Die Journalistin Ferda Ataman hat recht: Deutschlands Medienlandschaft ist einzigartig — einzigartig arrogant. Neulich hat sie bei Spiegel Online eine Kolumne veröffentlicht. Darin rechnet sie mit der Medienkritik im Lande ab. Das heißt: Es wäre schön, wenn sie es täte. Sie tut im Grunde nur so. Diesen laxen Umgang mit der berechtigten Medienkritik kennt man ja mittlerweile. Man spielt runter, schiebt einige dämliche „Lügenpresse, Lügenpresse“-Rufer vor, nur um deren kuriosen Auftritt als Nachweis zu präsentieren: In einem Land, in dem diejenigen, die die Presse der Lüge bezichtigen, trotzdem gerade bei dieser Presse zu Wort kommen, kann nicht alles medial schlecht bestellt sein.
Atamans Text erschien kurz bevor Spiegel Online in die thematische Offensive ging. Zum Jahrestag von #metoo haute das Magazin gefühlt stündlich einen Artikel zum Sexismus heraus. Man kann von der Debatte ja halten was man will, tatsächlich scheint die Bevölkerung bei dieser Kampagne sehr zerrissen zu sein. Ob es jedoch die journalistische Sorgfalt eines Qualitätsmediums unterstreicht, wenn es sich überrepräsentativ einem Nischenthema widmet, muss man sich als Frage durchaus gefallen lassen.
In einem Punkt hat Ataman schon recht: Die deutsche Presselandschaft gleicht nicht der türkischen. Aber deutsche Journalisten schreiben zuweilen an den Sorgen und Interessen der Bevölkerung vorbei — manchmal nur, weil sie in einer Bubble sitzen oder weil ihnen das Fingerspitzengefühl fehlt, manchmal aber auch ganz bewusst und gewollt.
Erdoğan als Vergleich, Steinbach als Beispiel
Ein Türkei-Aufenthalt hat Ferda Ataman bestätigt: All die Kritik an der deutschen Presse ist Quatsch. Denn in der Türkei wird richtig gelogen, jedenfalls werden Informationen vorenthalten. Der türkischen Wirtschaft gehe es nämlich nachweislich schlecht. Aber liest man davon etwas in einer türkischen Tageszeitung? Natürlich nicht, denn 90 Prozent der türkischen Medien sind regierungsnah. Dergleichen wäre in Deutschland nie denkbar, hier könne man alles schreiben, behaupten, journalistisch ausleuchten. Es herrsche kurz gesagt: Meinungsfreiheit.
Was sie aber in Deutschland trotzdem häufig finde, das seien „Unterdrückungs-Halluzinationen“. Ständig lese man dort nämlich, dass man seine Meinung nicht mehr formulieren dürfe, dass zensiert würde. Als Beispiel zieht sie Erika Steinbach heran, die sich in einem Artikel für den rechtspopulistischen „Deutschland-Kurier“ sorgte, weil man in Deutschland gewisse Meinungen nur hinter vorgehaltener Hand sagen dürfe. Ataman hält das für Unsinn, denn „trotzdem bekommen alle die Informationen, die sie wollen, von links außen bis weit rechts.“
Ein alter Bauerntrick geht immer: Der Vergleich mit einem Extrem. Als die neoliberalen Reformer damit loslegten, den Sozialstaat zu schleifen, saßen in den Talkshows Leute aus deren Think-Tanks, die auf die Situation im Ausland deuteten. Armut, so sagten sie, sei bei uns ja gar nicht richtig gegeben, man müsse nur mal gucken, wie man im Sudan oder in Indien lebt. Dagegen seien unsere vermeintlichen Armen ziemlich reich. Ataman verwendet genau diese Methode, sie nutzt einen Präsidialtyrannen und eine abgehalfterte reaktionäre Greisin, um zu skizzieren, dass Pressekritik in Deutschland inhaltslos sei.
Lügenpresse? Lückenpresse!
Ganz spontan muss man ihr darin natürlich recht geben. Wie im Lande Erdoğans läuft es bei uns nicht. Und Erika Steinbach gehört zu dem Teil des pressekritischen Klientels, der stets laut und deutlich sagt, was er denkt — um hernach zu sagen, er dürfe nicht mehr laut und deutlich sagen, was er denkt. Ataman versucht ferner zu belegen, dass diese Kritik einer Satire gleicht, weil im Internet Wahrheitsjünger einen Kampf gegen die angebliche Lügenpresse bestreiten, den sie mit Verschwörungstheorien einleiten. Auch damit liegt sie ja nicht ganz falsch. Das kommt in den Weiten des Internets durchaus vor. Dagegen sieht die offizielle „Lügenpresse“ verdammt ehrlich und authentisch aus.
Aber allein deshalb ist eben noch nicht alles einzigartig gut bestellt in diesem Presseland. Lügenpresse: Das ist ohnehin so ein verdammt abgenutztes, zudem auch falsches Wort.
Die Presse in Deutschland lügt ja nicht. Oder eher sehr selten. Aber sie hat oftmals geringes Interesse an bestimmten Themen, die es verdient hätten, behandelt zu werden.
