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Die deutsche Religion

Die deutsche Religion

Wie Griechenland oder Indien hat auch Deutschland eine charakteristische Form der Spiritualität hervorgebracht. Sie stützt sich vor allem auf Philosophie, Dichtung und Musik und ist zum Glück deshalb eines nicht: dogmatisch.

„Und was deine Religion?“, fragte der nigerianische Flüchtling seine deutsche Gastgeberin Frau Hartmann, die ihn in ihrer Familie aufgenommen hatte. Anstatt eine Antwort spielt die ihm Musik vor: den ersten Satz von Robert Schumanns Rheinischer Symphonie „Hör dir diese Kraft an, diese Schönheit!“, sagt sie. „Wenn es einen Gott gibt, dann spricht er so zu uns: durch die Musik, durch Poesie.“ Schumanns Musik ist mitreißend, kraftvoll, triumphal, gibt aber auch melancholischen Episoden Raum. Nicht nur der Titel „rheinisch“ macht das Werk zu einem deutschen Vorzeigestück.

Zweifellos versucht Regisseur und Drehbuchautor Simon Verhoeven, der für die Rolle der Gastgeberin seine Mutter Senta Berger auswählte, in seinem Film „Willkommen bei den Hartmanns!“ ein satirisches Porträt des deutschen Bildungsbürgertums zu zeichnen. Als das deutsche Pendant zum von dem Migranten importierten und mit Überzeugung vertretenen Islam bringt er nicht etwa das im Bewusstsein der Bevölkerung längst verblasste Christentum ins Spiel, sondern deutsche Kultur. Ist diese unsere eigentliche Religion? Es wäre schön, wenn es so wäre.

Ein Evangelium aus Klängen

Zerrieben zwischen der „Aufarbeitung“ der zwölf dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte und dem Aufspringen auf jeden technischen und popkulturellen Trend aus Übersee bleibt für klassische deutsche Kultur nur noch eine verhältnismäßig kleine Nische übrig. Die Auseinandersetzung mit Schumann oder Goethe ist, wenn sie dennoch erfolgt, zum großen Teil eine aufgezwungene. In Schulen wird sie gelegentlich noch von engagierten Lehrkräften offeriert, während Jugendlich genervt ihre Augen verdrehen. Die Bewohner besagter Nische gleichen den kleinen Gemeinden von Exiltibetern in deutschen Großstädten, die in Meditationszentren unverdrossen in von religiösen Wandbildern geschmückten Räumen ihre Rituale zelebrieren. Es gibt die Kulturdeutschen noch, sie werden gesellschaftlich geduldet, aber die Post geht heutzutage anderswo ab.

Über Weihnachten hatte ich wieder einmal Gelegenheit, Johann Sebastian Bachs Chor „Jauchzet, frohlocket!“ anzuhören, dessen Wirkung – wie es im Englischen heißt – „uplifting“ ist: erhebend. Unter dem Video schrieb ein Kommentator auf Englisch: „Where would Christmas be without the Germans! Bless Bach.“ Was wäre Weihnachten ohne die Deutschen? Weihnachtslieder und weihnachtliche geistliche Musik, die überwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammen, verbreiteten sich weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Hier gingen Religion und Musik eine wirklich enge Verbindung ein. Diese Musik war „Verkündigung“. Friedrich Nietzsche sagte über die Werke Bachs: „Wer das Christentum verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“

Deutschland als Religionsersatz

Ist die deutsche Kultur also die Fortsetzung der Religion mit sprachlichen und musikalischen Mitteln? In seiner Charakterisierung des deutschen „Volkscharakters“ schreibt der zeitgenössische Philosoph Jochen Kirchhoff:

„Der Glaube des deutschen Geistes an die eigene Mission hat religionsähnliche Züge; er geht über das seit dem Zeitalter des Imperialismus auch von anderen Völkern entwickelte Missionsbewusstsein hinaus, das sich die Franzosen bis heute wohl am ausgeprägtesten bewahrt haben.“

Kirchhoff zitiert in seiner Abhandlung auch den Nationalsozialisten Hans Frank, der 1937 in sein Tagebuch schrieb:

„Ich bekenne meinen Glauben an Deutschland. Deutschlands Dienst ist Gottesdienst. Keine Konfession, kein Christusglaube kann so stark sein wie dieser unser Glaube, dass, wenn Christus heute erschiene, er Deutscher wäre. Wir sind in Wahrheit Gottes Werkzeug zur Vernichtung des Schlechten.“

Wir sehen hier deutlich die Gefahren, die sich aus der Vermischung von Patriotismus und Religion im Fall Deutschlands ergeben können. Denn was „die Vernichtung des Schlechten“ bedeuten kann, hat die Geschichte auf furchtbare Weise gezeigt.

