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Die Nicht-Bildung

Die Nicht-Bildung

Eine Abrechnung mit unserem Schulsystem.

„Das Schulsystem ist dafür konzipiert, Gehorsamkeit und Konformität zu lehren. Und dafür, die natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder zu verhindern“ — Noam Chomsky.

Eigentlich sollten wir für unser Schulsystem dankbar sein. Merkt man doch gerade beim internationalen Vergleich bestimmter Aspekte und Standards unseres Bildungssystems mit denen anderer Länder, wie gut man es hat. Von diesem Standpunkt aus bleibt man jedoch oft auf der Stelle stehen und bewegt sich nicht nach vorne. Überprüft man bestimmte Dinge oder Standards daraufhin, wie sie sein könnten, dann findet man Fehler. Nur von diesem Standpunkt aus ist man in der Lage, die Dinge zu verbessern.

Bei genauerer Betrachtung scheint auch unser Schulsystem längst veraltet zu sein, die Kreativität und Potenziale der Schüler zu vergeuden und wissenschaftliche Erkenntnisse bezüglich Lernen und Entwicklung zu ignorieren.

Wenn wir eine wirklich gute Bildung bieten wollen, dann ist es an der Zeit, unser marodes Bildungssystem grundlegend umzustrukturieren. Wir können die neuen Generationen mit den überholten Bildungsmethoden des 19. Jahrhunderts nicht auf das 21. Jahrhundert vorbereiten.

Die Zukunft eines Landes hängt davon ab, wie gut es dem Land gelingt, die nächsten Generationen auf die Zukunft vorzubereiten. Deshalb hängt an der Diskussion um das Bildungssystem viel mehr, als es zunächst den Anschein haben mag.

Wir können uns es nicht leisten, unser wichtigstes Potenzial noch länger so maßlos zu zerstören: die Kreativität, Entdeckerfreude, Begeisterung und die Lust am Lernen unserer Kinder. In der Schule werden ihnen diese Anlagen genommen. Im Austausch dafür erhalten sie einen Schulabschluss.

Doch auch weltweit erhalten und nutzen immer mehr Menschen die Chance auf einen Schulabschluss, vor allem in Asien. In naher Zukunft wird der Punkt kommen, ab dem Abschlüsse nichts mehr wert sind. Was jeder dann benötigt, um einen Job zu bekommen und im Arbeitsleben erfolgreich zu sein, sind Kreativität und Motivation, die einem in der Schule abtrainiert werden (1).

Kinder lernen von selbst mit größter Neugierde

Jedes Neugeborene besitzt die Fähigkeit, sich für Dinge zu begeistern. Die Eigenschaft, die mich an kleinen Kindern so fasziniert, ist die, sich für jeden noch so kleinen Fussel begeistern zu können!

„Immer wenn man sich für etwas begeistert – und dem Gehirn ist egal für was – dann werden sogenannte neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. Diese wirken wie Dünger auf das Gehirn“ —Gerald Hüther.

Diese Ausschüttung bewirkt, dass wir etwas nachhaltig abspeichern und lernen. Egal, in welchem Alter. Jedoch ist der einzige Weg, die Ausschüttung dieser Botenstoffe zu provozieren, die emotionalen Zentren im Gehirn zu aktivieren. Das heißt, Neues muss einem unter die Haut gehen. Das ist auch der Grund, warum wir uns an emotionale Erlebnisse aus unserer Grundschulzeit sehr viel besser erinnern können, als an den Stoff aus der 3. Klasse.

Jedes Kind wird mit einem unersättlichen Appetit zum Entdecken und zum Gestalten geboren. Bei Kindern ist das noch mit großer Lust verbunden und so werden die zuständigen Gehirnregionen mit den Emotionen der Freude verknüpft. Die Verbindung löst sich auf, wenn wir beginnen, sie stumpfsinnig zu unterrichten.

Die Schule sorgt dafür, dass das Lernen nicht mehr mit Begeisterung geschieht. Von tatsächlichem Entdecken kann nur selten die Rede sein. Unser Schulsystem bewirkt, dass Schüler den Stoff und die Schule mit negativen Gefühlen wie Angst, Druck, Unwohlsein und Ohnmacht verknüpfen. Die früheren Verbindungen von Entdecken und Freude werden überdeckt. Auf dieser Basis kann man sich nicht weiterentwickeln. Und man kann auch nicht effektiv und nachhaltig lernen.

