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Die offene Weite

Die offene Weite

Die Identifikation mit bestimmten Eigenschaften und weltanschaulichen Positionen hält uns in einer Art Egotunnel gefangen. Die Lösung kann nur aus einem Bewusstseinsraum oberhalb widerstreitender Perspektiven kommen. Teil 1 von 2.

Offenheit vergegenwärtigen

Der Kern meiner Philosophie besteht darin, dass ich Bewusstsein als Ausdruck des Lebens verstehe. Es ermöglicht uns, Leben in seiner Tiefe zu vergegenwärtigen.

Zu vergegenwärtigen, wie es ist zu leben, ist unmittelbar, pur, das, nondual ungetrennt, eins, und eben offen, total offen, natürlich.

Zu vergegenwärtigen, offen zu sein ermöglicht, vom Strom des Lebens erfüllt, geführt, letztlich gelebt zu werden.

Es geht also darum, Offenheit zu vergegenwärtigen, nicht nur offen zu sein für etwas, sondern zunächst nicht ausgerichtet zu sein. Das ist zwar an sich einfach, aber dennoch ist der Sprung ins Offene so ungewöhnlich, dass ich versuchen möchte, Wege zu beschreiben, die wir gehen können. Es sind drei Wege unseres Bewusstseins. Und nicht jeder Weg passt für jeden, so wie es auch bei Meditationen ist, die in eine nonduale Erfahrung münden.

Und es gibt Auswirkungen oder Weisen eines offenen Lebens oder eines Lebens in Offenheit, zu denen ich noch etwas sagen möchte.

Der erste Weg: Desidentifizierung

Sowohl die kulturelle Bewusstseinsforschung, wie sie zum Beispiel Jean Gebser oder Ken Wilber ausführen, als auch die buddhistische Philosophie, und die Entwicklungspsychologie der individuellen Identitätsentwicklung beschreiben das erwachsene Bewusstsein im Kern als Ich-Bewusstsein.

Der dafür zentrale Prozess ist der der Identifizierung. Die Identifizierung bewirkt letztlich die Ich-Identität, also ein stabiles zusammenhängendes Konzept von uns selbst: Das ist meine Hand, mein Mund, mein Körper, das sind meine Gedanken, meine Überzeugungen, meine Werte. Ich bewege mich, ich atme, ich denke, ich höre zu, ich nehme wahr. Ich stehe also im Zentrum meines Erlebens. Als Ich erfahre ich mich, wenn ich mich mit meinem Erleben identifiziere. Das Gefühl, Ich zu sein, ist eigentlich ein permanenter Prozess des sich Identifizierens mit Gedanken, Empfindungen, Impulsen, Gefühlen und Wahrnehmungen.

Aus der Fülle unserer Erlebnisse, mit denen wir uns identifizieren und an die wir uns erinnern, entwickeln wir ein Konzept von uns selbst. Es besteht aus Vorstellungen und Gefühlen darüber, wer ich bin, wie ich mich anfühle, verhalte, mit anderen Menschen umgehe.

Aus unseren Erfahrungen abstrahieren wir beständig, bilden Konzepte über uns selbst, die anderen Menschen und die Welt. Erst durch den Identifizierungsprozess — das bin Ich, das ist ein Anderer, das ist ein Gegenstand — entsteht unser alltägliches Selbstverständnis und unser Weltverständnis. Meine Innen- und meine Außenwelt bestehen dann in der Folge aus konzeptualisierten Objekten. Andere Menschen sind Objekte meiner Interessen und Begierden.

Das in diesem Sinne reife Ich steht im Zentrum unserer Wahrnehmung und Handlung. Dies ist aber nicht statisch zu verstehen, sondern als ein Prozess, der sich ständig wiederholen muss und mein Selbstverständnis und mein Weltverständnis validieren muss, wie uns die Ich-Psychologen und Objektbeziehungstheoretiker gezeigt haben. Mein Leben lang will ich also aus dieser Sicht erkannt werden, gesehen und bestätigt werden, als der, für den ich mich halte. Und ich will mich meiner selbst und meiner Vorstellungen über meine Mitmenschen vergewissern. Und wenn die anderen mal nicht so erscheinen, wie ich mir das vorstelle, haben wir ein Problem.