Die Grenzscheide zwischen dem noch akzeptablen Bemühen, nationale Eigenart zu definieren, und gefährlichem Wahn liegt zweifellos da, wo nicht mehr von einer deutschen Religion, sondern von Deutschland selbst als einer Religion gesprochen wird.

Ist „Naturverklärung“ rechts?

Macht eine Betrachtung unter nationalen Gesichtspunkten überhaupt Sinn angesichts der nicht nur internationalen, sondern sogar kosmischen Perspektive, die wir ins Auge fassen, wenn wir von „Gott“ und den „letzten Dingen“ sprechen? Grundsätzlich ja, denn eine „deutsche Religion“ ist möglich im Sinne einer spezifischen Einfärbung dessen, was an und für sich universell ist. Die Glasscheiben in einem Kirchenfenster können diese oder jene Farbe und Form haben — der Himmel dahinter ist dagegen natürlich immer derselbe. Er besitzt eine grenzenlose Weite, während die Bruchstücke eines Mosaiks begrenzt sind. Deutsche Geistesgrößen haben zusammen ein Teilchen im „Puzzle“ der Weltkulturen gestaltet.

Die Frage ist nun: Kann man einfach die Aussagen von Deutschen sammeln, daraus Thesen abstrahieren und sagen: „Das ist deutsche Religion!“? Ist es also nur Zufall, welche und wie viele bedeutende Geister in einem Land geboren wurden, woraus dann die Kultur eines Landes entstanden ist? Oder sollte man das Narrativ eines „deutschen Wesens“ ins Spiel bringen? Hiergegen würde sich rasch Protest „von links“ erheben. Diesem war und ist vor allem die Romantik ausgesetzt, die in der Folge einer ausgeprägten Irrationalitätsscheu in Nachkriegsdeutschland in Verruf kam — verursacht vor allem durch den Missbrauch von Mythos und Gefühl durch die Nationalsozialisten.

Die der SPD nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung versuchte in einer Veröffentlichung vor allem die „Nationalromantik“ rechts zu verorten. Auch Naturliebe und selbst Ökologie werden im Zuge dieser Argumentation obsolet. „‚Ökologie ist rechts‘, das ist der Anspruch der Neuen Rechten. Sie strebt heute eine ökologische Renaissance an. Und tatsächlich reichen die langen Linien ökologischen Denkens in Deutschland zurück bis zur Vergangenheits- und Naturverklärung der Nationalromantik um 1800.“

Im Zuge dieser Geisteshaltung dominierte in Nachkriegsdeutschland vielfach das Gegenteil von „Naturverklärung“: ein eher nüchtern-wissenschaftlicher Zugang ohne Liebe, eine Kultur der Entzauberung aus dem Geiste intellektuellen Hochmuts.

Dies kommt gerade mit Blick auf die reiche romantische Kulturgeschichte Deutschlands aber einer partiellen Amputation wesentlicher emotionaler und spiritueller Ressourcen gleich.

Die Natur prägt die Seele

Das Schaffen berühmter Deutscher eignet sich als Angebot sowohl für Identifikation als auch für kritische Auseinandersetzung, was sich nicht ausschließt. Dazu muss man naturgemäß etwas abstrahieren und Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Eine „nationale Kultur“ wird zum Beispiel durch die Landschaftsform beeinflusst, die in einem Gebiet vorherrschend ist. Für Deutschland ist diese besonders schwer zu bestimmten, weil die Landesgrenzen im Lauf der Jahrhunderte starken Schwankungen unterworfen waren und das Land in verschiedene kleinere und kleinste Staatengebilde aufgeteilt war.

Ich habe einmal einen sehr beeindruckenden Naturfilm mit dem Namen „Die Eiche“ gesehen, in dem der Baum im Wechsel der Jahreszeiten und in Interaktion mit den ihn bewohnenden Tieren gezeigt wurde. Eichhörnchen etwa, allerlei Vögel, die auf ihm landeten, Wildschweine, die sich an ihm rieben, und Insekten, die sich in seine Baumrinde gruben. Es war ein Film ohne erklärende Kommentare, der sich ganz auf seine beeindruckenden Bilder verließ. Ich nahm deshalb während des gesamten Films an, dass es sich um die sprichwörtliche „deutsche Eiche“ handelte. Im Abspann stellte ich aber fest, dass der Baum in Frankreich stand. Wir hatten es also mit französischen Eichhörnchen und Wildschweinen zu tun gehabt, denen ihre Nationalität vermutlich gar nicht bewusst war.