Unser Schulkonzept stammt aus der Epoche der Industrialisierung

Die Schüler werden wie Objekte angesehen, die man nach einem standardisierten Muster formen will. Das führt dazu, dass die individuellen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten nicht nur ignoriert, sondern sogar unterdrückt werden.

In der Zeit, in der das Bildungssystem entstanden ist, brauchte man objektisierte Menschen, die funktionieren. Menschen, die das tun, was man ihnen befiehlt. Man wollte keine gebildeten Bürger. Und nach diesem Konzept funktionieren unsere Schulen noch heute: Glocken verkünden das Ende einer Schicht oder den Anfang einer neuen Schicht, die Schüler werden unterrichtet, als wären sie Produkte, die man mit Wissen füllt und fertigt. Wir stecken sie nach ihrem Alter in Klassen, so als ob dies das wichtigste Unterscheidungsmerkmal wäre. In der Praxis lernen die Schüler in verschiedenen Fächern jedoch unterschiedlich schnell.

Dieses Konzept stammt aus der Epoche der Industrialisierung. Aber Menschen sind keine Produkte, sie sind einzigartig und individuell. Sie haben unterschiedliche Interessen und Stärken. Und in einer Kultur, in der es nur um Konformität geht, werden individuelle Fähigkeiten gehemmt und als anstößig empfunden. Es sei denn, sie passen ins System.

In einer Zukunft, in der wir die breit gefächerten Fähigkeiten der Menschen so sehr brauchen werden wie nie zuvor, pressen wir Kinder immer noch durch ein Bildungssystem, das darauf ausgelegt ist, marktkonforme Menschen zu produzieren, die produzieren. Wozu sie wirklich in der Lage wären, entdecken unsere Kinder in der Schule kaum.

„Je länger Kinder in der Schule sind, desto weniger neugierig, motiviert, begeisterungsfähig, kreativ, leidenschaftlich und fähig zu träumen werden sie“ — The Future Project.

Der Grund, weshalb so viele Schüler heutzutage nach der Schule nicht wissen, was sie in ihrem Leben machen wollen, ist auch in unserem Bildungssystem zu finden. Man beschäftigt sich in der Schulzeit kaum mit dem, was man wirklich will und was einen wirklich interessiert. Stattdessen versuchen Firmen auf Berufsmessen schon früh, die Schüler für sich abzuwerben.

Der Trend der Standardisierung

In der Schule geht es die meiste Zeit darum, Vorformuliertes wiederzugeben oder vorgeschriebene Ziele auf einem genau definierten Weg zu erreichen.

Während seines Referendariats muss der Referendar eine fast auf die Minute genaue Unterrichtsplanung vorlegen, in welcher die Antworten der Schüler schon eingeplant sind. Er arbeitet also auf bereits vorher festgelegte und meist nach dem Curriculum standardisierte Antworten hin. Die Schüler müssen nun ihre Intelligenz dafür verwenden, herauszufinden, worauf der Referendar hinauswill. Wenn sie eine vorgeschriebene Aufgabe so genau wie möglich erfüllen sollen, dann werden ihre Potenziale in keinem Augenblick berücksichtigt, sondern unterdrückt.

Zudem kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass man das meiste, was man in der Schule und auch für das Abitur gelernt hat, sehr schnell wieder vergisst. Es war ja auch größtenteils irrelevant und langweilig. Der Stoff wurde für die Klausuren gepaukt, in den Klausuren erbrochen und danach vergessen, sogenanntes „Bulimielernen“.

Diese Art des „Lernens“ hat auch viele negative Nebeneffekte: Sie zerstört Kreativität, lässt die Kinder die Schule hassen und sorgt dafür, dass kaum ein Kind das, was es in der Schule lernt, mit Bedeutung füllen kann. Meiner Meinung nach muss es die Aufgabe der Schule sein, die Kinder ihre diversen Potenziale entdecken zu lassen und diese zu fördern. Die Schule muss die Anlagen aufblühen lassen, anstatt zu versuchen, die Kinder von ihren individuellen Gleisen abzubringen, um sie alle auf einem normierten Gleis zu versammeln.

