichter seinen Gedankengang, „machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein echtes Perpetuum Mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei.“ Wir kennen ihn alle, den giftigen Hass und Spott auf alles, was der erfahrbaren Welt Tiefe verleiht und eine Schöpferkraft am Werk sieht — mag diese Kraft mit christlichen, schamanischen, taoistischen oder anderen Begriffen beschrieben werden. Unsere Zeit ist durch die teilweise durchaus berechtigte Religionskritik eines Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud hindurchgegangen.
Neue technische Errungenschaften und wissenschaftliche Erkenntnisse haben die Illusion genährt, den Kosmos zu Ende denken, ihn aller Geheimnisse entkleiden zu können.
Hinzu kam im Gefolge der furchtbaren Euphorie der Nazi-Jahre ein generelles Irrationalitätstrauma. Wir Nachkriegskinder schlürften spöttelnd und auf Distanz bedacht die Milch der frommen (rationalen) Denkungsart und scheuten den Wein der Emotionalität mit seinen unberechenbaren Räuschen und Katerstimmungen. So schalt auch Rüdiger Safranski, letztlich ein systemtreues Kind seiner ausgenüchterten Epoche, über „politische Romantik“ — womit er zunächst den Nationalsozialismus meinte, im zweiten Schritt aber auch die 68er-Bewegung mit abräumte. Jede Utopie, jedes Transzendieren des Ist-Zustands — und sei es in der Fantasie — erscheint solcher Anti-Romantik suspekt. Wie auch schon einigen Zeitgenossen der Frühromantiker.
Goethe etwa gab ungnädig zum Besten: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke.“ Gewiss gibt es schlechte und gefährliche politische Romantik, was jedoch im Umkehrschluss nicht heißt, dass jede politische Romantik schlecht und gefährlich sein muss.
Unmenschliche Utopien wie jene der neuen Rechten gedeihen eher dort, wo die Kräfte des Menschlichen ihre Zukunftsträume aus falsch verstandenem Realismus heraus nicht zu formulieren wagen.
Realpolitik und visionsloses „Auf-Sicht-Fahren“ dominieren derzeit unser Gemeinweisen, preisen sich selbst als alternativlos an, was leider auch auf linke Diskurse abgefärbt hat.
Das „kalte Herz“ muss tauen
Ich selbst neige eher zu folgender Annahme: Wenn man schon mit medizinischen Kategorien operiert, dann liegt „das Gesunde“ in der Mitte zwischen den Extremen. Und wenn der eine Pol — in unserer Epoche ist es der rationale — einseitig dominiert, kann Gleichgewicht nur wieder hergestellt werden, indem der andere bewusst gestärkt wird.
Wir brauchen einen kräftigen romantischen Impuls in unserer Zeit der heiß laufenden Gehirne und der kalten Herzen — in Anspielung auf ein schönes Märchen von Wilhelm Hauff. Dieser Impuls darf nicht nur in die Erzeugnisse der Kultur, in Roman, bildende Kunst, Gartenkunst, Musik, Film, Videospiel und so weiter, hineinwirken; er darf und sollte auch in den politischen Bereich ausstrahlen. Romantik ohne Mystik begnügt sich mit Naturkitsch; Romantik ohne politische Stoßkraft bleibt zahnlos und steril.
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