Doch was geschieht, wenn ich die Gewohnheit aufgebe, diese Konzepte zu bestätigen, wenn ich mich also nicht mehr identifiziere mit meinen Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen? Wenn ich mich also desidentifiziere? Dann bleiben nur noch denken, fühlen, wahrnehmen. Dann sind es nicht mehr meine Überzeugungen, sondern einfach Überzeugungen, nicht mehr meine Rollen, sondern Rollen, mit denen ich mich identifizieren könnte. Dann wird das Identitäts-Konzept als Vorstellungssystem erkennbar und damit transparent wie ein mentales oder psychisches Konzept, das wir beobachten können.

Und der dafür notwendige Prozess ist der der Bewusstwerdung. Bewusstheit ist anfangs noch eng mit der Ich-Identifizierung verbunden, doch durch unsere Fähigkeit, über uns selbst und die Welt nachzudenken und uns selbst und die Welt zu beobachten, wächst unsere Bewusstheit. Wir werden uns dessen bewusst, dass wir Bewusstheit besitzen, und wachen in diesem Sinne auf. Mit wachsender Bewusstheit können wir die Identifizierungsvorgänge erkennen, durchschauen und relativieren. In der Meditation wird dies das Stadium des „inneren Beobachters“, die Einnahme der Instanz der Achtsamkeit, genannt.

Auch damit können wir uns zwar noch identifizieren, es gibt jedoch eine natürliche Tendenz, Bewusstheit oder Achtsamkeit selbst zu spüren, ohne uns damit zu identifizieren. Wird Achtsamkeit oder Bewusstheit selbst erforscht, weitet sich dies zum inneren Raum von Bewusstheit, innerhalb dessen alle Prozesse des Denkens, Fühlens und Wollens ablaufen. Dieser „innere Zeuge“ ist wie die Leinwand, auf der der Film des Lebens spielt, wie der Raum, innerhalb dessen sich alles Erleben abspielt.

Wenn wir diesen inneren Bewusstseinsraum untersuchen, finden wir eine Reihe von reinen Bewusstseinsqualitäten der Tiefe und Weite, wie Raumhaftigkeit, Klarheit, Leere und inneren Frieden. Er kann aber auch als inneres lebendiges Strömen empfunden werden, als Präsenz, als unmittelbares Empfinden unseres Anwesend-seins. Ich nenne diese Vergegenwärtigung gerne „Seelenbewusstsein“.

Verankert in unserer Seele spüren wir uns gegenwärtig, rezeptiv, fühlend, verbunden mit unserem Wesen, aber auch verbunden mit allen Inhalten unseres Erlebens.

So lernen wir zu unterscheiden zwischen unserer Wesenstiefe und unserer Oberfläche, unseren Grundwerten und unseren oberflächlicheren Interessen. Hier können wir spüren, was geschieht, wenn wir unsere Souveränität verlieren und uns in einer Teilidentität, einer Rolle oder in einem Konflikt zwischen Teilrollen verlieren und wie sich dies wieder auflösen lässt. Ein wesentliches Merkmal dieser Bewusstseinshaltung besteht meines Erachtens darin, dass wir den Prozess der Identifizierung erkennen und wir uns desidentifizieren können und einen inneren Halt finden jenseits der Vorstellungen und Begriffe.

Das Innerste dieses Bewusstseins ist vollkommen offen, sowohl für die Erscheinungsformen der Welt als auch für unser Aufgehoben-sein im Seinsgrund, im Göttlichen, im Absoluten und Unbekannten. Da ist keine Struktur, keine Form, keine Bewegung, kein Konzept, sondern etwas, was all dies transzendiert, ein Schweben, ein Geschehen.

In ihrer Offenheit erkennt unsere Seele also das Unbekannte, Formlose oder Göttliche und die Welt der Formen und Erscheinungen und Daseinswesen als zwei Seiten ihres Wesens.

Im Seelenbewusstsein ist damit das Ich-Empfinden einfach eine Spiegelung der Individualisierung in unserem Bewusstsein oder eine Art Rekonstruktion dieser Individualisierung durch den Identifizierungsprozess. Angesichts der Fähigkeit, im Seelenbewusstsein die Verbundenheit allen Seins zu empfinden, ist in diesem Verständnis das Wir-Empfinden eine Spiegelung des kollektiven Verbundenseins im Bewusstsein oder auch eine Rekonstruktion dieses Verbundenseins durch den Identifizierungsprozess.