Die spezielle Landschaftsform kann — auch wenn wir sie mit benachbarten Ländern gemeinsam haben — dennoch eine Rolle bei der Prägung des geistigen und auch religiösen Lebens der Deutschen gespielt haben. Wüstenregionen haben oft das Bild eines strengen Gottes hervorgebracht, wie Judentum, Christentum und Islam zeigen — jedenfalls einige Strömungen innerhalb dieser Religionen. In Mitteleuropa haben wir es dagegen mit einem gemäßigten Klima und mit fruchtbaren Böden zu tun. Das Gottesbild durfte vielleicht deshalb auch etwas „gnädiger“ ausfallen. Allerdings waren die Winter hier durchaus streng und dunkel. Die mitteleuropäischen Jahreszeiten luden dazu ein, in Kategorien von Tod (Winter) und Auferstehung (Frühling), von Lebenslust (Sommer) und Melancholie (Herbst) zu denken. All das war für Bewohner unserer Breiten unmittelbare Erfahrung, bevor der Fortschritt die durch Witterungsverhältnisse verursachten Gefahren beherrschbar machte und die Unterschiede zwischen den Jahreszeiten einebnete.

Zwei deutsche „Propheten“

Vor diesem Hintergrund erhoben sich zwei gewichtige deutsche „Propheten“, also Verkünder religiöser Inhalte. Der erste war Martin Luther. Mit ihm wandte sich das Christentum eher nach innen, betonte Gesinnung, Glauben und Gewissen gegenüber dem im Katholizismus dominierenden äußerlichen Wohlverhalten. Ein gnädiger Gott legte den Gläubigen ein eher „sanftes Joch“ auf. „Die Freiheit des Christenmenschen“, wie ein Aufsatz Luthers hieß, meinte vor allem die Befreiung von Korrektheitszwang und drückender Schuld.

Luther band seine Gläubigen aber zugleich unduldsam an die Autorität der weltlichen Landesherren, womit eine gemüthafte Obrigkeitshörigkeit entstand, die sich in der Folge als typisch für die Deutschen erweisen sollte.

Wenn Martin Luther der erste große Prophet war, dann war Johann Sebastian Bach der zweite. Er verlieh der Sprache der Musik eine Qualität und Innigkeit, die intellektuelle Konzepte von Religion nicht nur in idealer Weise ergänzte, sondern sie an Wirkungsmacht sogar übertraf. Obwohl auch Italien eine reiche musikalische Kultur hervorgebracht hat, war speziell in Deutschland die Musik über einige Jahrhunderte so dominant gewesen, dass sie das religiöse Innenleben der Deutschen nicht nur widerspiegelte, sondern auch mit formte. Die besten Beispiele dafür sind die Musik zu Gottesdiensten sowie Volks- und Weihnachtslieder, die sich aber in ihrer Harmonik und Melodik oft an die Ästhetik der „Hochkultur“ anlehnten.

Der „deutsche Gedanke“

Einen großartigen Überblick über unser Thema gibt der Dichter Heinrich Heine in seinem 1834 veröffentlichten Traktat „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“. Heine ging darin so weit, von einem „deutschen Gedanken“ zu sprechen. Er schrieb mit Bezug auf nicht-deutsche Leser:

„Denn die Erzeugnisse unserer schönen Literatur bleiben für sie nur stumme Blumen, der ganze deutsche Gedanke bleibt für sie ein unwirtliches Rätsel, solange sie die Bedeutung der Religion und der Philosophie in Deutschland nicht kennen.“

Heinrich Heine sieht den „deutschen Gedanken“ zunächst in der Versöhnung von Geist und Materie. Die Gegenthese, dass zwischen diesen beiden Bereichen ein ewiger Widerspruch bestünde, definiert er als „gnostische Weltsicht“, welche vom Kirchenchristentum zu dessen eigenem Schaden übernommen worden sei. Heine gibt sie wie folgt wieder:

„Doch sehen wir überall die Lehre von den beiden Prinzipien hervortreten; dem guten Christus steht der böse Satan entgegen; die Welt des Geistes wird durch Christus, die Welt der Materie durch Satan repräsentiert; jenem gehört unsere Seele, diesem unser Leib; und die ganze Erscheinungswelt, die Natur, ist demnach ursprünglich böse, und Satan, der Fürst der Finsternis, will uns damit ins Verderben locken, und es gilt, allen sinnlichen Freuden des Lebens zu entsagen, unsern Leib, das Lehn Satans, zu peinigen, damit die Seele sich desto herrlicher emporschwinge in den lichten Himmel, in das strahlende Reich Gottes.“

Die durchgötterte Natur

Die strikte Trennung zwischen den „beiden Prinzipien“ ist für Heinrich Heine ein ungesundes Narrativ, aufrecht erhalten durch fehlgeleitete Generationen, die „durch Abtötung der warmen farbigen Sinnlichkeit fast zu kalten Gespenstern verblichen sind!“

Die gegenteilige Tendenz, die Vereinigung von „Fleisch“ und „Geist“ — was einer Vergöttlichung des Körpers und der Natur gleichkommt —, habe in Deutschland auf eine lange Tradition, die schon in vorchristlichen Jahrhunderten begann.

„Der Nationalglaube in Europa, im Norden noch viel mehr als im Süden, war pantheistisch, seine Mysterien und Symbole bezogen sich auf einen Naturdienst, in jedem Elemente verehrte man wunderbare Wesen, in jedem Baum atmete eine Gottheit, die ganze Erscheinungswelt war durchgöttert; das Christentum verkehrte diese Ansicht, und an die Stelle einer durchgötterten Natur trat eine durchteufelte.“

Heine nimmt eine germanische Urreligion an, eine Art von nordeuropäischem Schamanismus, der nicht auf das Gebiet des heutigen Deutschlands begrenzt war, der aber in der deutschen Kulturgeschichte, speziell jener der Goethezeit, auf interessante Weise weiterentwickelt wurde. In der Epoche, die man heute als „Klassik“ und „Romantik“ kennt, ging es aber nicht mehr um einen archaischen Animismus — zum Beispiel die Annahme, dass in jedem Baum ein Naturgeist präsent sei —; das Szenario war umfassender: Die gesamte materielle Realität wurde als „geistdurchwirkt“ betrachtet. Damit konnte man sie nicht länger als banal oder gar böse abkanzeln.

Martin Luther — Befreier und Fürstendiener

Die Versöhnung von Geist und Materie sei von Martin Luther bereits intuitiv vorweggenommen worden, argumentiert Heinrich Heine. Luther habe erkannt, dass die „Vernichtung der Sinnlichkeit gar zu sehr in Widerspruch war mit der menschlichen Natur, als dass sie jemals im Leben ganz ausführbar gewesen sei“. Es sei deshalb mehr als ein nebensächliches biografisches Detail, dass sich der ehemalige Mönch Luther eine Frau genommen hatte und bei verschiedener Gelegenheit aus seiner Vorliebe für sinnliche Genüsse keinen Hehl machte.

Zugleich habe sich der Begründer des „evangelischen“ Glaubens auch um die Freiheit des Geistes verdient gemacht, welche, wie wir heute wissen, nicht der durchgehend dominierende Faktor in der deutschen Geschichte gewesen sei.

„Indem Luther den Satz aussprach, dass man seine Lehre nur durch die Bibel selber oder durch vernünftige Gründe widerlegen müsse, war der menschlichen Vernunft das Recht eingeräumt, die Bibel zu erklären, und sie, die Vernunft, war als oberste Richterin in allen religiösen Streitfragen anerkannt. Dadurch entstand in Deutschland die sogenannte Geistesfreiheit oder, wie man sie ebenfalls nennt, die Denkfreiheit.“

Das schrieb Heinrich Heine wohlgemerkt lange vor der Ära Faeser.

Gott und Schöpfung sind eins

Was aber ist mit dem merkwürdigen Begriff „Pantheismus“ gemeint? „Die Natur und der Schöpfer sind ein und dasselbe“ lautet ein griffiger Satz, den ich einem Buch über die jüdische Kabbala entnommen habe. In klaren Worten könnte man auch sagen: „Gott (theos) ist in allem (pan)“. Der Pantheismus fand Eingang in das deutsche Geistesleben vor allem durch Vermittlung eines Denkers, der Jude war – wie Heine selbst. Der niederländische Philosoph Baruch Spinoza (1632 bis 1677) lehrte: „Es gibt nur eine Substanz, das ist Gott. Diese eine Substanz ist unendlich, sie ist absolut.“ Alle Phänomene der mit den Sinnen erfahrbaren Welt — also auch die Naturphänomene wie Bäume oder Tiere — sind von dieser Substanz nur abgeleitet, „sie haben nur relative, vorübergehende, akzidenzielle [zufällige] Existenz“.

