Burak Hoffmann ist Schauspieler. Seine im doppelten Wortsinn „ungehaltene Rede“ ging im Netz viral. Der in der Türkei geborene junge Mann erzählt darin unter anderem von schlimmen Erfahrungen mit Diskriminierung und Gewalt gegen „anders aussehende“ Menschen:
„Als ich 15 Jahre alt war, hat mich eine fanatische Gruppe Rechtsradikaler zusammengeschlagen und mit einem Messer angestochen. Ich habe mich danach immer gefragt, was Menschen bewegt, so etwas zu tun. Wer oder was lässt sie so verrohen? Wer oder was jagt ihnen eine solche Angst ein, dass sie sich am Ende radikalisieren, ihr Gegenüber entmenschlichen und ihm nur noch Verachtung entgegenbringen? (…) Der Jude, der Moslem, der Kommunist, der Terrorist, der Schwarze, der Weiße …“
Hoffmann erzählt dann von einem Dialog, den er im Zusammenhang mit der Kölner Silvesternacht 2015 führte ― ein Ereignis, das er, wie er versichert, nie bagatellisiert hatte. Der Volkszorn richtete sich damals pauschal gegen Männer mit schwarzen Haaren und schwarzen Bärten ― also auch gegen Burak selbst. „Sexattacken“ von Migranten brachten in Medien Überschriften wie diese hervor: „Sind wir noch tolerant oder schon blind?“ Oder, wie die Süddeutsche Zeitung titelte: „Wer ist der arabische Mann?“
Eine Passantin wechselte, als ihr Burak Hoffmann auf dem Gehweg entgegenkam, sofort die Straßenseite und versteckte sich hinter einem Auto. Als der Schauspieler auf dem Bahnsteig an eine Frau mit der Frage herantrat, ob sie ihn auf ihrem Ticket mitnehmen könne, mischten sich Umstehende ein. Er solle sie in Ruhe lassen und wieder dorthin zurückgehen, wo er hergekommen sei. Damals kippte kollektiv die Stimmung von „Willkommenskultur“ hin zu Xenophobie. Dies betraf auch solche „arabisch aussehende Männer“, die schon immer oder schon sehr lange in Deutschland lebten. Angst sei die Wurzel solchen Verhaltens, so Burak Hoffmann. Angst, die von einer Reihe von Mainstreammedien mit geschürt worden sei.
Unter Verdacht „Der arabische Mann“
Wir kennen solche Berichte natürlich.
Es ist aber in der momentanen explosiven Situation wichtig, sich daran zu erinnern, dass es gruppenbezogenen Hass und pauschalisierte Angst vor „Fremden“ immer noch gibt, dass dergleichen also nicht bloß eine Ausgeburt des woken Zeitgeists ist oder der gesteigerten psychischen Vulnerabilität einer „Generation Beleidigt“.
Andererseits folgten auf die Kölner Silvesternacht natürlich inzwischen etliche Nachfolgeereignisse, weitere Vorfälle schockierender Gewalt durch Migranten. So wurden im Sommer mehrere Massenschlägereien in Freibädern bekannt. Die Akteure stammten offenbar aus dem „nordafrikanischen Raum“.
Die 14-jährige Ece S. aus Illerkirchberg wurde im Januar 2023 von einem Asylbewerber aus Eritrea ermordet. Bei einer Messerstecherei in einem Zug von Kiel nach Hamburg wurden Ende Januar zwei Menschen getötet, zwei weitere verletzt ― offenbar war der Täter ein „staatenloser Palästinenser“. Fälle wie jener des Dorfes Upahl, dem ― selbst nur 508 Einwohner stark ― von den Behörden 400 Asylbewerber zugewiesen wurden, gingen durch die Presse. Selbst das von „Rechten“ schon lange gefürchtete Horrorszenario, dass Deutsche wegen Flüchtlingen ihre Wohnung verlieren könnten, wurde offenbar in zumindest einem Fall Wirklichkeit.