Unsere Bewusstseinsentwicklung neigt jedoch zum Überschreiten der gegenwärtigen Bewusstseinsgrenzen, zur Transzendenz könnte man sagen und zur Suche nach dem uns noch Unvertrauten und Unbekannten. Das Seelenbewusstsein wendet sich also dem Absoluten und Unbekannten selbst zu. Die spirituellen Wege haben Methoden entwickelt, das Unbekannte direkt und unmittelbar zu realisieren als das nicht Konzeptionalisierte, als das Offene, als das Geheimnisvolle, das alles durchdringt. Das Unbekannte dieser Art enthält damit nicht nur das primitive Unbewusste unserer persönlichen oder artspezifischen Vergangenheit, sondern auch unser Potential, unsere Zukunft und das Unbeschreibliche und Mysteriöse unserer Gegenwart, die wir realisieren können als Ausdruck des Wirkens einer unermesslichen Tiefe des evolutionären Geschehens.

Um einen solchen weiteren Schritt in der Bewusstseinsentwicklung zu erreichen, löst sich das Seelenbewusstsein von allem Bekannten, von allen Formen und Inhalten des Erlebens, von allem, was sichtbar, fühlbar oder denkbar ist, lässt sich fallen, schweben. Es folgt der Auflösung aller Formen dahin, wo nicht etwas ist, wo nichts ist, völlig gelöst und frei. Das Bewusstsein des Unbekannten ist wie ein gelöstes, freies Schweben in der Formlosigkeit. Die Sprache unseres Seelenbewusstseins beschreibt dies zunächst negativ als das Un-bekannte, Un-begründete, Un-getrennte, Form-lose, Eigenschafts-lose, Zeit-lose, Raum-lose, A-kausale, Nichts-hafte. Eine andere Beschreibung stellt das Ur-hafte in den Vordergrund: das Ursprüngliche, das Urtümliche, den Urgrund.

Hier gibt es keine Trennung mehr, kein Bewusstsein, das das Unbekannte beobachtet, sondern das Bewusstsein realisiert sich selbst als ursprünglich, formlos, frei und gelöst. Es vergegenwärtigt sich seiner selbst als „So“, als Ausdruck des Unbekannten, das alles unmittelbar durchdringt, ohne Hindernis. Hier ist Leere Form und Form ist Leere. Form wird realisiert als unmittelbarer Ausdruck der Leere. Jeder Moment wird vergegenwärtigt als der, der er ist, in seiner So-heit, als „so“, unmittelbar, vollständig. Dieses Bewusstsein ist nondual, weil keine Trennung mehr da ist, kein Gegenüber. Alles geschieht aus sich selbst heraus, ohne sichtbare Ursache, a-kausal.

Dies ist der Weg, den spirituelle Traditionen beschreiben.

Gedicht: Weltweiteraum

Weltweiteraum
meine Seele gibt sich hin
zu grenzenlosem Überallatem
Himmel, Wüste, Ozean
alles zu beleben
und mich selbst in allem
Tropfen, Baum, Du.
Innenweiteraum
meine Seele gibt sich hin
bleibendes Berühren zu beseelen
Wirgefunden
gibt sich unsere Seele hin,
den geengten Weltenweiteraum zu übersteigen.

Der zweite Weg Dekonstruktion

Der inzwischen von mir am liebsten dargestellte Weg in die Offenheit ist — trocken gesagt — der Weg von der Konstruktion über die Dekonstruktion hin zum Neukonstruieren. Er ist nun leichter zu verstehen. Ich möchte ihn mit einer Metapher veranschaulichen, die ich mir von dem Philosophen Thomas Metzinger geliehen habe, der vom „Egotunnel“ spricht. Zunächst einmal ist es wichtig zu erkennen, dass wir uns selbst, die Welt und unser Leben permanent konstruieren:

Wir leben im Tunnel unserer Konstruktionen. Hier wird die Identifizierung als Konstruktionsprozess betrachtet. Dies ist Alltag. Wir nehmen wahr, wir interpretieren, wir verständigen uns darüber. Wir planen, wir entwerfen, wir konstruieren etwas Neues. Wir bauen, schaffen Regeln und bewegen uns in einer durch unsere Vorstellungen und Konstruktionen hergestellten Welt immer weiter.

