Den Begriff „Freilerner“ kannte ich noch gar nicht so lange, genauer gesagt erst 16 Monate, als ich mich entschloss, im Dezember 2016 Mutter eines freilernenden Sohnes im Alter von 13 Jahren zu werden. Im August 2015 hatte ich ein spirituelles Seminar in der Nähe von Berlin besucht, deren Leiterin, selbst Mutter von 4 Kindern, damals im Alter zwischen 13 und 5 Jahren, die allesamt nicht in die Schule gingen, mich in Berührung mit diesem Thema brachte.
Ich kann mich daran erinnern, dass mich die Vorstellung, sein Kind nicht in die Schule zu schicken, damals doch sehr befremdete. Ich hatte gelernt und war darauf trainiert und konditioniert worden, Schule mit Bildung gleichzusetzen und die Notwendigkeit der Existenz unseres Schulsystems nicht in Frage zu stellen. Von „Home schooling“ hatte ich wohl schon gehört und wusste, dass es Eltern gab, die ihre Kinder zu Hause unterrichten und dass es auf der ganzen Welt Länder gibt, die dieses Konzept unterstützen – Deutschland zählt bedauerlicherweise nicht zu diesen Ländern.
Wir leben in einem Land, dass Schulbildung als ein hohes Gut darstellt – den hohen Stellenwert der Schulbildung kann man regelmäßig bei der Wahlkampfwerbung anlässlich der Landtags- und Bundestagswahlen beobachten, bei der keine Partei von Bedeutung es sich leisten kann, dieses Thema auszusparen. Die Parteien ergehen sich dann in Diskussionen über kostenfreie Bildung, über schnellere Bildung – zum Beispiel G8 versus G9, den 8-jährigen oder doch wieder den 9-jährigen Gymnasialbesuch –, über Bildung für alle, und, und,und.
Das Thema „alternative Bildungskonzepte“ oder „Freude an der Bildung“ wird jedoch nicht thematisiert. Was ich besonders schade finde, aber von Regierungsseite wird die gängige Schulpolitik ganz offensichtlich als „alternativlos“ – berühmtes Unwort! – eingestuft.
In Deutschland herrscht Schulpflicht, was jedes Kind/jeden Jugendlichen dazu verpflichtet, mindestens 9 Jahre lang eine Schule seiner Wahl – im Regelfall ist das eher die Wahl der Eltern, als die ihrer Sprössling – zu besuchen und sich den Lehrplänen, die in den jeweiligen Ministerien der Bundesländer ausgearbeitet und als bindend festgelegt werden, zu beugen. Die Lehrpläne diktieren den Kindern und Heranwachsenden, was sie zu wissen haben, um von einer Klasse in die nächst höhere zu wechseln und als gebildet gelten zu dürfen. Sie bestimmen auch, was ein Kind in welcher Klasse an welcher Schule zu lernen hat beziehungsweise wissen muss.
Lehrpläne nehmen gar keine und Schulen so gut wie keine Rücksicht – Ausnahmen gibt es wohl immer – auf Vorlieben, Fähigkeiten, Besonderheiten, Gaben und am allerwenigsten auf das kreative Potential der Kinder und Jugendlichen. Mir scheint, Kreativität ist das allerletzte, was von einem Schulkind verlangt beziehungsweise gewünscht wird. Das schulische Wissen muss lehrplangetreu wiedergegeben werden, eine eigene Meinung des Schülers dazu ist nicht erwünscht.
Der berühmt-berüchtigte Ausdruck des „Bulimie-Lernens“ prägt die Wissensvermittlung an den weiterführenden Schulen, allen voran den Gymnasien: frei übersetzt bedeutet es „Lernstoff reinziehen, rauskotzen und wieder vergessen“. Und diesem System huldigen wir? Diesem System vertrauen wir unsere Kinder von klein auf an?
In dieses System pressen wir unsere Kinder aus lauter Angst, dass aus ihnen nichts werden könnte, wenn sie denn über keine „angemessene“ – Hier zählt das Ermessen der Eltern! – Schulbildung verfügen.