Ein weiteres Thema, das emotional hohe Wellen schlug, ist das Mobbing deutscher durch „ausländische“ Schüler. In vielen Klassen in „sozialen Brennpunkten“ bilden Kinder mit Migrationshintergrund bereits jetzt die Mehrheit. So gab ein betroffener Schüler dem Tagesspiegel zu Protokoll:
„Ich gehe in die siebte Klasse auf ein Gymnasium in Schöneberg. Dort werde ich ausgegrenzt, weil ich Deutscher bin und Schweinefleisch esse. Es wird auf Türkisch und Arabisch über mich gelästert. Auf Deutsch werde ich als Hurensohn oder gefickte Hure beschimpft. Außerdem werde ich ab und zu geschlagen und getreten. Wenn ich anderen Jungen zu nahe komme, beschimpfen sie mich als schwul und treten mich. Mädchen werden in meiner Klasse als Schlampen bezeichnet, wenn sie schulterfreie Shirts tragen.“
Eine Mutter berichtet über die Leidensgeschichte ihres Kindes:
„Mitschüler bezeichnen ihn als ‚Schweinedeutscher‘, ‚Schweinechrist‘ und als ‚deutsche Kartoffel‘. Auf seiner Schule sind hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund. Die meisten sind Muslime.“
Der Tagesspiegel ist ein Medium mit eher linksgrüner Ausrichtung und berichtet im selben Artikel fairerweise auch über Mobbing durch deutsche Schüler gegen solche mit Migrationshintergrund.
Brennpunkt Neukölln
Der Sachbuchautor Raymund Unger berichtet in seinem Buch „Die Wiedergutmacher“, wie sich sein Berliner Heimatbezirk Neukölln in den vergangenen Jahren verändert habe. Die Atmosphäre in der Stadt sei aggressiver geworden. Bedrohliche Situationen, verursacht durch Gruppen arabischstämmiger junger Männer, häuften sich. Den allfälligen Provokationen könne man nur durch ein Vermeidungsverhalten entgehen. Ausweichen, Sich-Wegducken und im Konfliktfall lieber nachgeben, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Neben Imponiergehabe gebe es auch einen „trotzigen, aggressiven Konservativismus“. Erkennbar geht es Unger bei seinen Schilderungen nicht darum, aus „rechter“ Perspektive ein negatives Bild von „den Ausländern“ zu vermitteln; er will nur die Realität gewürdigt wissen, so wie er sie erlebt und wie auch viel andere Bürger in „Brennpunkten“ sie erleben.
Raymond Unger vergleich die neue mit der alten Einwanderkultur, mit welcher er sich als Bewohner des Viertels früher sehr wohl gefühlt hatte. Herzliche, friedliche Menschen, mit denen man sich auf einen Teller Falafel oder einen Kaffee treffen konnte. Auch konservative, alteingesessene Türken, so Unger, klagten über das Verhalten der „neuen“ Ausländer. Ein türkischer Bekannter des Autors sagte zu ihm: „Araber machen alles kaputt. Warum können die einfach alle so herkommen?“ Der Türke sehnt sich nach einem Haus auf dem Land, abseits der Großstadt, und versteht sich als „entschiedener Gegner der Zuwanderung“.
Aufgrund von eigenen Erlebnissen, aber auch von sich wiederholenden, ähnlich lautenden Meldungen in den Nachrichten, seien viele Einheimische dazu übergegangen, einem gewissen „Typus“ Mensch mit Argwohn zu begegnen: dunkle Haare, dunklere Haut, dunkle Iris. Der „nordafrikanisch-orientalische Typ“, von der Polizei auch als „Nafri“ bezeichnet. Wenn ein Mensch, auf den ein solches Bild zutrifft, seinen Rucksack in der Bahn vergäße, würde das bei den meisten größere Ängste auslösen als bei einem Norweger ― obwohl auch diese Nation über einen berüchtigten Attentäter verfügt: Anders Breivik. Raymund Unger hält solche Vorurteile selbst für problematisch.