Wir führen Gespräche mit uns selbst und den anderen, und die Medien sagen uns immer mehr und eindringlicher, worüber wir in welcher Weise denken sollen.

In diesem Rahmen bewegen wir uns, durch diesen Tunnel laufen wir und bauen ihn immer weiter aus. Er gibt uns Orientierung und Halt, aber nicht wirklich, denn immer wieder bricht er ein durch schicksalhafte Erfahrungen, die unser Lebenskonzept und unsere Selbstvorstellungen stören oder zerstören. Dann versuchen wir, ihn zu kitten, statt aus ihm herauszutreten. „Tunnel“ ist eine sehr feste Metapher, aber sie beschreibt gut, wie sich unsere Wirklichkeit anfühlt. Wir leben vor allem in den Städten in einer menschengemachten Welt. Wir treffen tagtäglich auf feste oder auch virtuelle Konstruktionen, in denen wir uns bewegen. Und diese Erfahrungen festigen jeden Tag neu unseren Glauben, dass dies die Wirklichkeit ist.

Die Identifizierungstheorien gehen davon aus, dass wir uns damit identifizieren, also dass wir vorwiegend selbst die Welt und uns selbst konstruieren. Aber schon das kleine Kind lernt, ein Gefühl oder eine Verhaltensweise erst zu erkennen und zu beschreiben, wenn Mutter oder Vater sie benennen. Es identifiziert sich also mit der Identifizierung durch die Eltern. Das Kind introjiziert sozusagen die Konzepte der Eltern und später der Umwelt. Am Ende werden wir mindestens genauso stark von der Gesellschaft konstruiert, wie wir uns und die Gesellschaft konstruieren. Schon im Jahr 1969 haben Peter Berger und Thomas Luckmann ihr viel beachtetes Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ herausgegeben, in dem sie Gesellschaft als objektive und subjektive Wirklichkeit beschreiben, und wie Gesellschaftsstrukturen durch Sozialisationsprozesse internalisiert werden.

Die Wucht dieses Vorgangs können wir seit einigen Jahren intensiv beobachten. Der Vorteil der subjektiven Betrachtungsweise der Identifizierung und Konstruktion ist der eines Ansatzes zur Befreiung. Was ich selbst mache, kann ich auch lassen. Ihr Nachteil ist die Unterschätzung der gesellschaftlichen und politischen Macht und Gewalt in der Erziehung, Führung und Kontrolle der Bürger.

Jedenfalls können wir auf dem Wege unserer Bewusstwerdung die Art und Weise des Konstruierens und Konstruiert-werdens erkennen und uns von den Konstruktionen lösen, von den Konzepten, auch unseren Lieblingskonzepten, von unseren Denkmustern, unseren Identifizierungen, von all den Meinungen, Ideologien und Weltanschauungen. Dies ist nicht einfach: Dafür braucht es eine innere Distanz zu all diesen Konstrukten, einen Perspektivwechsel oder eine Fähigkeit zur Betrachtung der Erscheinungen. Oder wir nutzen Erfahrungen des Ursprünglichen in der Natur oder des Ergriffenseins von Sterbeprozessen, um uns zu befreien.

Diese Dekonstruktion lässt uns erkennen, dass der Tunnel unseres Lebensverständnisses und unserer Lebensweise Teil eines viel weiteren Raums ist. Er ist lediglich eine Möglichkeit, das Leben zu verstehen und zu gestalten.

Alle diese Konzepte und Lebenspläne werden durchsichtiger. Unser Tunnel wird durchsichtiger, und es wird spürbar, dass unser Leben mehr sein kann, dass unser Lebensstrom wesentlich breiter ist, als wir je gedacht haben. Wenn wir uns nicht mehr an unseren Konstruktionen festhalten, also nicht mehr darauf ausgerichtet sind, den Tunnel zu betrachten, dann können wir offen sein und den Raum spüren, wie er sich anfühlt ohne Konstruktionen.