Meine beiden Söhne sind in Bayern in die Grundschule gegangen, dem Bundesland, das deutschlandweit bekannt und gefürchtet ist für seine hohen schulischen Leistungsstandards und sein gnadenloses Auswahlverfahren am Ende der Grundschulzeit. Ein Bundesland, das Kinder im Alter von 9 oder 10 Jahren – je nachdem in welchem Alter sie eingeschult wurden – in zukünftige akademische Leistungsträger und in weniger Leistungsfähige klassifiziert. Das klingt nicht nur brutal, das ist brutal und es hat fatale Konsequenzen für das Selbstwertgefühl und das Selbstbild dieser Kinder.
In so jungen Jahren in einem sogenannten Übergangszeugnis im zweiten Halbjahr der vierten Klasse attestiert zu bekommen, dass es für die höhere Schulbildung ungeeignet ist, macht etwas mit einem Kind. Ihm wird ein Stempel auf die Stirn gepresst, der es unter Umständen ein Leben lang prägt. Ich weiß, wovon ich spreche, denn meinem ältesten Sohn David, einem sehr aufgeweckten, intelligenten Jungen, der sich einfach nicht in dieses System einfügen wollte, wurde genau dieses im Alter von 10 Jahren attestiert.
In der dritten Klasse hatte David eine Lehrerin, die es als didaktisch wertvoll erachtete, der versammelten Klasse Aufsätze von Mitschülern laut vorzulesen, die ihrer Meinung nach nicht gelungen waren, um den Kindern dadurch zu vermitteln, wie man es denn nicht tun sollte – David war eines dieser Kinder, dessen Hausaufgaben vorgelesen wurden. Seine Scham und das Gefühl, versagt zu haben, waren unvorstellbar. Als die Situation mit seiner Lehrerin sich immer mehr zuspitzte und trotz vieler Gespräche und der Unterstützung der Konrektorin nicht aufgelöst werden konnte, ließen wir ihn in der Mitte des dritten Schuljahres die Klasse wechseln – und bereiteten ihm damit weiteres Leid durch das Herausreißen aus seinem Klassenverband.
Zu Beginn der vierten Klasse war das Schreiben von Märchenaufsätzen Teil des Lehrplans. Es wurde in der Schule und zu Hause intensiv geübt, bis der große Tag kam, an dem ein Märchen als Klassenarbeit, heutzutage Probe genannt, geschrieben werden musste. In dieser Probe ging es um einen alten König, der im Sterben lag und der nur gerettet werden konnte durch ein wundersames, seltenes Kraut, das in einem fernen Wald wuchs. Diese Einleitung wurde den Kindern vorgegeben, den Rest sollten sie selbst verfassen.
David verlor sich in einer sehr phantasievollen Geschichte von einem jungen Ritter, der sich auf den Weg machte, in einem Gasthaus die halbe Nacht lang mit wilden Gesellen zechte und Karten spielte und am nächsten Morgen vollkommen verkatert im Wald einem dreiköpfigen Drachen begegnete, den er auf sehr originelle Art und Weise aus dem Weg schaffte, um wenig später einer Handvoll Zwergen zu begegnen, die ihm den Weg versperrten. Kurzerhand ließ David seinen Ritter die Zwerge kopfüber in eine Klosettschüssel, die praktischerweise im Wald stand, stopfen und hinunterspülen, bevor er endlich weiterreiten konnte, um das Heilkraut zu finden und es zu pflücken.
Die Fassungslosigkeit seiner Lehrerin war in der schriftlichen Bewertung und in der Benotung, Note 4, deutlich zu lesen und zu spüren – keine Zeile des Lobes über die Abenteuer, die der junge Ritter bereits bestanden hatte, als er auf die Zwerge traf,oder über die überraschende – zugegebenermaßen aber etwas unpassende – Idee, sie in einer Kloschüssel zu versenken. Kein Wort des Lobes über Spannungsbogen und Kreativität. David hatte mit seinem Märchen schlichtweg den geforderten Rahmen gesprengt – und das konnte per se keine gute Leistung sein.
Ich behaupte an dieser Stelle nicht, dass eine Klosettschüssel im Wald ein schönes Märchen ausmacht. Aber Kreativität und Erfindungsreichtum machen eine Geschichte erst zu einem Märchen – es gibt im Wald schließlich auch keine Häuser aus Pfefferkuchen – und das sollte es ja sein. Genau das ist allerdings die Crux unseres Schulsystems: dass Kreativität nicht gefragt ist. Die Schüler sollen einfach nur das tun, was man ihnen sagt und bei der Umsetzung eins zu eins jedwede Vorgabeerfüllen, ohne sie zu hinterfragen– in diesem Geist werden unsere Kinder in der Schule groß.