„Aller Wahrscheinlichkeit nach tun wir unserem Gegenüber damit unrecht ― dies ist mir durchaus bewusst, und die Tatsache eines Generalverdachts löst Scham bei mir aus.“
Das „herbeigeklatschte“ Elend
Der engagierte Liedermacher Estéban Cortez („Mir reicht’s“), der in vielen Liedern ― etwa in der Coronafrage und zum Russland-Ukraine-Krieg ― Positionen vertreten hat, die ich teile, entwarf in seinem Lied „Die Kinder von Eurabia“ die Dystopie einer Gesellschaft, die sich aufgrund ungebremster Migration aus dem arabischen Raum in einem rapiden Prozess der Auflösung befindet. Deutsche Kinder trauen sich in diesem Szenario nicht mehr auf die Straße, weil marodierende Banden gewalttätig durch die Straßen ziehen. „Man hat sie verraten im Namen einer falschen Menschlichkeit.“ Mit der Anwendung einer solchen Rhetorik sagt Cortez deutlich: „Zu viel“ Mitgefühl mit Geflüchteten wird, wenn sich der Trend fortsetzt, das Land zerstören. Falsche Menschlichkeit zeitigt unmenschliche Folgen.
Der Titelbegriff „Eurabia“ suggeriert auch, wo das Problem angeblich liegt. Europa droht die Selbstabschaffung durch einen Mangel an Wehrhaftigkeit gegenüber „den Arabern“, die das saubere Deutschland in eine Art Wilden Westen nahöstlicher Prägung verwandeln, einen Ort „wo man Frauen begrapscht“. Dem Beobachter kommt die späte Erkenntnis: „Ihr habt das Elend doch selber herbeigeklatscht.“ Damit erteilt Estéban Cortez der Willkommenskultur der Jahre 2015 und 2016 eine deutliche Klatsche.
Das Lied ist polemisch und einseitig, es überzeichnet die Situation und weist einer bestimmten Migrantengruppe eindeutig Sündenbockfunktion zu. Aus der Perspektive des Sängers dürfte „richtige Menschlichkeit“ demnach wohl in der Fähigkeit bestehen, die „eigenen Leute“ ― vor allem Kinder ― vor einem Unheil zu bewahren, das bereits jetzt unübersehbar heraufdämmert. Und Schutz der eigenen Kinder ist schließlich ein urmenschliches Bedürfnis.
Der Fall von Cortez zeigt deutlich die Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch die Risiken einer nach rechts offenen neuen Kulturlandschaft, die sich in Anbetracht des historischen Versagens der traditionell eher linken Liedermacher- und Rockszene in Deutschland herausgebildet hat. Da der kritische Geist links keine Heimat mehr hat, darf man raten, welche Richtung er nun stattdessen genommen hat.
„Der Ausländer“: Dämon oder Heiliger?
Es ist schwierig, mit all den Berichten und Meinungen umzugehen, die ich hier zusammengetragen habe. Sicher kennen die Leserinnen und Leser einige dieser Fälle und Nachrichten und könnten noch weitere anführen. Journalisten können beliebigen Sammlerfleiß entwickeln, um die öffentliche Meinung in die gewünschte Richtung zu lenken. Umgekehrt wäre es leicht, genügend Fälle von Kriminalität gegen Migranten, von Flüchtlingsfeindlichkeit und Rassismus zusammenzutragen. Mit „Anekdoten“ kann man jedoch immer nur kleine Ausschnitte der Wirklichkeit erfassen. Ebenso mit emotionalen Meinungsäußerungen Einzelner. Ich versuche in diesem Artikel und in einem weiteren, der folgen wird, also zunächst nur ein paar grundsätzliche Gedanken zum Umgang mit dem Thema Migration zu entwickeln.