Ich glaube, dass dieses Innehalten in der Offenheit entscheidend ist, denn erst hier entsteht eine innere Weite, eine innere Freiheit, eine Unschuld im Herzen und im Geist, eine Fähigkeit zum reinen, puren, unmittelbaren Spüren dessen, was ist und was nicht ist. Es ist nicht leicht, dieses Ungebundene, Konzeptfreie und zunächst einmal auch Sprachfreie auszuhalten, denn wir suchen Halt in unseren üblichen Arten und Weisen des Konstruierens. Aber wenn es uns gelingt, in diesem Raum zu verweilen, so entsteht vielleicht die Fähigkeit, das Leben und die Welt einmal aus anderen Augen zu sehen, völlig andere Blickwinkel einzunehmen, als die, die ich normalerweise habe, Möglichkeiten zu sehen, Optionen, oder vielleicht Dinge wahrzunehmen, die mir sonst entgehen. Die Bereitschaft, in diesem Bewusstsein zu staunen, sich berühren zu lassen, eröffnet neue Erfahrungen und neue Perspektiven.

Gedicht: Wer weiß schon

Wer weiß schon,
wann das Zwischen beginnt,
das sich abnabelt vom Woher
und eintritt ins Leben.
Wer weiß schon,
was geschieht im Übergang,
im Inmitten des Nichtmehr und Nochnicht.
Geburt ist ein Prozess.
Geborenwerden ist ein Prozess.
Sich selbst gebären ist ein Prozess.
Dieses Vorwärts ist erfahrbar
im tiefen Strömen der Lebendigkeit.
Ich bin Flussbett und Strom zugleich,
ich bin eingebettet und ströme
als Ausdruck der Evolution mit.

Der dritte Weg Aperspektivität

Wie wir gesehen haben, entwickeln wir eine mehr oder weniger konsistente Lebensanschauung. In ihr integrieren wir alle unsere Betrachtungsweisen über uns selbst und die Welt. In Beruf und Alltag bewegen wir uns auf der Basis dieser Konzepte durchs Leben. Sie sind unsere Kompetenzen, unsere Perspektiven, unsere Blickwinkel. Wir sind mit ihnen identifiziert und wir suchen in der Regel Menschen, die unsere Sicht der Dinge teilen, oder denen wir unsere Anschauungen oder unser Wissen präsentieren können. Jean Gebser hat sich mit den Entwicklungen unserer Weltsichten intensiv beschäftigt und sie historisch analysiert. Er nennt dies eine perspektivische Betrachtungsweise.

In der Psychotherapie ist dies beispielsweise eine störungsspezifische Perspektive, die sich aus unserer Ausbildung heraus entwickelt. Daraus sind Schulen entstanden mit Menschenbildern, Störungskonzepten, Paradigmen und Abgrenzungen. Von Psychotherapiestudien wissen wir, dass Patienten von tiefenpsychologisch arbeitenden Psychotherapeuten analytische Träume haben, von Jungianern archetypische Bilder träumen, von Systemikern Familienzusammenhänge aktivieren und so weiter. Die Patienten stimmen sich also auf die Verfahren der Therapeuten ein, sie lernen sozusagen das Denken des Psychotherapeuten. Sie identifizieren sich mit ihm, oder sagen wir besser: Sie identifizieren sich mit seiner Identifizierung.

Patienten lernen also das Modell des Therapeuten, wenden es auf ihr eigenes Leben und ihre Symptomatik an und hoffen, dass es ihnen hilft, mit ihrer Störung oder ihrem Leben besser umzugehen.

Und hier liegt der Kern oder die Kernproblematik einer eigentlich überholten Psychotherapie: Wir sind identifiziert mit unseren Psychotherapieschulen, mit unserem Therapiegebäude, mit unseren Modellen. Wir glauben an sie, wir halten sie für wahr.