Schule reißt die Kinder aus ihrem Emotionalkörper heraus, dem feinstofflichen Körper in der menschlichen Aura, mit dem wir fühlen, und presst sie in den Mentalkörper hinein – dem feinstofflichen Körper, in dem sich alles um Gedanken und Intellekt dreht. Und so schleusen wir unsere Kinder durch ihren oft so leidvollen Schulweg und nehmen dabei in Kauf, dass sie am Ende dieses Weges leer, ausgebrannt und desillusioniert sind. Und wenn wir ganz naiv sind oder extrem gut im Wegschauen und Verdrängen, wundern wir uns, warum das so ist...
Aber eines sind die Kinder am Ende ihrer schulischen Karriere im Regelfall immer: systemkonform, denn bei den allermeisten Kindern funktioniert die „Gehirnwaschanlage Schule“.
Die Gymnasiasten beginnen im Regelfall ein Studium, in dessen Verlauf sie abermals bulimieartig lernen und spätestens nach Abschluss ihres Studiums integrieren sie sich freiwillig in eine Arbeitswelt, die der Kreativität ebensowenig huldigt, sondern wo es wiederum darum geht, Vorgaben erwartungsgetreu zu erfüllen.
Als Mutter zweier Söhne, eines 22-jährigen und des besagten, zwischenzeitlich 14-jährigen, der mittlerweile Freilerner ist, bin ich jahrelang diesen Weg mitgegangen. Ich habe die Hefte meiner beiden Söhne seit der erste Klasse in der Grundschule bunt ausgemalt und verziert, wenn das Ausmalen Hausaufgabe war beziehungsweise schöne Heftführung benotet wurde, und sie mit hängender Zunge und völlig apathisch über ihren Hausaufgaben „hingen“ – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe sie motiviert, begleitet, ermahnt, geschimpft, mit ihnen gelernt und geübt – die ganze Palette rauf und runter.
Diesen ganzen Mist habe ich mitgemacht. Spätestens ab der dritten Klasse war ich bei beiden Jungs oft verzweifelt aufgrund des Pensums, das sie absolvieren mussten: Hausaufgaben bis spät in den Nachmittag hinein, Aufsätze schreiben bis in die Abendstunden, an den Wochenenden lernen für die „Proben“. Das war damals schon Wahnsinn für mich, gleichwohl wäre es mir nie in den Sinn gekommen, einen von Beiden von der Schule zu nehmen – so weit war ich damals noch nicht.
Kurz bevor mein Jüngster in die Grundschule kam, hatte ich begonnen, kostenfreie Vorträge in Kindergärten, Schulen und Horten zu halten: „Über den heilsamen Umgang mit Kinder- und Jugendlichenseelen“. Mit diesen Vorträgen, die ich fast 2 Jahre lang in über 50 „Einrichtungen“ – man beachte das Wort – gehalten habe vor Tausenden von Eltern, vielen Lehrern und Schulleitern, wollte ich Eltern eine Hilfestellung geben im Umgang mit dem täglichen Schulwahnsinn, ihnen vermitteln, dass es meiner Erfahrung nach die Angst der Eltern ist, dass aus ihren Kindern nichts werden könne, wenn sie denn kein Abitur haben, die wie bleierner Druck auf den Schultern der Kindern lastet.
Ich hatte damals auch relativ frisch als Heilpraktikerin für Psychotherapie meine eigene Praxis als Gesprächs- und systemische Therapeutin eröffnet und hatte begonnen, Elterncoachings anzubieten.
Im Lauf der Jahre ist mir während dieser Arbeit aufgefallen, dass die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder, über welche die Eltern in den Coachings mit mir sprachen, immer mit den Eltern zu tun hatten und so gut wie nie mit den Kindern. Ich begann mich schon damals zu fragen, warum so viele Kinder therapiert werden und nicht deren Eltern. Warum so viele Kinder bei Kinder- und Jugendpsychiatern gemäß der „International Classification of Diseases (ICD10) als psychisch krank klassifiziert wurden und werden, nicht aber deren Eltern.