Es bedarf einer umfassenden Debatte aus verschiedenen Blickwinkeln ― jeweils angepasst an die aktuelle Entwicklung. Gleichzeitig ist die Frage „Wie hältst du’s mit der Migration?“ nicht allein eine akademische, denn vom politischen Gesamtklima in einer Gesellschaft kann das Schicksal vieler Einzelner abhängen. Es geht um Heimatrecht oder Abschiebung, oft auch darum, wie man ein Schicksal als Opfer von Kriminalität und Diskriminierung erleidet.
Die Welt bemühte sich schon in einem älteren Artikel um Differenzierung:
„Warum werden, noch bevor der Schrecken betrachtet oder analysiert worden ist, gleich Salven der Relativierung und des Verdachts gegen vermeintliche Ausländerfeinde abgeschossen, wenn nun im Buch der verstorbenen Berliner Richterin Kirsten Heisig die Gewalttaten junger Migranten und die staatsfeindlichen Strategien ihre Familien beschrieben werden?“
Autor Matthias Kamann verweist darauf, dass sehr oft „Migranten selbst“ Opfer von Gewalttaten werden, die wiederum von Migranten begangen wurden. Er warnt richtigerweise vor Verallgemeinerung. Es werde „so getan, als gebe es ‚die‘ Ausländer, wobei sich Xenophobiker und Verdränger nur darin unterscheiden, dass Erstere ‚den‘ Migranten alles Üble zutrauen, Letztere hingegen nichts Übles“.
Die Einschätzung der Migrationsfrage ist also schwierig, in gewisser Weise aber auch einfach. Wir haben Menschen vor uns, die Menschen ausgrenzen, demütigen, bedrohen oder körperlich angreifen, hier wie dort. Mal sind Deutschstämmige die Täter und Migranten die Opfer, mal ist es umgekehrt. Unsere Solidarität sollte in allen Fällen den Geschädigten gelten und nicht abhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion verteilt werden.
Zu Recht als „rechts“ verschrien?
Ein Beispiel für eine sehr polemische und alarmistische Aufbereitung des Themas „Migration“ gibt Ex-Bild-Chef Julian Reichelt auf seinem YouTube-Kanal „Achtung, Reichelt!“ Reichelt sagt in seinen Videos vermutlich nicht die Unwahrheit, versteht es aber meisterhaft, durch die gezielt einseitige Aufbereitung von Fakten einen insgesamt schiefen Eindruck entstehen zu lassen. Die detaillierte und mitfühlende Darstellung von Mordfällen wie dem an der 14-jährigen Ece aus Illerkirchberg ist dabei legitim, weil sie zunächst einmal klar macht, welche Katastrophe die Zerstörung von Menschenleben darstellt und was Mord für das Umfeld des Opfers bedeutet. Dann aber „framt“ Reichelt die Tat und gibt ihr einen politischen Kontext. „Wir haben keine Ahnung, wer da zu uns kommt.“ Der Täter hätte gar nicht erst nach Deutschland kommen dürfen. Der Mord sei also das „direkte Ergebnis einer historisch gescheiterten Flüchtlingspolitik“, einer „Ideologie der offenen Grenzen“.
Dies wirkt zwar plausibel, schwieriger ist jedoch die Frage, wie derartige Taten in Zukunft verhindert werden können. Hier legt Reichelts Rhetorik eine Ideologie der geschlossenen Grenzen nahe, beruhend auf einem Pauschalverdacht gegen Zuwanderer. Man könnte argumentieren, dass eine Begrenzung des Zuzugs sinnvoll sei, ebenso der Grundsatz, dass die Behörden schon vor Erteilung der Einreiseerlaubnis ganz genau prüfen müssten, „wer da zu uns kommt“. Dies würde aber teilweise prophetische Gaben erfordern. Oder man würde sich der Anstrengung des Abwägens entziehen, indem man die Grenzen dicht macht, und somit viele gutwillige, nicht gewalttätige Menschen abweist, auf den bloßen Verdacht hin, es könnte sich unter ihnen der nächste Illerkirchberg-Mörder befinden. Das größte Defizit hat Reichelts politischer Ansatz auf dem Gebiet konkreter Lösungsvorschläge.