Da sie sich auf den Menschen und sein ganzes Leben, vielleicht sogar auf Religiöses beziehen, haben sie den Charakter von Weltanschauungen und müssen gegen andere Weltanschauungen verteidigt werden. Im Grunde sind unsere Therapieschulen daher Ideologien, die wir verteidigen und weitergeben. Letztlich ist eine so angewandte Psychotherapie nichts anderes als eine Erziehung der Patienten zu unserer Weltanschauung. In unserer Diagnostik filtern wir gemäß unseres Störungskonzepts die entsprechenden Aspekte heraus, erklären es unseren Patienten und intervenieren dann gemäß unserer Theorie. Auf diese Weise bringen wir den Patienten unser Störungsverständnis bei.

Patienten ersetzen also ihr offenbar untaugliches Modell von sich selbst durch das Modell des Therapeuten. Da unsere Therapieschulen-spezifischen Modelle wahrscheinlich geeigneter sind als die unserer Patienten, funktioniert dies auch einigermaßen. Auf diese Weise übertragen wir aber auf die Patienten ein ideologisch geprägtes, einseitiges, reduziertes Menschenbild. Wir betrachten sie nicht als lebendige Menschen, als Wunder der Schöpfung, als verirrte Seelen, denen wir beistehen können zu heilen und zu ihrem Leben zu finden. Das Problem ist noch nicht einmal die Perspektive, der Blickwinkel, sondern die Ideologisierung. Wir sind gefangen in unserer Perspektive und werden aggressiv, wenn uns einer darauf hinweist. Dies liegt wohl daran, dass sie uns Halt gibt, Identität, eine Rolle, einen Beruf, gesellschaftliche und persönliche Anerkennung. Ideologisierung ist aber immer anfällig für Fundamentalismus, wenn sie mit Machtmöglichkeiten verbunden ist, wie wir im Politischen sehen können.

Dieses Gefangensein macht uns eng und lässt uns das Wesentliche übersehen. Das Wesentliche aber wird nicht gedacht oder theoretisch entwickelt, sondern als wesentlich gespürt, gefühlt und erst dann beschrieben. Um von der Ideologie ins Spüren zu kommen ist es zunächst notwendig, die eigene Perspektive, den eigenen Blickwinkel zu relativieren. Dazu ist eine mehrperspektivische Betrachtungsweise hilfreich. Wenn ich oft genug die Perspektiven wechsle und andere Blickwinkel, andere wissenschaftliche oder weltanschauliche Betrachtungsweisen einnehme, dann entsteht in mir eine Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Diese Fähigkeit ist nicht mehr in einer Perspektive gefangen. Sie ist davon unabhängig, wird also im Sinne von Jean Gebser (1986) aperspektivisch und integral.

Zur Veranschaulichung möchte ein komplexes Wertegefüge beschreiben, das sich aus Ken Wilbers Vier-Quadranten-Modell ergibt. Werte stellen ja oft den tieferen Grund für unsere Überzeugungen dar und sind der Anlass für persönliche und politische Auseinandersetzungen. Ken Wilber, ein zeitgenössischer amerikanischer Philosoph, konzipierte aus einer Analyse unterschiedlichster philosophischer Strömungen ein Modell der Wirklichkeit, das aus vier Perspektiven oder vier Quadranten besteht. Jedes Phänomen könnte in zwei Dimensionen betrachtet werden.

Erstens besitzt es eine Innenseite und eine Außenseite:

die Außenseite ist das objektiv Beobachtbare, Messbare, empirisch Nachweisbare, etwa das, was Physik, Biologie oder Physiologie untersuchen.

Die Innenseite ist das subjektiv Empfundene, Bewusste, etwa das, was Philosophie, Psychologie oder auch Religionen untersuchen.

Zweitens besitzt es einen individuellen und einen kollektiven Aspekt. Individuell ist ein Phänomen eben ein Einzelphänomen, selbstständig, auf Eigenständigkeit bedacht.

Gleichzeitig ist es Teil eines größeren Ganzen, hat also eine soziale oder auch kulturelle Dimension.

Aus den komplementären Paaren subjektiv-objektiv und individuell-kollektiv ergeben sich vier Quadranten, die auf den Menschen bezogen folgendermaßen aussehen:

  • die individuelle subjektive Welt, also das subjektive Erleben des Einzelnen,
  • das beobachtbare individuelle Verhalten und seine Physiologie und Biologie,
  • die subjektive soziale Seite, also die Kultur,
  • das soziale System, also die soziale und gesellschaftliche Organisation unseres Lebens.