In meine Praxis kamen Eltern, deren Kinder – auch im fortgeschrittenen Alter – einnässten oder einkoteten, deren Töchter magersüchtig oder bulimisch waren oder die an einer Zwangserkrankung litten, deren Söhne computersüchtig oder Schulverweigerer waren. Kinder, die an Ängsten litten, die deswegen nicht einschlafen konnten und am nächsten Morgen vor Angst nicht in die Schule gehen wollten, die jeden Morgen Bauchweh hatten oder einfach nur weinten. Es kamen sogar Eltern zu mir in die Praxis, deren Kinder bei einem Kinder- und Jugendpsychiater als depressiv diagnostiziert worden waren. Acht-, zehn- und zwölfjährige Mädchen und Jungs mit Depressionen – das ist so haarsträubend, dass es mich auch heute immer noch fassungslos macht.
Häufiger kam es vor, dass Eltern sich an mich wandten, deren 14-bis 18-jährige Töchter, die das Gymnasium besuchten, an Depressionen litten und medikamentös behandelt wurden. Frappierend war für mich immer wieder zu erleben, dass es für die meisten der Eltern gar nicht in Frage kam, ihre Mädels von der Schule zu nehmen und sie in eine psychotherapeutische Klinik zu überweisen, denn die Medikamente taten ja „ihren Dienst“ und erlaubten es ihnen, „auf Zeit zu spielen“. Und zwar mit der seelischen Gesundheit ihrer Schutzbefohlenen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, während meiner Zeit als Kind und Heranwachsende auch nur ein einziges depressives Kind gekannt zu haben, und ich frage mich heute noch, wie so etwas überhaupt möglich ist. Und was mich am fassungslosesten macht, ist, dass wir als Gesellschaft so etwas einfach hinnehmen: dass wir hinnehmen, dass unseren Kindern so etwas widerfährt.
Die Pharmaindustrie hat die Kinder und Jugendlichen schon lange „auf dem Schirm“, denn sie hat erkannt, dass man mit dieser Zielgruppe richtig gut Geld verdienen kann. „Ritalin“, das meistverkaufte Medikament zur Behandlung sogenannter Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen hat sich als echter Verkaufsschlager erwiesen – die Absatzzahlen steigen Jahr für Jahr nach wie vor und vollkommen ungebremst seit mehr als 20 Jahren in die Höhe. Auch mit Medikamenten für Depressionen bei Kindern und Jugendlichen lässt sich gutes Geld verdienen. Aber wo bleibt da die Moral?
Und wie kann es sein, dass Eltern von Kindergartenkindern sich heutzutage schon Psychopharmaka für ihre Kinder verschreiben lassen? Und weiter: wo führt uns dieser Trend als Gesellschaft hin? Und vor allem: was macht es mittel- und langfristig mit unseren Kindern?
Mir scheint, als stünden diese Fragen gar nicht zur Diskussion.
Ich habe in den vergangenen 15 Jahren, in denen ich mich intensiv mit dem Thema Kinder, Schule, kindliche Verhaltensauffälligkeiten und deren Therapie beschäftige, lediglich von Gerald Hüther, dem renommierten Professor für Neurobiologie, im Jahr 2011 ein Interview mit dem „Spiegel“ gelesen, in dem er vor dem Einsatz von Ritalin bei Kindern gewarnt hat. Er hat damals schon darauf hingewiesen, dass Versuche an Ratten gezeigt hätten, dass Methylphenidat, der Hauptwirkstoff von Ritalin, in jungen Gehirnen anders wirke als in alten, dass ihr Gehirn sich nicht optimal entwickle, wenn ihnen denn vor der Geschlechtsreife Ritalin verabreicht worden war. Er stellte damals schon den Zusammenhang zwischen Ritalin und Parkinson-Erkrankung dar.
Auch prangerte er in diesem Interview die verheerende Verschreibungspraxis von Ritalin in Deutschland an, denn gleichwohl dieses Medikament zu den Betäubungsmitteln zählt und nur von qualifizierten Kinder- und Jugendpsychiatrien verordnet werden sollte, kann fast jeder Kinder- oder Hausarzt ein Ritalin-Rezept ausstellen (1).