Zu seinen Standardargumenten gehört auch die Polemik gegen die „Verharmloser“ der Ausländerkriminalität, welche jede Kritik an ihrer Politik als „rechts“ abkanzeln. Wie viele uns aus schmerzlicher Erfahrung im Zusammenhang mit den Themen „Corona“ und „Ukrainekrieg“ wissen, geht das Wort „rechts“ den Vertretern der vermeintlichen politischen Mitte sehr flott über die Lippen.
Aber gibt es nicht Denkweisen, die zu Recht als „rechts“ bezeichnet werden können? Und gehört zu diesen nicht unbedingt auch Stimmungsmache gegen Zuwanderer? Laut Reichelt geben uns Behörden und öffentlich-rechtliche Medien vor, „was wir jetzt alles nicht denken, nicht empfinden, nicht sagen sollen“. Die ermittelnde Polizei habe gebeten, „keinen Generalverdacht gegen Fremde, Asylbewerber, Schutzsuchende allgemein zu hegen“.
Thomas Strobel, Innenminister von Baden-Württemberg hätte keine Erkenntnisse für einen politischen oder religiösen Hintergrund der Tat vorzuweisen gehabt und daher gebeten, die Ermittlungsergebnisse der Polizei abzuwarten. Die Tagesschau habe die Nachricht am Tag nach dem Mord erst als siebten Beitrag gebracht und dabei die Herkunft des Täters aus Gründen überbordender Correctness verschwiegen. Alle genannten Verhaltensweisen von Behörden, Polizei und Medien bewertet Julian Reichelt negativ, obwohl es ja richtig ist, auf Pauschalverurteilungen zu verzichten und mit der Deutung eines Verbrechens abzuwarten, bis nähere polizeiliche Erkenntnisse vorliegen.
Muslimisch, archaisch, gewalttätig?
Man stelle sich umgekehrt eine Tagesschau-Ausgabe zum Mord in Illerkirchberg nach dem Gusto von Julian Reichelt vor! Das Thema käme gleich als erstes ― also noch vor Ukrainekrieg, Inflation, Wärmepumpen und dem Niedergang der deutschen Wirtschaft. Gleich nach dem Bericht über die Tat würde der Nachrichtensprecher hinzufügen: „Der Täter war ein Ausländer.“ Und:
„In jüngerer Zeit gab es schon viele Mordtaten durch Ausländer. Dies deutet auf eine verfehlte Migrationspolitik der Bundesregierung hin. Wenn Sie also künftig einem jungen Mann mit schwarzen Haaren und dunkleren Teint begegnen, seien Sie lieber vorsichtig!“
Es wäre naiv, anzunehmen, dass eine solche Berichterstattung nicht auch die Gesamtstimmung in der Bevölkerung verdüstern und integren Menschen mit Migrationshintergrund wie dem eingangs erwähnten Burak Hoffmann schaden würde. Ohne Kenntnisse der Tathintergründe würde sich in die Köpfe der Tagesschau-Zuschauer gleich der Gedanke einschleichen: „Aha, schon wieder ein Ausländer!“
Reichelt manipuliert schon durch die bloße Fülle negativer Mitteilungen und Analysen über Migranten. Für ihn kommen Menschen, die nicht ursprünglich deutsch sind, überhaupt nur im Zusammenhang mit Kriminalität vor ― und mit der impliziten Unterstellung, es gebe ihrer „zu viele“.
Während es sich bei deutschen Tätern nach wie vor um Einzelfälle handelte ― sofern Reichelt deren Straftaten überhaupt thematisiert ―, scheint bei „Ausländern“ eine Art mentalitätsbedingte grundsätzliche Neigung zur Delinquenz vorzuliegen. Eher noch erscheinen bei Achtung Reichelt! zehn Beiträge über gewalttätige Flüchtlinge als nur ein einziger, in dem solche Menschen liebenswert erscheinen oder etwas Konstruktives leisten.
