Schaut man sich die Situation der Menschheit hat, so kann sie einem oftmals ausweglos erscheinen. Zerstörerische Systeme plündern den Planeten aus und lassen nichts als Wüste und Abfall zurück. Mächtige Akteure entfesseln Kriege, die das Potenzial haben, die ganze Welt in den Abgrund zu reißen. Jeder Versuch einer Änderung wird vom bestehenden System absorbiert, sodass alles bleibt, wie es ist. Die Menschen werden in die Passivität des Konsums gedrängt, der ihren Geist betäubt und sie von den Geschehnissen hinter den Kulissen ablenkt. Kreativität, eine wichtige Triebkraft für Veränderungen, sprechen die meisten Menschen nur anerkannten und erfolgreichen Künstlern zu. Doch das, so schreibt es der bekannte US-amerikanische Musikproduzent Rick Rubin in seinem Buch „kreativ. Die Kunst zu sein“, entspricht nicht der Wirklichkeit.
Jeder Mensch hat kreatives Potenzial, und tatsächlich sind viele bereits auf die ein oder andere Weise kreativ tätig. Immer dort, wo ein Mensch etwas, das zuvor nicht gewesen ist, auf die materielle Ebene zieht, ist er kreativ tätig. Das kann ein Vortrag sein, ein Möbelstück, eine Maschine oder eben ein Kunstwerk. Der Mensch ist ein schöpferisches Wesen, und als solches ist Kreativität sein Lebenselixier. Dabei, so Rubin, komme diese Kreativität nicht aus dem Menschen selbst, sondern liege außerhalb von ihm, in einem Feld – oder im Universum. Der Mensch sei beständig mit diesem Äußeren verbunden und habe daher die Fähigkeit, Kreativität aufzunehmen und zu verwirklichen.
Dabei hätten unterschiedliche Menschen jedoch unterschiedlichen Zugang zu diesem Äußeren, dem Feld oder Universum. Manche seien es gewohnt, mit ihm in Kontakt zu stehen. Anderen werde dies im Laufe ihres Lebens abgewöhnt, sodass es ihnen schwerfällt, die subtilen Hinweise zu erkennen. Kinder hingegen, die noch wenige Filter in ihrer Wahrnehmung eingebaut haben, seien viel empfänglicher für die Wunder dieses Äußeren. Sie könnten noch ganz unbefangen über die Welt staunen und entdecken immer wieder neue Aspekte. Künstler hätten sich diese Eigenschaft bewahrt.
Das Universum, die Welt, das Feld, wie auch immer man es nennen will, gebe einem ständig Hinweise und Inspirationen. Es sei nur nicht jedem zu jeder Zeit möglich, sie zu erkennen.
Doch mit ein bisschen Übung und Aufmerksamkeit werde es möglich, sich für sie zu öffnen und die wiederkehrenden Muster zu erkennen und aufzunehmen. Ebenso hilfreich wie die Beschäftigung mit dem Außen, der Natur in ihrer unendlichen Vielfalt, oder den Kunstwerken anderer Künstler, ist es aber auch, nach innen zu schauen. Dort ist eine Welt zu finden, die ebenso vielfältig ist wie die Außenwelt. Hier taucht auch die Inspiration auf und manifestiert sich durch den menschlichen Geist über das menschliche Handeln schließlich in der physischen Form.
Dabei liegt die eigentliche Kunst nicht im Werk, das am Ende entsteht, sondern in der Fähigkeit, sich auf die große Quelle einzulassen, aus der sich alle Kunst speist. Dies ist das Gewahrsein, welches das Ziel jeder künstlerischen Praxis ist. Dieses Gewahrsein kann durch beständige Übung verbessert werden, etwa durch regelmäßige Rituale oder Meditation. Dabei ist das Ziel, einen neuen Geisteszustand herbeizuführen, die psychische Muskulatur zu trainieren, um auf diese Weise empfänglich für die Quelle zu werden.
In der Kunst gibt es für jede Gattung Regeln, die sich im Laufe der Zeit etabliert haben. So gibt es bestimmte Muster, nach denen Filme erzählt werden oder der Maler seine Farbe auf die Leinwand zu pinseln pflegt. Doch das Innovative und damit das Künstlerische ist, Regeln zu brechen und mit neuem, frischem Geist etwas vollkommen Neues zu schaffen.
Konventionen können sehr hinderlich sein bei dem Versuch, innovative Kunst, etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen. Das Problem ist, dass man diese Konventionen oft nicht erkennt. Daher ist gerade die Einstellung eines Anfängers hilfreich, der noch keinerlei Erfahrung mit der Kunstform hat. Denn der Anfänger hat noch keine Konventionen angenommen und verinnerlicht.
Auch das Experimentieren ist ein wichtiger Schlüssel. Das Werk von allen Seiten zu betrachten, immer wieder zu hinterfragen, ob nicht auch das Gegenteil wahr sein könnte, gibt der Kunst Antrieb und führt sie zu wahrer Größe. Dabei ist es jedoch wichtig, das richtige Maß an Selbstkritik zu üben. Nicht die eigenen Fähigkeiten, das eigene Künstlersein infrage zu stellen, sondern das Werk in den Mittelpunkt der Kritik zu rücken und zu untersuchen, ob es bereits die beste Version seiner selbst ist, bringt den Künstler voran.