Gerald Hüther hält seit einigen Jahren auch Vorträge über das aus der Sicht eines Hirnforschers vollkommen verkehrte Schulsystem und beleuchtet die Konsequenzen für die Kinder aus der Sicht des kindlichenmenschlichen Gehirns. Einige dieser Vorträge sind auf YouTube zu sehen und ich kann ihnen nur empfehlen, sie sich einmal anzusehen. Hüther plädiert darin für ein völlig anderes, neues Schulsystem und erklärt sehr genau das Warum seines Plädoyers.
Auch sehr berührend sind die Vorträge von André Stern, ebenso zu sehen auf YouTube, einem zutiefst liebevollen Mann Anfang vierzig, Sohn des bekannten Malers Arno Stern, aufgewachsen in Frankreich, der nie eine Schule besucht hat. So lautet auch der Titel seines ersten Buches: „Und ich war nie in der Schule“.
Aus meiner Sicht erlauben wir und sehen dabei zu, wie unseren Kindern in der Schule die Kreativität und die Freude am Lernen, die Freude an Bildung geraubt wird – und schweigen dazu. Wir akzeptieren das als Kollateralschaden. Ich nehme mich an dieser Stelle nicht aus, denn bei meinem heute erwachsenen Sohn habe ich genau das getan: Ich habe gesehen, was mit ihm in der Schule passiert, ich habe zugeschaut und habe doch nicht mit letzter Konsequenz eingegriffen, denn ich war in meinem Denkennoch gar nicht so weit, um Freilernen als Alternative zu erkennen.
Bei meinem heute 14-Jährigen, Niklas, war das dann anders, weil ich da schon an einer anderen Stelle stand.
Aufgefallen war mir bei ihm, dass ich im Prinzip zwei Jungs hatte: einen Niklas während der Schulzeit und einen anderen Niklas an den lernfreien Wochenenden – sofern es die überhaupt noch gab – und in den Schulferien. Unter der Woche war er oft angespannt, müde, maulig, pubertär und freudlos, saß zuweilen bis in die Abendstunden hinein an seinen Hausaufgaben, hatte wenig Zeit für seine Hobbys, wenig freie Zeit für sich und wollte in dieser wenigen freien Zeit am liebsten Playstation spielen, was bei uns immer zeitlich limitiert war.
An den Wochenenden hingegen, an denen es nicht zu lernen galt – was leider selten vorkam –, wo keine Schulaufgabe, kein Referat oder sonst etwas anstand, auf das es sich vorzubereiten galt, und vor allem während der Ferien war er ein unglaublich fröhlicher, ausgeglichener, kreativer, noch sehr kindlicher Junge, der seine freie Zeit nahezu komplett damit verbrachte, sich im Freien zu bewegen, zu spielen und zu basteln. Digitale Medien waren in diesen Phasen so gut wie vollständig uninteressant.
Für meine beiden Söhne, die alle beide kluge, intelligente und kreative Jungs sind, war das Lernen immer mit enormer Willensanstrengung, mit viel Mühsal und Verzicht verbunden und es war so gut wie nie freudvoll. Jetzt können wir uns natürlich fragen, ob schulisches Lernen für Kinder und Jugendliche überhaupt freudvoll sein kann. Aber sollten wir uns denn nicht viel eher fragen, warum schulisches Lernen Kindernkeine Freude bereitet, wo doch das Lernen an sich für uns Menschen mit das Freudvollsteund die größte Bereicherungim Leben ist?
Mir ging es als Kind und als Heranwachsende nicht anders als meinen beiden Söhnen: Ich wurde mit fünf Jahren bereits eingeschult, bin mit neun ins Gymnasium gewechselt und habe Schule während meines ganzen Schullebens als furchtbaren Druck und immer wieder auch als Albtraum erlebt. Dafür zeichneten auch Lehrer verantwortlich, die mich beispielsweise an die Tafel zitierten und mein mangelndes Wissen vor der gesamten Klasse zelebrierten, aber das war nicht der Hauptpunkt. Der Kern war das omnipräsente Gefühl von Druck, Überforderung und Freudlosigkeit.