Freilich sind Statistiken ein brauchbarer Versuch, sich der Wahrheit anzunähern ― sofern sie korrekt sind und korrekt gedeutet werden. So stellt Julian Reichelt fest: „Fast jeder zweite Hartz IV-Empfänger ist Ausländer.“ Die nicht weiter spezifizierte Unterscheidung in „Inländer“ und „Ausländer“ lässt aber die allermeisten Fragen offen. Um welche Herkunftsländer geht es? Norwegen? Vermutlich nicht. Diese Darstellungsweise rückt jedoch alles „Undeutsche“ unterschiedslos in den Bereich des Verdächtigen. Es schließen sich recht krude Pauschalverurteilungen an:
„Tatsächlich sind wir das attraktivste Land für sehr faule, komplett unqualifizierte Menschen. (…) Der Sehnsuchtsort für Analphabeten. Der Sehnsuchtsort für junge Männer, die nichts mehr zu verlieren haben, aus meist muslimischen, archaischen, oft ultragewalttätigen Gesellschaften, in denen Menschenleben und vor allem die Leben von Frauen und Mädchen wenig oder gar nichts wert sind.“
Reichelt sagt zwar nicht explizit, dass die Begriffe „muslimisch“, „archaisch“ und „gewalttätig“ deckungsgleich seien, die Assoziationskette wird so aber in den Köpfen der Zuschauer verankert. Wie bei „Querdenker, Nazis, Antisemiten“.
Es werden parasitäre Absichten als Teil eines angenommenen Volkscharakters unterstellt. Die Einstellung vieler Zugewanderter sei: „Ohne Arbeit in Deutschland mehr Geld als mit Arbeit in der Heimat.“ Und das Resümee: Diese Zuwanderungspolitik „wird Leben kosten“. Die Botschaft ist klar: Wenn offene Grenzen den Tod bringen, Abschottung dagegen Leben rettet, wählen anständige Menschen die letztere Option.
Wenn alle Menschen rund um die Uhr in ihren Wohnungen eingesperrt werden, gibt es auch keine Corona-Ansteckung mehr. Und wenn kein einziger „Ausländer“ mehr über die Grenze gelassen wird, gibt es auch keine Ausländerkriminalität mehr ― von denen abgesehen, die man unvorsichtigerweise schon ins Land gelassen hat. Sendungen, wie sie Julian Reichelt macht, sind auch eine Art Werbefeldzug für die Prinzipien „Härte“ und „Strenge“, „Sicherheit“ und „Vorsicht“, die aufmerksamen Beobachtern des Zeitgeschehens bekannt vorkommen dürften.
Verschanzt hinter Teilwahrheiten
Wir sehen, dass man zwar bestimmte migrationskritische Diskurse relativ leicht durchschauen und argumenta stellen kann, dass aber die Gesamtthematik kompliziert bleibt. Denn das Fehlverhalten von nicht wenigen Migranten und die mit Migration verbundenen Probleme sind real.
Die Parteinahme für die Opfer von Rassismus und der Schutz deutscher Opfer von Ausländerkriminalität ― speziell von Frauen und Kindern ― schließen einander nicht aus. Im Gegenteil ist es ein- und dieselbe Humanität, die sich schützend vor beide Gruppen stellt.
Es ist ein- und derselbe Abscheu vor Gewalt, Diskriminierung und Machtanmaßung, die uns Stellung nehmen lässt gegen Nazihorden, die ein Asylbewerberheim abfackeln, wie auch gegen arabische Bandenkriminalität, wenn sich dies anmaßt, ganze Stadtviertel zu dominieren. In der Theorie ist all das nicht schwer zu verstehen.