Um das zu erreichen, muss sich allerdings sehr viel ändern. Und im Moment sind wir genau in die falsche Richtung unterwegs. Wir bewegen uns in die Richtung der Standardisierung, was man zum Beispiel am Zentralabitur, an den festgelegten Lehrplänen, am allgegenwärtigen Druck und an der Beschränkung der Freiheiten der Lehrer sieht. Die geläufigen Lehrmethoden im Standardisierungstrend sind Frontalunterricht und Faktenvermittlung.

Die Diversität wird gleich gemacht — und geht verloren

Der Hirnforscher Gerald Hüther sagt, jedes Kind sei auf seine eigene Art und Weise hochbegabt. Damit meint er, dass jedes Kind individuelle Stärken und Bereiche hat, für die es sich begeistern kann. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Jedes Kind ist anders. Wir belegen nun aber nur ganz bestimmte Bereiche wie die Naturwissenschaften und die Mathematik mit dem Konzept der Begabung. Man braucht jedoch nicht nur diese Fähigkeiten, um sich später im Leben zurechtzufinden. Doch vor allem sind die Begabungen sehr viel breiter.

„Jeder ist begabt! Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben lang denken, er wäre dumm.“

Die Schule sorgt dafür, dass sehr viele brillante, hochtalentierte und kreative Kinder denken, sie wären es nicht, weil die Dinge, die sie gut können, in der Schule nicht gewertet werden und sie in den bewerteten Bereichen versagen.

Kleine Kinder sind noch in sehr vielen anderen Aspekten begabt, wenn sie beispielsweise ihren Körper genau kontrollieren können, ein ausgeprägtes Mitgefühl haben oder besonders ehrgeizig sind. Und in der späteren Entwicklung fächern sich die Interessen über alle möglichen Bereiche.

Die Aufgabe der Schule kann es nicht sein, all diese Kinder gleich zu machen.

Wir vermischen den bunten Haufen unserer Kinder zu einem eintönigen braun. Und wir bestrafen in der Schule diejenigen, die ihre individuellen Potenziale zu erhalten versuchen, weil sie aus der Reihe tanzen. Und wir belohnen diejenigen, die sich am besten angepasst haben. Doch wenn sich alle an das anpassen, was Durchschnitt und gefordert ist, an Gleichförmigkeit und Konformität, in was für einer Gesellschaft landen wir dann?

Die Kreativität wird unterdrückt

Unser Bildungssystem sorgt dafür, dass die Kreativität der Kinder vergeudet wird.
Das Besondere an Kindern ist, dass sie einfach handeln — auch wenn sie sich nicht sicher sind. Sie haben (noch) keine Angst davor, falsch zu liegen. Das ist unser natürliches Verhalten. Warum sollte man auch eine angeborene Angst davor haben, falsch zu liegen? Diese Angst ist anerzogen und sorgt dafür, dass wir die Fähigkeit verlieren, kreativ zu sein.

Falsch zu liegen und kreativ zu sein, ist natürlich nicht dasselbe. Aber wenn man nie lernt, dass Fehler menschlich und in Ordnung sind, dann wird man großartige Ideen im eigenen Kopf immer wieder selbst kleinschreien, anstatt sie auszusprechen – in der Angst davor, falsch zu liegen. In der Schule sind Fehler das schlimmste, was man machen kann.

„Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener ein Künstler zu bleiben“ — Pablo Picasso.

Um zu verstehen, wie uns Kreativität im Laufe der Bildung abhanden kommt, sollten wir einen Blick auf das „Divergent Thinking“ („auseinanderlaufendes Denken“) werfen. Divergent Thinking ist eine wichtige Voraussetzung für Kreativität. Es beschreibt die Fähigkeit, viele verschiedene Möglichkeiten zu sehen. Möglichkeiten, ein Ziel zu erreichen, eine Frage zu beantworten oder zu interpretieren. Es ist die Fähigkeit, mehrere Antworten zu sehen und nicht nur eine.