Warum gehen die allermeisten Kinder und Jugendlichen in Deutschland so ungern in die Schule, warum erleben sie Schule als Albtraum? Und warum stellen sich die Verantwortlichen nicht dieser Frage: die Politiker, die Menschen, die die Lehrpläne schreiben beziehungsweise sie freigeben, die Schulleiter und Lehrer, die den Lehrplänen folgen und: die Eltern, die ihnen zustimmen durch und mit ihrem Schweigen?
Ich höre schon die lauten Stimmen der Kritiker, die an dieser Stelle darauf hinweisen werden, dass Kinder eben lernen müssen und dass sie lernen müssen zu lernen, dass Anstrengung und Ausdauer eben dazugehörten und dass „das Leben ja auch kein Zuckerschlecken sei“ und „je eher die Kinder das erführen umso besser“ … – kennen Sie diese Sprüche?
Die Frage, die ich mir stelle, ist: Was für eine kranke Lebenseinstellung steckt hinter solchen vernichtenden Aussagen, hinter solchen groben Plattitüden? Und ich frage Sie: wie beseelt sind die Menschen, die so etwas vertreten, ihrer Einschätzung nach wohl noch? Wir können und sollten davon ausgehen, dass nicht mehr viel Beseelungin einem Menschen vorhanden ist, der nicht mehr in der Lage ist, sich in ein Kind hineinzuversetzen, der kindliches Leid nicht mehr fühlen kann. Zu groß müssen die Verletzungen in der eigenen Kindheit gewesen sein, wenn ein Erwachsener so wenig in der Lage ist, Empathie zu fühlen.
Und wer nicht mehr mit dem Herzen fühlen kann, wer nicht mehr mitfühlen kann, hat die wichtigste Qualität des menschlichen Seins verloren. Allein diese menschliche Fähigkeit unterscheidet uns von der viel gelobten, viel zitierten und aktuell so gehypten „Künstlichen Intelligenz“.
Ein Roboter kann alles, was wir Menschen auch können, außer fühlen, spontan sein und kreativ sein – dazu ist künstliche Intelligenz nicht in der Lage. Wenn wir nun unsere Kinder einem Schulwesen anvertrauen, dass diese Qualitäten, nämlich die Gabe der Kreativität und die Fähigkeit zu fühlen, die Kinder typischerweise noch besitzen, nicht mehr repräsentiert, geschweige denn wertschätzt und fördert, sondern sie im Gegenzug immer mehr ausschaltet, dann leisten wir als Eltern – ohne dass es uns bewusst wäre und ohne dass wir das wollten – einen Beitrag dazu, dass auch unsere Kinder immer mehr entseelt werden. Denn künstliche Intelligenz ist vollkommen entseelt, genauso wie Menschen, die nicht mehr fühlen können, den Zugang zu ihrer Seele verloren haben.
Ich habe während der Schulzeit meiner beiden Söhne wunderbare, liebevolleLehrer und Lehrerinnen kennengelernt, aber sie waren in erschreckender Unterzahl.
Die Beseelung eines menschlichen Wesens geschieht bereits im Mutterleib. Nur bleibt meiner Auffassung und Erfahrung nach eine Seele nicht per se, sozusagen zwangsläufig ein Leben lang im Körper: sie kann sich auch „ausklinken“ und sie tut es, wenn der Mensch, der diese Seele in sich trägt, ihre Stimme nicht mehr hören kann, ihren Impulsen nicht mehr folgen kann und alles, was Beseelung bedeutet, nicht mehr leben kann – dann kann es sogar passieren, dass die Seele den Körper verlässt. Durch Traumen kann eine Seele, oder zumindest Seelenanteile, dauerhaft den Körper verlassen.
Psychotherapeuten kennen dieses Phänomen aus der Trauma-Arbeit und aus der Arbeit mit dem sogenannten „Inneren Kind“, den Seelenanteilen von uns, die wir in der Kindheit abgespalten und verloren haben. Bei der Inneren-Kind-Arbeit geht es darum, genau diese Seelenanteile, manchmal auch eine ganze Seele, wieder in den Körper zurückzuholen. Besonders betroffen von diesem Phänomen der Abspaltung sind Mädchen und Jungen, die als Kinder und Heranwachsende sexuell oder rituell missbraucht worden sind.
