Neoliberale Kräfte versuchen aus allem, so auch aus der gegenwärtigen Lage, Profit zu schlagen. Das erfolgt zum einen ökonomisch, und daran zeigt sich die Lebensfeindlichkeit des Kapitalismus: Preise für medizinische Produkte und Leistungen schnellen in die Höhe, die Anbieter streichen Zusatzgewinne auf Kosten Kranker ein. Zum anderen missbrauchen Kräfte an der Macht die Lage, um ihre Position weiter auszubauen und abzusichern, indem sie momentan sinnvoll erscheinende Restriktionen der Bewegungsfreiheit testen, Techniken der Überwachung perfektionieren und die Bevölkerung mit manipulativer Auswahl der Berichterstattung dazu bringen, Restriktionen über das nötige Maß hinaus schweigend hinzunehmen. Die mit Corona zusammenhängenden Probleme übersteigen in ihrer epochalen Wirkung die auf unsere Zeit bezogenen Horizonte.
Das 21. Jahrhundert ist keine Epoche, die einfach fortführen kann, was sich bisher entwickelt hat. Dennis Carroll, Virologe und ehemaliger leitender Mitarbeiter der United States Agency for International Development (USAID) stellte am 1. April 2020 in einem Interview im Deutschlandfunk grundlegende Zusammenhänge und Herausforderungen aufgrund der weltweiten Verbreitung der Corona-Infektionen dar, samt ihrer historischen Bezüge. Dieses Interview ist Anregung und wesentliche Informationsquelle, um die Reaktionen der Zivilisation auf die globalen Gefahren, die von Seuchen und Pandemien ausgehen können, zu reflektieren. Im Interview erläutert der Virologe:
„Viren greifen in der jetzigen Zeit immer häufiger über. Das liegt vor allem am Bevölkerungswachstum. (…) Unsere Ökosysteme können ein solches Bevölkerungswachstum nur unmöglich vertragen, ohne Schäden davonzutragen.“
Die Erdgeschichte brauchte 300.000 Jahre, bis die Anzahl der Menschen die erste Milliarde erreichte. Als die sogenannte Spanische Grippe 1918 ausbrach, lebten 1,8 Milliarden Menschen auf der Erde. Im dann folgenden Jahrhundert kamen sechs Milliarden Menschen hinzu. Die Menschheit dehnte sich derartig aus, dass sie Natur- und Lebensräume anderer Spezies weitgehend änderte, schädigte oder vernichtete. Die Zersiedelung, die Landwirtschaft und die Entnahme natürlicher Ressourcen der Erde für ökonomische Interessen, das Wechselspiel der Menschen mit der sie umgebenden Natur — mit dem Tierreich, vor allem mit Wildtieren, dem Klima und dem zu Verfügung stehenden Land — strapaziert das Ökosystem der Erde.
Die Spanische Grippe grassierte mit circa 50 Millionen Toten, spätere Epidemien forderten deutlich weniger Opfer. 2002 kam es zur SARS-Pandemie, 2005 folgte die Vogelgrippe, 2009 war es die Schweinegrippe und 2014 hielt Ebola die Welt in Atem.
Als SARS 2003 abebbte, wurden die Impfstoff-Forschungen fahrlässigerweise eingestellt. Aufgrund der Kurzsichtigkeit der auf neoliberale Verschlankung ausgerichteten Entscheidungsprozesse vor allem in den kapitalistischen Gesellschaften blieb eine langfristige und umsichtig-vorsorgende Politik bisher aus.
Entsprechend scheint es so, dass nicht die Gefährlichkeit von Viren, sondern die Reaktion der Menschen im Umgang mit dieser Gefahr das derzeit zentrale Problem markiert.
Menschengemachte Probleme können über Leben und Tod entscheiden — auch in der Coronapandemie: fehlende Differenzierungen, fehlende Entschiedenheit, fehlende Verantwortung, ein fehlendes, von Weitsicht getragenes Gefahrenbewusstsein, die vor allem auf jeweils aktuelle Herausforderungen reagierende Impuls-Reaktions-Politik, mangelnde Konsequenz in der Prioritätensetzung des Gesundheitsschutzes, Verschleuderung von Mitteln für den Militärsektor auf Kosten der Daseinsvorsorge, Orientierung der Ökonomie auf kurz- oder mittelfristige Rendite-Erwartungen ebenso wie politische Entscheidungszeiträume im Horizont nur einer oder einiger weniger Legislaturperioden.