Beispielhaft ist ein Experiment von George Land, in dem er die selben Kinder in verschiedenen Altersstufen immer wieder im Divergent Thinking testete. Eine Frage aus diesem Test könnte zum Beispiel sein: „Wie viele Verwendungsmöglichkeiten kannst du dir für eine Büroklammer vorstellen?“ Die meisten Menschen würden nach einiger Zeit wahrscheinlich 10 bis 15 Möglichkeiten nennen. Kreative würden auf 200 Möglichkeiten kommen, indem sie sich zum Beispiel vorstellen, eine Büroklammer als Messingstatue in der New Yorker Innenstadt zu platzieren.

In diesem Test wurde man als Genie im Divergent Thinking eingestuft, wenn man eine bestimmte Zahl von Möglichkeiten erreichte. Kindergartenkinder im Alter von drei bis fünf Jahren erreichten eine Geniequote von 98 Prozent. Kinder im Alter von acht bis zehn erreichten nur noch eine Quote von 30 Prozent und bei dreizehn- bis fünfzehnjährigen Kindern dachte nur noch ein Zehntel der Kinder divergent genug. Bei Erwachsenen über 25 Jahren lag die Quote bei zwei Prozent (2).

Wir haben diese Kapazitäten zu Beginn, aber sie verkommen mit der voranschreitenden Bildung. Wer sich zehn Jahre lang tagtäglich in einem Umfeld befindet, in dem es nur eine einzige Antwort auf die gestellte Aufgabe gibt, die entweder hinten im Buch oder im Bewertungsraster des Lehrers steht und sich hiernach richtet, dann verschwinden diese Kapazitäten, ja werden sogar boykottiert.

Anästhetische Erfahrungen

Der Autor und Gesellschaftskritiker Sir Ken Robinson merkte an, dass jedes Schulsystem auf dieser Welt die gleiche Rangfolge von Fächern hat:

  1. Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen
  2. Gesellschaftswissenschaften
  3. Kunst und Musik
  4. Theater und Tanz

„Es gibt kein Bildungssystem auf diesem Planeten, das Kinder täglich genauso im Tanzen unterrichtet wie in der Mathematik. Warum? Warum nicht? Mathematik ist sehr wichtig, aber das gleiche gilt für Tanz auch. Kinder tanzen die ganze Zeit, wenn sie dürfen, wir alle tun das“ — Sir Ken Robinson.

Auf der Skala stehen die nützlichsten Fächer, um später einen Job zu bekommen, ganz oben. Viele Kinder werden, in gutmütiger Absicht, von den Dingen, die sie mögen, weggesteuert. Der vorgebliche Grund dafür ist, dass sie in ihren intrinsischen Interessensbereichen wohl kaum einen Job bekommen würden.

„Nein, mach keine Musik. Du wirst kein Musiker werden.“ „Nein, konzentriere dich lieber nicht auf die Kunst. Davon kann man nicht leben.“ Solche Sätze hören einige Kinder sicher regelmäßig.
In den Künsten geht es aber vor allem um ästhetische Erfahrungen, in welchen die Sinne auf einem Maximum arbeiten, man den jetzigen Moment vollkommen fühlt, man mit dem, was man gerade sieht oder tut, resoniert. Es geht um die Momente, in denen man sich vollkommen lebendig fühlt, um den Zustand des „Flow“ (3).

Eine anästhetische Erfahrung ist eine, in der man seine Sinne abschaltet und sich abgestumpft dem unterwirft, was gerade passiert. Und genauso drücken wir viele unserer Kinder durch die Schule. Mit Anästhetika. Immer mehr abgelenkte Kinder bekommen Ritalin und andere Arzneimittel, damit sie sich in der Schule überhaupt konzentrieren können.

Wir leben im stimulierendsten Zeitalter der Menschheitsgeschichte. Kinder werden mit Millionen von Informationen und Stimuli überschüttet, sie befinden sich in einem Modus der konstanten Ablenkung. Ihre Aufmerksamkeit wird durch das Internet zerstört (4). Und wir bestrafen diese Kinder dafür, dass sie sich nicht auf den langweiligen Stoff in der Schule fokussieren können und betäuben sie mit Arzneimitteln. Dabei sollten wir genau das Gegenteil tun.

Wir sollten sie nicht einschläfern. Wir sollten sie und ihre Talente aufwecken. Wir sollten ihre Potenziale entdecken und herausfinden, woran sie mit Leidenschaft arbeiten können.