Dennoch fürchte ich in der weiteren Debatte über Migration einen Effekt, der sich schon bei Themen wie „Corona“ oder „Russland“ zeigte: die Neigung vieler Zeitgenossen, sich auf eine Teilwahrheit zu versteifen. Wir kennen das Beispiel einer Gruppe von Blinden, die einen Elefanten abtasten. Der eine greift an das Ohr des Tiers und sagt: „Der Elefant gleicht einem großen Blatt“. Der andere fühlt den „Schlauch“ seines Rüssels, der dritte den „Baumstamm“ eines seiner Beine. Diese Teilbeobachtungen ließen sich nur dann zu einem realitätsnahen Bild zusammenfügen, wenn alle Beteiligten einsähen, dass sie alle wahr sind ― jedoch alle nur teilweise wahr.
Jeder Streit wäre hinfällig, sobald sich die Gruppe darauf einigte, dass die Summe einander ergänzender Wahrheiten der Realität wesentlich näherkäme als Einzelbetrachtungen. Und dass nichts schädlicher für die Wahrheitsfindung ist als allzu selbstbewusstes Beharren auf der eigenen, eben nur partiell zutreffenden Position.
Meine Befürchtung ist, dass es rund um das Thema „Migration“ zu einer weiteren tiefen Spaltung der Gesellschaft kommen wird. Einer Spaltung, die die Bevölkerung wiederum an anderen Trennlinien auseinanderreißt, als es „Corona“ getan hat. Ja, die Spaltung ist vielfach schon jetzt Realität. Merkwürdigerweise wird sie aber in „unserer“ Szene, also in den sogenannten Alternativmedien bisher wenig thematisiert.
Vielleicht stellen sich viele Akteure auf den Standpunkt: „Wenn ich nichts dazu sage, sage ich wenigstens nichts Falsches.“ Denn leicht erhebt sich bei jeder Äußerung von der einen Seite der Vorwurf des „Rassismus“, von der anderen Seite die Unterstellung, man wolle die Opfer von Flüchtlingskriminalität „verhöhnen“ beziehungsweise weitere Opfer riskieren.
Es ist jedoch unbedingt notwendig, sich dem Thema und den damit verbundenen schwierigen Fragen zu stellen. Die toxische Mischung aus Verleugnung seitens linksgrüner Gütemonopolisten, instinktiver rechter Xenophobie und tatsächlichem Fehlverhalten nicht weniger Migranten birgt erheblichen Sprengstoff. Wem noch an den Grundlagen eines humanen Umgangs miteinander gelegen ist, der sollte jetzt reden, bevor sich die Extremisten beider Denkrichtungen die Meinungsführerschaft greifen. Bevor ― in Worten und später auch in Taten ― zwei verfeindete Banden aufeinander losgehen wie kämpfende Widder in der Brunft.
Flüchtlinge ― die neuen Ungeimpften?
In seiner eingangs erwähnten Rede schlägt Burak Hoffmann gedanklich eine Brücke von der Ausgrenzung „arabisch aussehender Männer“ zu der extremen Ungeimpften-Diskriminierung der Jahre 2021 und 2022. Die meisten, gerade im linken und grünen Milieu, glaubten sich lange auf der sicheren Seite und gegen Feindbildhetze immun, so Hoffmann. „Oder würden Sie sagen, es gäbe dieser Tage einen unsichtbaren Feind oder personifizierten Staatsfeind, den es zu bekämpfen gilt?“ Doch, den gab es in den Coronajahren.