Die Prioritäten und die Logik der auf Wachstum und Konkurrenz aufgebauten kapitalistischen Ökonomie vertragen sich nicht mit langfristiger Prävention von Krisen, selbst dann nicht, wenn sie das Potenzial in sich tragen, zu einer Zukunftsgefährdung für die Zivilisation zu werden. Hinzu kommt, dass der Kapitalismus betriebswirtschaftlich rechnet, aber volks- und globalwirtschaftlich wirkt — die eigentliche Krankheit des Systems. Die dem Kapitalismus innewohnende Konkurrenz begünstigt zudem Nationalegoismus, was die erforderliche weltweite Kooperation schwächt oder gar im Keim erstickt. Viren halten sich nicht an Landesgrenzen.
Die Geringschätzung der Demokratie, wie sie von rechter Seite verbreitet wird, schürt wiederum Sündenbocktheorien, etwa dass Teile der Eliten das Desaster herbeigeführt hätten. Donald Trump sprach anfangs von einem „Chinese“ oder auch „Foreign virus“ und erklärte zwischenzeitlich Europa verantwortlich für die Ausweitung der Infektion bis in die USA.
Eine in jedem Staat und damit global wichtige Bereitschaft zur Vorsorge wurde jedoch gerade lange Zeit von rechten Führungskräften wie Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro durch ihre fahrlässige Missachtung wissenschaftlicher Resultate untergraben. Mittel- und langfristig müsste weit mehr passieren als Hygienevorschriften einzuhalten oder die vorübergehende körperliche Distanz zu Mitmenschen zu wahren.
Der anfänglichen selbstüberschätzenden Bedenkenlosigkeit von PolitikerInnen kommt die Haltung vieler MitbürgerInnen entgegen, Risiken zu unterschätzen, bis sie so deutlich sind, dass sie — wenn überhaupt — nur noch schwer zu bewältigen sind. Dem gegenüber ist die Haltung überlebensnotwendig, dass die Menschheit die auch in Viren steckende Gefahr kennenlernt, ehe diese uns kennenlernen.
Allein die Diskussion, wie die Gesellschaften jeweils auf eine Pandemie reagieren sollten, wird nicht genügen, auch nicht die Wachsamkeit der DemokratInnen gegen den Ausbau des Notstandsstaates mit dem Einsatz der Armee nach innen.
Es ist ein Hohn, wenn sich die Bundeswehr als Helfer in der Not aufspielen kann, da sie 2020 mit über 45 Milliarden Euro dreimal mehr Haushaltsmittel erhält als der Gesundheitsbereich.
Der Einsatz des Militärs wird der Bevölkerung als Sicherheitspolitik verkauft, es stellt aber immer deutlicher das Gegenteil dar. Führungskräfte in der NATO und in Deutschland wollen die Ausgaben für den Militärsektor weiter massiv steigern. Doch es wird keine Sicherheit für die Gesundheit geben, solange dieses Missverhältnis, diese falsche Priorität, nicht gekippt wird.
Der Kapitalismus erweist sich in der Coronakrise als die überlegene Form menschlichen Zusammensterbens. Daran sind wir nicht interessiert. Eine solide Gesundheitspolitik und eine den Anforderungen des 21. Jahrhunderts entsprechende Bildungs-, Sozial- und Ökologiepolitik wird es nur geben, wenn die alternativen Kräfte vereint eine Politik der Abrüstung erzwingen und darauf aufbauend weitere notwendige Schritte durchsetzen, die die Daseinsvorsorge priorisieren. Das wird ohne das Ziel einer nachkapitalistischen Gesellschaft nicht nachhaltig möglich sein. Es kommt darauf an, dass die alternativen Kräfte sich auf ihre Gemeinsamkeit besinnen. Im Sinne der Gesundheit aller.
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