Aktuell gehen wir in den Schulen aber genau in die andere Richtung.

Chancengleichheit durch Bildung

Unser Bildungssystem ist teuer. Sehr teuer.

Doch wie teuer ist es, wenn ein Kind in der Schule seine Lust am Lernen verliert und dann keine Motivation mehr hat, einen Beruf zu ergreifen? Sein individuelles Leben wird so zerstört.

Dann entstehen Folgekosten, die noch niemand durchgerechnet hat, Folgekosten, derer sich viele gar nicht bewusst sind. Nicht nur Potenzial, sondern auch Geld wird verschleudert.

Ich schätze, dass mindestens ein Drittel der Schüler in einer Klasse die Lust am Lernen verliert. Dennoch werden diese Kinder später durch gesellschaftlichen Druck dazu gezwungen, eine Arbeit zu ergreifen, die nicht erfüllend sein kann. Je nach Region verlassen fünf bis zehn Prozent der Schüler die Schule ohne einen Abschluss (5). Einige von ihnen werden später Hartz-IV-Empfänger. Wenn man diese Menschen gefördert und ihnen die Chance gegeben hätte, sich zu entwickeln, dann müsste man sich später nicht in diesem Maße um Verteilungsgerechtigkeit kümmern.

Chancengleichheit und die Förderung eines jeden Kindes — ganz unabhängig vom individuellen Potenzial — beugt späteren Ungerechtigkeiten vor. In einem Land, in dem die spätere soziale Situiertheit auch sehr stark davon abhängt, in welchen sozialen Status wir geboren werden, brauchen wir eine Institution wie die Schule, um Chancengerechtigkeit herzustellen.

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung leben 21 Prozent der Kinder in Deutschland „dauerhaft oder wiederkehrend in Armutslagen“ (6). Dabei ist Deutschland das Land mit dem vierthöchsten BIP, eines der reichsten Länder der Welt (7).

Was muss sich ändern?

„Bildung ist nicht etwas, das am Ende dann eventuell erfolgreich war — oder auch nicht. Bildung ist etwas, das passiert. Bildung kann höchstens gelingen. Bildung kann man nicht machen, man kann höchstens einen Rahmen geben, in dem Bildung gelingt“ — Gerald Hüther.

Durch die lernpsychologischen und neurobiologischen Erkenntnisse der letzten Jahre (und sogar schon Jahrzehnte und Jahrhunderte) wissen wir, wie man Bildung gestalten sollte — und auch, wie nicht. Vor diesem Hintergrund sind die jetzigen Methoden total veraltet.

Kinder sind keine Fässer, die man füllt, bis sie voll sind. Bildung muss Anleitung zur Selbstbildung sein. Erst, wenn man eigenständig das lernen kann, wofür man sich interessiert, dann findet ein nachhaltiger Lernprozess statt. Und wir können das System nur dann wirklich verbessern, wenn wir jeden Schüler als lebendigen Organismus sehen, der nur unter ganz bestimmten individuellen Kriterien gedeihen kann.

„Bildung ist nicht das Befüllen eines Eimers. Bildung ist das Entzünden eines Feuers“ — William Butler Yeats.

Das wichtigste ist, die Kinder in ihrer natürlichen und begeisterten Entdeckerfreude zu fördern und diese so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Es gibt Schulen, an denen die Schüler den Stoff gemeinsam erarbeiten. Dort verstehen sich die Lehrer als „Potenzial-Entfaltungs-Coaches“ und versuchen einen für das Lernen günstigen Rahmen zu schaffen, in dem Schüler plötzlich ein Interesse entwickeln, sich den Stoff selbst zu erschließen. Die Neugierde bleibt erhalten oder wird neu geweckt.

Außerdem vollziehen sich die meisten Lern- und Potenzialentfaltungsprozesse in Gruppen. Gemeinsam an etwas Bedeutendem zu arbeiten, ist wie Nährboden für das eigene Wachstum. Außerhalb einer Gruppe fällt es schwerer, ein Gefühl für die eigenen Möglichkeiten zu entwickeln. Zudem macht es viel mehr Freude, mit anderen gemeinsam etwas zu erarbeiten, zu entdecken oder zu gestalten. Was in der Schule „abschreiben“ heißt, nennt man außerhalb „Zusammenarbeit“. Wenn wir die Kinder voneinander trennen und einzeln bewerten, dann bewirken wir eine Trennung zwischen ihnen und ihrer natürlichen Lernumgebung.