Kunst ist ohne Geduld undenkbar. Auf dem Weg, das große Werk zu schaffen, gibt es keine Abkürzung. Man kann hier nichts erzwingen, mit Gewalt in die Existenz rufen. Auch die weit verbreitete Einstellung, das Leben nur an eine Aneinanderreihung von To-dos zu betrachten, ist hinderlich, da Kunst und Kreativität davon leben, ganz den Moment wahrzunehmen, in ihm aufzugehen und mit ihm zu arbeiten. Wer diesen Moment nicht erlebt, der kann ihn nicht in Kunst umsetzen.
Wer kreativ tätig ist, der wird zudem nie den Moment erreichen, in dem er vollkommen zufrieden mit seinem Werk ist. Immer gibt es etwas zu verbessern, etwas auszusetzen. Das ist aber auch vollkommen in Ordnung. Es gibt kein perfektes Werk. Jeder Versuch ist immer nur das im Augenblick Bestmögliche und ein Objekt des Lernens für den Künstler, das ihm hilft, sein nächstes Werk besser zu gestalten. Auf diese Weise ist die Kunst eine beständige Weiterentwicklung der Ausdruckskraft des Einzelnen, ähnlich wie eine Meditation der Weiterentwicklung der geistigen Kräfte und der Aufnahmekraft des Geistes dient. Bei der Kunst geht es auch nicht darum, ein perfektes Werk zu erschaffen.
Kunst ist vielmehr wie ein Tagebucheintrag: nur ein Ausschnitt aus dem Wesen des Künstlers. Deswegen ergibt es auch keinen Sinn, Kunst als einen Wettbewerb zu sehen oder aus einem Konkurrenzgedanken heraus künstlerisch zu arbeiten.
Konkurrenz, meint Rubin, sei bei der Kunst überhaupt nicht möglich, da sie stets nur einen Spiegel des Künstlers selbst darstelle.
Anders ist es, wenn der Künstler sich von großen Werken anderer inspirieren lässt und sie als Ansporn nimmt, seine eigene Kunst in neue Höhen zu treiben. So können Künstler sich wechselseitig inspirieren und sich zu Höhenflügen antreiben. Rick Rubin nimmt hier als Beispiel das Beatles-Album „Rubber Soul“, das wiederum die Beach Boys zu ihrem Album „Pet Sounds“ inspirierte, dessen Lied „God Only Knows“ John Lennon als das beste Lied bezeichnete, das je geschrieben wurde – und die Beatles zum legendären Album „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ inspirierte. So haben diese großen Künstler sich gegenseitig zu großartigen Werken angespornt, jedoch ohne das zu planen.
Bei der Kunst geht es auch nicht darum, etwas für das Publikum zu schaffen. Das Publikum steht an letzter Stelle. Im Vordergrund stehen das Werk und der Künstler selbst. Die Kunst ist ein Weg des Künstlers, sich selbst näherzukommen. Jedes Werk ist in dieser Hinsicht lediglich ein Schritt auf einem Weg, der niemals ein Ende erreicht. So kann der Künstler mit der Zeit über seine eigenen Werke hinauswachsen. Jedes Werk ist damit immer nur die bestmögliche Annäherung des Künstlers an sich selbst, der momentan bestmögliche Versuch.
Ein Künstler darf nicht festhalten an seinem Werk. Er muss es schaffen und dann loslassen. Was mit ihm geschieht, ob es erfolgreich ist oder nicht, darauf hat er keinen Einfluss.
Kunst ist ein ständiger Prozess des Aufnehmens und Loslassens. Inspiration kommt vom lateinischen Wort „inspirare“, einatmen, und wie der Atem ist auch die Kunst ein beständiger Wechsel des Einströmens der Inspiration und des Ausströmens. Wer einatmet, aber nicht ausatmet, der schafft keinen Raum für neue Kreativität. Diese umgibt uns ständig, und so kann uns die Kreativität niemals ausgehen. Wir müssen nur offen für sie sein, und das bedeutet auch, ein Werk ab einem bestimmten Punkt der Vollendung gehen zu lassen. Ab dann ist auch der Künstler nur noch ein Betrachter seines Werks, der, ebenso wie als Schöpfer, immer neue Bedeutungen hineinlegen kann.
Rick Rubin hat in seinem Buch zwar viele Vorschläge und Inspirationen an Künstler gesammelt, dabei aber keinen künstlerischen Ratgeber geschrieben. Es handelt sich vielmehr um das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Erfahrungen aus der Arbeit mit Künstlern. Diese Erfahrungen gibt er nun weiter, nicht um anderen die Welt zu erklären, sie anzuleiten oder es besser zu wissen; es gibt, das schreibt er auch immer wieder, überhaupt keinen richtigen Weg, kreativ tätig zu sein und Kunst zu machen. Vielmehr handelt es sich bei den 78 kurzen Kapiteln um Denkanstöße, um Inspiration und eine gedankliche Auseinandersetzung des Produzenten mit seiner Erfahrung in der kreativen Arbeit.
Kreativität ist in einem Zeitalter der Zerstörung eine dringend benötigte Komponente. Während um uns herum alles zerstört wird – die Infrastruktur, die Gesellschaft, der Zusammenhalt, die sozialen Errungenschaften –, ist es die Kraft der Kreativität, die sich diesem Kurs entgegenstellen kann. Daher ist das Buch von Rick Rubin eine gute Inspiration nicht nur für den einsam werkenden Künstler, sondern auch für einen kreativen Ansatz für Problemlösung auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene, eine Fähigkeit, die wir in diesen Zeiten gut gebrauchen können.
Denn letztlich ist es die Kreativität, welche alle menschlichen Errungenschaften, ganze Staaten und ihre Bauwerke hervorgebracht hat, und sie ist auch die Triebkraft, die eine andere Art zu leben hervorbringen kann. Und nichts ist heute nötiger, als eine solche zu finden.
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