Wertesystem

Wird dieses Modell auf Werte angewandt, kommen wir zu einem komplexen Wertesystem (Abbildung). Wir Menschen vertreten:

  • persönliche ideelle Werte, wie etwa Menschenwürde, Glück, Freiheit, Lust und Freude oder Selbstverwirklichung,

  • persönliche materielle Werte, wie Besitz, Geld, Reichtum, Macht, Information,

  • sozial-kulturelle Werte, wie Liebe, familiäre und freundschaftliche Bezüge, Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz, Gleichberechtigung, Ehrfurcht vor der Natur,

  • gesellschaftliche Nutzwerte, wie gesellschaftlicher Wohlstand, ökonomisches Wachstum, Shareholder Value, soziale Sicherheit, sozialer Ausgleich, Demokratie.

Das sind natürlich nur Beispiele.

Ein integraler Ansatz erkennt alle diese Perspektiven an und versucht, sie zu gewichten. Er ist zunächst einmal mehrperspektivisch und fähig, die Perspektiven zu wechseln. Grundsätzlich ist damit eine solche Sicht nicht an eine einzelne Perspektive gebunden und somit, wie Gebser es nennt, „aperspektivisch“.

Sie ist frei von jeder einzelnen Perspektive und eröffnet damit erst die Möglichkeit integral zu sein, denn sie wirkt gegen die Verabsolutierung einer Perspektive oder gar einer Sub-Perspektive, was wohl eine Ursache für die ideologische Zerrüttung, Polarisierung und Dissoziation unserer Gesellschaft darstellt.

Nur das nicht an eine Perspektive gebundene Aperspektivische ist ein echter innerer Standort für eine wirklich integrierende Haltung. Sie besitzt das Potential, Komplexität zu ertragen und sich in der Vielfältigkeit nicht zu verlieren. Da sie jenseits von Perspektiven und Konzepten steht, kann sie freier von und gegenüber Ideologien sein und braucht nichts Wesentliches abzuspalten oder zu verleugnen. Sie besitzt damit eine echte ganzheitliche oder integrale Kapazität. Es ist praktisch gerade Ihre Position als Betrachtende.

Eine solche aperspektivische Haltung ist frei und offen für alle möglichen Informationen, offen für unterschiedliche Blickwinkel, nicht identifiziert oder zumindest fähig, Identifizierung loszulassen, Modelle als Modelle zu sehen und vielleicht auch offen zu sein für etwas völlig Neues. Eine solche Verankerung ermöglicht, nach dem Wesen der Dinge zu fragen, nach dem Wesen des Menschseins. Albert Schweitzer schreibt dazu 1999:

„Zum Wesen des Denkens gehört, dass es nicht Halt mache, bis es die Fragen des Daseins bis dahin verfolgt hat, wo jede Frage mit den anderen zu der einen großen Frage nach dem Verhältnis meines endlichen Daseins zum unendlichen Dasein zusammenfließt und in ihr aufgeht. Das Denken ist eine Welle, die nicht zur Ruhe kommt, bis sie am Gestade des Unendlichen anschlägt. Keine der Fragen, die das Dasein an mich stellt, ist etwas für sich. Alle sind nur Gestalten, die die große Frage des Verhältnisses meines Seins zum unendlichen Sein annimmt. Nur in ihr offenbaren sie sich dem Wesen nach; nur in ihr sind sie lösbar, sofern sie es überhaupt sind.“

Das Wesentliche erschließt sich uns also nicht durch Nachdenken, sondern durch eine Offenheit für das Unendliche, wie Schweitzer es nennt, man könnte auch sagen für den Grund unseres Erlebens, den wir nicht denken, aber spüren können.

Gedicht: Von woher ich schaue

Von woher ich schaue
für der Wesen und Dinge Angesicht,
von woher ich lausche
für der Wesen und Dinge Gesang,
von woher ich spüre
für der Wesen und Dinge Sosein:
mein von woher
ist leer,
ist weit und offen,
ist unendlich.
Mein von woher
ist wach,
ist liebend und verletzlich,
ist erfüllt.
Mein von woher
ist das Leben und unendlich mehr.


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