Zu einer guten Bildung gehört allerdings sehr viel mehr als nur die Aneignung von Wissen. Emotionale Bildung und das Erfahren des gegenseitigen Miteinanders gehören zwingend dazu. Man sollte zum Beispiel auch lernen, eine gute Beziehung zu seinem eigenen Körper und Geist herzustellen, statt sich — im Extremfall — selbst zu hassen.

Zum Lernen gehört immer auch ein Körper. Nachgewiesenermaßen lernen wir nach und bei Bewegung sehr viel schneller (8). Aber wir zwingen unsere entdeckerfreudigen, neugierigen und energiegeladenen Kinder dazu, den halben Tag still und stumm auf einem Stuhl zu sitzen, während die Lehrer versuchen, ihnen Wissen einzutrichtern. Bewegung und Bildung sollten verknüpft werden.

Auch die Annahme, Menschen könnten ohne Gefühle lernen, ist falsch. Das funktioniert nicht, wie oben erklärt. Jeder kann aber nur dann Neues nachhaltig vernetzen, wenn es ihn emotional berührt.

Da Kinder eine Form der Rückmeldung wollen, sollte man Benotungen beibehalten. Doch niemand sollte diese Noten als Selektionskriterium für den Rest des Lebens verwenden. Auch sollte mit Bewertungen kein Druck ausgeübt werden. Sie sollten nur als Rückmeldungen über den gegenwärtigen Wissensstand dienen.

In Finnland, wo das Bildungssystem gut funktioniert, finden wir bis zur Oberstufe keine Hausaufgaben und ab dort nur wenige, außerdem ein breites Fächerangebot, kein landesweites Pflicht-Curriculum, praktische Kurse, Förderung von Kreativität, großen Spielraum der Schulleiter, keine standardisierten Tests außer am Ende der Sekundarstufe II.

Auf! Zu einer Bildungsrevolution

Wir wissen, was falsch ist, und zahlreiche Experten und Wissenschaftler sagen uns, was wir besser machen müssen.

Wir haben also kein Wissensdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. Wir brauchen eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die die Politiker dazu zwingt, einen Rahmen für eine andere Art von Schule zu schaffen. Und das beginnt immer auf der untersten Ebene: in den Kommunen.

„Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ — Victor Hugo.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www-03.ibm.com/press/us/en/pressrelease/31670.wss
(2) George Land – Breakpoint and Beyond
(3) Mihály Csíkszentmihályi – Flow: The Psychology of Optimal Experience
(4) Nicolas Carr – The Shallows: https://en.wikipedia.org/wiki/Psychological_effects_of_Internet_use#
https://youtu.be/8UsI9CXHm6o
(5) https://www.destatis.de/DE/Publikationen/StatistischesJahrbuch/Bildung.pdf?__blob=publicationFile
(6) https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/oktober/kinderarmut-ist-in-deutschland-oft-ein-dauerzustand/
(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt
(8) https://www.health.harvard.edu/blog/regular-exercise-changes-brain-improve-memory-thinking-skills-201404097110
https://youtu.be/DsVzKCk066g
https://www.additudemag.com/exercise-learning-adhd-brain/?tos=accepted

Andere verwendete Quellen:
Sir Ken Robinson — Wie wir alle zu Lehrern und Lehrer zu Helden werden
https://youtu.be/iG9CE55wbtY
https://youtu.be/zDZFcDGpL4U


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors: „Collage der Sinnlosigkeit“.


Ben Q., Jahrgang 2000, kommt aus dem Ruhrgebiet und interessiert sich seit seiner Jugend für Politik und Psychologie, und vor allem für den Mix der beiden Bereiche. Seine Unzufriedenheit mit einigen Themen kann er nicht immer nur für sich behalten, und so teilt er sie. Er wünscht sich ein gerechtes System, in dem jeder sein Potenzial frei entfalten kann. Mit Begeisterung schreibt er an seinem Blog „Collage der Sinnlosigkeit“ und für die Kolumne „Junge Federn“.


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