Oder es kommen und kamen „Experten“ zur Sprache, die eigentlich „Vertreter“ waren. Erinnert sei an Herrn Raffelhüschen, der jahrelang den Zuschauern als vermeintlicher Rentenexperte vorgestellt wurde, der aber im Aufsichtsrat von Versicherungskonzernen saß und schon allein deshalb ein erhöhtes Interesse an der Etablierung der Privatrente haben musste.
Der Journalist Ulrich Teusch hat deshalb das Wort Lügenpresse modifiziert, denn eigentlich sei nicht die Lüge das Problem, sondern die Lücke, die unsere Menschenlandschaft stehenließe bei bestimmten Themen. Lückenpresse sei daher der eigentlich richtige Begriff — also im Sinne von Unterlassungs- oder Unterschlagungsberichterstattung. Die gesamte Ära der Etablierung der Agenda 2010, die Privatisierungsphasen, das Sparprogramm: All das geschah doch nicht in einem Klima journalistischer Offenheit. Nein, hier wurde weggelassen, die Gegenmeinung kleingehalten und als gestrige Sozialromantik pathologisiert.
Jede Presselandschaft ist auf ihre eigene Weise unglücklich
Die Qualitätsmedien, auch und gerade der Spiegel, waren damals im Reformrausch — und kein Präsidialtyrann musste Druck ausüben, damit bestimmte Aspekte nicht beleuchtet wurden. Natürlich konnten diejenigen, die sich meinungstechnisch nicht wahrgenommen fühlten, wie etwa die Demonstranten der Montagsdemos — genau wie heute Frau Steinbach und ihre Geschwister im Geiste — in Kameras sagen, was sie von der Agenda hielten. Soviel zur Meinungsfreiheit. Dass die Demos jedoch in den etablierten Medien runtergemacht wurden, vom späteren Bundespräsidenten Gauck sogar als Ausdruck von Geschichtsvergessenheit deklariert wurden, weil sie sich Montagsdemos nannten, war ja kein Problem unterschlagener Meinungsfreiheit. Sie wurde nur kampagnenmäßig als „falsche Meinung“ deklariert.
Man muss übrigens nicht die politischen Ansichten Erika Steinbachs teilen. Ihre Dramatisierungen zur Meinungsfreiheit sind inhaltlich nicht ganz richtig. Tendenziell trifft sie aber einen wahren Kern: Es ist förderlich, wenn man die „richtige Meinung“ vertritt. Tut man das nicht, wird es unbequem.
Anders als Steinbach sagt, kann man seine Meinung auch dann kundtun, wenn sie nicht ins liberale, gängige Milieu passt. Man muss aber mit den Konsequenzen leben. Und die bestehen nicht immer nur aus Gegenmeinungen, sondern teilweise aus drastischen Methoden. Da bekommt man dann zum Beispiel als Wähler oder Sympathisant der AfD mal flugs die Dauerkarte für die Heimspiele von Werder Bremen entzogen. Einen Widerhall in den Feuilletonseiten fand dies jedoch kaum — entsprach diese Aktion doch dem üblichen liberalen Meinungskorridor.
Oder man bezichtigt jemanden der Kontaktschuld, weil derjenige mit Sahra Wagenknechts Positionen konform geht und Wagenknecht überdies in einem FAZ-Artikel von Alexander Gauland gelobt wurde. Ob das nun wehrhafte Demokratie ist oder nicht vielleicht doch das Gegenteil davon, lassen wir an der Stelle mal bewusst offen.
Leo Tolstoi formulierte einen der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte:
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“.
Das kann man auch auf die Presse anwenden: Die ideale freie Presse sähe überall gleich aus — doch in der Realität sind die meisten Presselandschaften „auf ihre eigene Weise unglücklich“. Dieser Satz von Tolstoi ist Grundlage des sogenannten Anna-Karenina-Prinzips, wonach mehrere Bedingungen einer Sache erfüllt sein müssen, damit diese gelingt. Fehlt aber nur ein einziger Faktor, so führt dies zum Scheitern. Anders gesagt: Presseversagen sieht mannigfaltig aus — es kommt immer darauf an, welche der notwendigen Faktoren zu einer gelungenen journalistischen Arbeit gerade fehlen oder vernachlässigt werden.
In der Türkei herrscht Regierungsnähe und auferlegte Gleichschaltung. In den USA erodiert die Presselandschaft zwischen Verblödung und aggressiven Alternativmedien. Italien guckt fast nur Berlusconi-Produkte. Aber wir hier, wir haben unsere eigenen Medienprobleme. Bei uns ist es ein Sonnenscheinliberalismus, der die angebotsökonomische Deutungshoheit niemals hinterfragt und so tut, als seien wir quasi am Ende der Geschichte angekommen.
Das macht unseren Medienbetrieb für viele zu einem „Lügenapparat“. Dazu kommen dann noch selbstgefällige Analysen und erbauungsjournalistische Selbstbeweihräucherung, wie Ataman sie abgeliefert hat. Sie stehen symbolisch für eine Erkenntnis: Der deutsche Journalismus macht es der Kanzlerin nach: Er macht trotz Kritik — einfach weiter so.
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