Ich habe in den bisher 10 Jahren, in denen ich psychotherapeutisch, heilerisch und als Coach arbeite, unendlich viele Menschen in meiner Praxis erlebt, die nicht mehr mit dem Herzen fühlen konnten. Die diese Fähigkeit, die uns Menschen gegeben ist, einfach verloren hatten. Mit großer Rührung und Erschrecken habe ich auch festgestellt, dass immer mehr Menschen davon betroffen sind.
Vielen Menschen, die sich in diesem „Zustand“ befinden, ist dies bewusst und sie leiden darunter, aber einer noch viel größeren Zahl von Menschen ist – meiner Beobachtung und Erfahrung nach – nicht einmal bewusst, dass sie keine Verbindung mehr zu ihrem Herzen und damit zu ihrer Seele haben: sie wandeln dann im Prinzip wie ein Art Zombie durch die Gegend. Sie sehen aus wie Menschen, sie bewegen sich wie Menschen, sie sprechen wie Menschen, aber sie können keine Liebe mehr in ihren Herzen fühlen und demzufolge auch nicht mehr von der Herzensebene aus anderen Menschen begegnen. Das ist aber die alles entscheidende Qualität, über die wir als Menschen verfügen – das ist das, was uns auszeichnet, das ist unsere Essenz.
Deutschland wird gerne als „das Land der Dichter und Denker“ bezeichnet. Wir sind stolz auf das, was wir uns erarbeitet haben, was wir geleistet haben und immer noch leisten. Stolz auf unsere Errungenschaften. Und mit diesen drei Verben – arbeiten, leisten, erringen – liegt die Crux im Prinzip schon offen: Wir sind ein Volk, das sich über Leistung definiert. Wir sind stolz auf Leistung. Diesen Stolz übertragen wir auf die Kinder: wir sind stolz auf unsere Kinder, wenn sie etwas leisten. Sie müssen etwas leisten, damit wir überhaupt stolz auf sie sind. Das fühlt sich für mich vollkommen falsch an, einem Kind beizubringen: „Leiste etwas, damit ich stolz auf Dich sein kann!“ Denn Leisten ist Tun und nicht Sein. Wir vermitteln den Kindern, dass nicht ihr Sein den Ausschlag gibt – ihr Wesen, ihre Gaben und Fähigkeiten – sondern ihr Tun. Daran können Kinderseelen zerbrechen.
„Für was plädiert sie hier eigentlich?“, werden einige oder viele meiner Leser sich spätestens an dieser Stelle fragen.
Ich plädiere für eine Kindheit und Jugend, in der Kinder und Jugendliche sich, ihre Gaben, Interessen und Talente frei entfalten können. Wo ihnen der Raum geöffnet wird, um sie selbst zu werden und nicht nur zu dem zu werden, was Elternhaus und Gesellschaft sich von ihnen wünschen, erwarten und fordern.
Wir sollten damit aufhören, Kinder in eine Norm zu pressen – das haben sie nicht verdient. Aber Schule ist Normierung pur. Und solange unsere Schulen in Deutschland – und ich nehme einmal an, auch fast überall sonst auf der Welt – so ticken, wie sie ticken, solange die Prioritäten in der Schulbildung so gesetzt werden, wie sie gesetzt werden, so lange sind die Kinder fremdgesteuert und werden vollständig von einem System überlagert und übernommen – und das mit dem Einverständnis von uns Eltern.
Wir dürfen uns als Eltern hier nicht aus der Verantwortung ziehen, denn wir sind diejenigen, die unsere Kinder diesem System überantworten! Kennen Sie den Spruch: „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin?“ Schreiben Sie das einmal geistig um in:
„Stell Dir vor, es ist Schule, und keiner geht hin!“
Wenn wir als Eltern aufstünden und dem herrschenden Schulsystem die Zustimmung entzögen beziehungsweise uns weigerten, unsere Kinder in die Hände dieses Systems zu geben, dann blieben die Schulen leer. Die Gerichte in Deutschland haben nicht die personelle Kapazität, um Haftbefehle für Millionen von Eltern auszustellen oder sie zu Geldstrafen zu verdonnern, weil sie sich weigern, ihre Kinder in die Schule zu schicken; und die Gefängnisse in Deutschland sind nicht dafür ausgelegt, diese Millionen von Eltern zu inhaftieren.