So schrieb der Zeit-Kolumnist Christian Foren am 19. November 2021: „Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil, einer der die Gesellschaft spaltet.“ Burak Hoffmann zitiert dann eine Reihe von Pressebeiträgen, die explizit zu Intoleranz gegenüber Ungeimpften auffordern und bringt diese Äußerungen mit der auf Flüchtlinge bezogenen rhetorischen Frage in Verbindung: „Sind wir noch tolerant oder schon blind?“
In der Tat stechen die Parallelen zwischen beiden Themenfeldern ins Auge, und auch die Art und Weise, wie „Normale“ beim Thema Corona wie beim Thema Migration auf die als Feind markierten Bevölkerungsgruppe reagierten, gleichen einander. In einem Artikel aus dem Jahr 2020, als zeitweise auf den Straßen sowohl Black-Lives-Matter- als auch Corona-Demonstrationen stattfanden, schrieb ich:
„ ‚Wir‘ — also die weniger privilegierten Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft wie auch die Angehörigen diskriminierter Minderheiten — müssen zusammenhalten, weil wir *zusammengehören. Versuchen wir allen mit natürlicher Freundlichkeit zu begegnen. Hören wir den ‚Anderen‘ zu, bis sich aus der Maske ihres vermeintlichen Andersseins etwas herausschält, was sich als uns ganz ähnlich erweist.“*
Ich war in den Coronajahren ein wenig enttäuscht von den Vertretern „klassischer“ Minderheiten, etwa Schwarzen, Muslimen, Juden oder Homosexuellen, von denen ich kaum ein Wort der Solidarität mit der neu kreierten Gruppe der Ausgegrenzten hörte: Ungeimpften und Coronaskeptikern. Es war, als hätten diese ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen „vergessen“ oder könnten diese nicht auf die neue Situation übertragen. Die Aufforderung zur Solidarität gilt aber auch umgekehrt.
Jetzt, 2023, sind Ungeimpfte überwiegend aus ihrer Rolle des Prügelknaben der Nation entlassen; Flüchtlinge und Personen mit Migrationshintergrund erfahren dagegen immer noch ― oder schon wieder ― pauschales Misstrauen und Abwertung wegen Taten, die nicht von ihnen, sondern von Personen begangen wurden, die in den Augen der Mehrheitsgesellschaft in die gleiche Schublade gehören.
Es ist immer leicht, Diskriminierung und Demütigung zu erkennen, wo sie einen selbst oder die eigene Gruppe betrifft. Schwerer ― aber nicht minder wichtig ― ist es, sich auch schützend vor die „Anderen“ zu stellen, die uns oberflächlich betrachtet vielleicht nicht gleichen, die jedoch zu unseren Brüdern und Schwestern geworden sind durch die gemeinsame Erfahrung verletzender Ausgrenzung.
Wer jetzt nicht auch für zu Unrecht beleidigte Migranten und „Ausländer“ eintritt, hat aus Corona nichts gelernt. Ebenso sollte uns der pauschale Hass hellhörig gemacht haben, der sich seit Anfang 2022 gegen „die Russen“ entlädt. Eine dritte derartige Hasskampagne ist das letzte, was unser tief gespaltenes Land jetzt braucht.
Am 27. März erschien „Strategien der Macht“ von Roland Rottenfußer. Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Klappentext:
Wenn jetzt nicht etwas Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Und nicht die Angriffe ihrer Gegner werden ihr den Garaus machen — die Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen, wird es tun.
Pandemien, Weltkrieg, Klimanotstand: Die Freiheit schwebt in höchster Gefahr. „Freiheitsgesäusel“? „Mehr Diktatur wagen“? Was ist kaputt in den Herzen und Köpfen der vielen, dass sie sich selbst und ihre Freiheit so geringschätzen, ja regelrecht verachten? Warum stimmen sie ihrer eigenen Entrechtung zu und scheinen in ihre Ketten geradezu verliebt?
Roland Rottenfußer zeigt: Wir sind Gefangene unserer Illusionen, Gefangene der Lügen und Strategien der Macht. Doch der Kaiser ist längst nackt, der Zauberer von Oz nur ein größenwahnsinniger Zwerg, der an Hebeln zieht. Erkennen wir, dass unsere Angst grundlos ist, fällt der Bann von uns ab und finden wir zurück in unsere Wahrheit und Kraft:
„Wäre die Freiheit eine Person, eine schöne Göttin — was würde ich ihr sagen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen, unwürdigen Verrat. Es wird nie wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.“
Rottenfußers Buch ist eine Liebeserklärung an die Freiheit und individuell-kollektive Revolutionsanleitung zugleich. Der Weg liegt vor uns, wir müssen ihn nur noch gehen. Ganz nach der Devise von Bertolt Brecht: „Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.“
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