Mir geht es nicht im Entferntesten darum, Eltern „anzuklagen“ geschweige denn bloßzustellen. Ich habe meine Kinder genauso in die Schule geschickt, gleichwohl mir klar war und ich für mich erkannt hatte, was es für meine Kinder bedeutet hat, was es mit ihnen gemacht hat. Ich plädiere einfach für mehr elterliches Bewusstsein, für mehr Mut, für mehr Vertrauen in und mehr Unterstützung für die Kinder.
Ich will nicht missionieren, das liegt mir völlig fern. Ich würde meinen Weg – einen 13-Jährigen aus der Schule zu nehmen, ihn aus Deutschland abzumelden und mit ihm im Wohnmobil auf Reisen zu gehen – auch nie als Blaupause für andere Eltern ansetzen oder definieren, das wäre völliger Unsinn. Ich möchte einfach, dass Eltern sich wieder der Verantwortung bewusst werden, die sie für ihre Kinder tragen, nämlich die Kinder wirklich da abzuholen, wo sie stehen, sie bestmöglich und vor allem mit dem Herzen zu begleiten.
Mein Freilerner-Sohn liest derzeit ein Buch von Grace Llewelyn, einer amerikanischen Autorin, die selbst Lehrerin war, sowohl an öffentlichen als auch an privaten Schulen, und dann irgendwann erkannt hat, was Schule mit Kindern macht: „Das Teenager Befreiungsbuch“. Ein wunderschönes Buch, schon um 1990 herum geschrieben, von einer sehr mutigen und liebevollen Frau, die ganz klar für sich erkannt hat, dass sie dem Schulsystem nicht mehr dienen kann und will und sich dann aufgemacht hat, die Kinder und Jugendlichen, die den Wunsch haben, sich aus diesem System zu befreien, zu unterstützen.
Und vielleicht haben Sie auch schon einmal etwas von Manfred Lütz gelesen, einem Psychiater, Psychotherapeuten und Theologen, der auch als Autor tätig ist. Im Jahr 2009 hat er in der „Welt am Sonntag“ einen berührenden Essay geschrieben mit dem Titel: „Nicht die Verrückten, die Normalen sind das Problem“.
Dort schrieb er unter anderem:
„Wenn man als Psychiater tagsüber mit psychisch kranken Menschen zu tun hat, rührenden Dementen, feinfühligen Süchtigen, dünnhäutigen Schizophrenen, empfindsamen Depressiven, hinreißenden Manikern, all den anderen farbigen Gestalten der Psychowelt, und man sieht dann abends die Nachrichten über blutrünstige Kriegshetzer, gewissenlose Wirtschaftskriminelle, rücksichtslose Egomanen, dann kann man nur auf die Idee kommen: Nicht die Verrückten, sondern die Normalen sind unser Problem!“
Und er schlussfolgert gegen Ende seines Essays:
„Die Tyrannei der Normalität lebt von der großen Illusion der ewigen Weiterexistenz des Normalen und der Flüchtigkeit des Außergewöhnlichen. Dabei wird es wohl eher umgekehrt sein. (…) Im Grunde existiert das Normale nicht, denn es hat keine Substanz (…) und wer genauer hinsieht, kann die Außergewöhnlichkeit eines jeden Menschen wahrnehmen.“ (2)
Diese Zeilen fühlen sich für mich sehr liebevoll an – hier hält ein Philanthrop eine flammende Rede für das Recht auf Einzigartigkeit eines jeden Menschen und für die Notwendigkeit der Anerkennung. Ich frage mich, warum solche flammenden Plädoyers nicht auch Tag für Tag für die Anerkennung der Einzigartigkeit unserer Kinder gehalten werden, deren Einzigartigkeit wir feiern sollten, statt sie durch den Schulbesuch gnadenlos zu normieren und die Kinder im schlechtesten aller Fälle durch die Gabe von Psychopharmaka schwer zu schädigen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Gerald Hüther, in: Spiegel Heft 11/2002, vom 11. März 2002, Seite 220
(2) Manfred Lütz, in: Welt am Sonntag Nr. 47/22, November 2009
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