Eine Folge dieser Philosophie für die Theologie besteht darin, dass Gott demnach nicht mehr außerhalb oder oberhalb der Welt „regiert“, sondern „dass er in der Welt selbst ist“, wie es Heine — Spinoza interpretierend — ausdrückt. Noch drastischer: „Gott ist identisch mit der Welt.“ Er ist „sowohl Materie wie Geist, beides ist gleich göttlich, und wer die heilige Materie beleidigt, ist ebenso sündhaft wie der, welcher sündigt gegen den Heiligen Geist“. Diese Philosophie markiert den größtmöglichen Gegensatz zum Körper- und Natur-Bashing, wie es sich vielfach in der Religionsgeschichte manifestiert hat. In unseren Breiten vor allem in den asketischen Strömungen des Katholizismus, welche den Menschen als eine grundlegend sündige Kreatur auffassten, die nur durch Abtötung ihrer körperlichen Regungen Erlösung finden könne.

Zweck künftiger religiöser Strömungen ist nach Heinrich Heine „die Rehabilitation der Materie, die Wiedereinsetzung derselben in ihre Würde, ihre moralische Anerkennung, ihre religiöse Heiligung, ihre Versöhnung mit dem Geiste“.

Die verborgene Religion Deutschlands

Die „Rehabilitation der Materie“, die im vorigen Abschnitt beschrieben wurde, meinte aber nicht einen Materialismus im Sinne von Karl Marx, welcher annahm, das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewusstsein. Vielmehr lautet das Stichwort gerade für die hier zentrale Epoche zwischen Ende des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts: „Deutscher Idealismus“. Damit war nicht gemeint, dass Deutsche besonders viele Ideale gehabt hätten, sondern eher, dass das Bewusstsein das materielle Sein bestimme oder noch besser: dass göttliches Bewusstsein das materielle Sein durchdringe. Heinrich Heine schreibt: „Deutschland hat von jeher eine Abneigung gegen den Materialismus bekundet und wurde deshalb, während anderthalb Jahrhunderte, der eigentliche Schauplatz des Idealismus.“ Wichtig ist dabei aber, dass dabei die materielle Welt nicht im Sinne einer plumpen „mind over matter“-Philosophie abgewertet wird, sondern dass ihr eine besondere Würde zugestanden wird.

Die Genialität des „deutschen Gedankens“ besteht gerade in der Synthese der Gegensätze. Geist und Materie, Ideen und Wirklichkeit, Gott und Welt sind ein und dasselbe. Dieser Grundgedanke wurde nun von deutschen Geistesgrößen in verschiedenen Varianten durchgespielt und in Kunstschöpfungen auch emotional erfahrbar gemacht.

Heine resümiert: „Denn Deutschland ist der gedeihlichste Boden des Pantheismus; dieser ist die Religion unserer größten Denker, unserer besten Künstler (…).“ Oder in einem Satz: „Der Pantheismus ist die verborgene Religion Deutschlands.“

Johann Wolfgang Goethe gehörte ohne Zweifel zu den Anhängern dieser „Religion“, Heine nannte ihn den „Spinoza der Poesie“. Der Sachbuchautor und Filmemacher Rüdiger Sünner bescheinigt Goethe ein „pantheistisches Verständnis von Religion, das ohne Kirchen und Priester auskommt und Gottesverehrung als persönliche Meditation mit der Natur versteht“.

Der Kuss des Himmels

Friedrich Schiller schrieb in seinem Aufsatz „Theosophie des Julius“ den Satz: „Das Universum ist ein Gedanke Gottes.“ Er fährt fort: „Es gibt für mich keine Einöde in der ganzen Natur mehr. Wo ich einen Körper entdecke, da ahne ich einen Geist.“ Der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling bezeichnete die Natur als „sichtbaren Geist“ und den Geist als „unsichtbare Natur“. Der frühromantische Dichter Novalis sprach von der „unendlich schöpferischen Musik des Weltalls“. Das menschliche Denken sei „eine Berührung des irdischen Geistes (…) durch einen himmlischen, außerirdischen Geist“.

Was in der bisher dargestellten Form vielleicht „trocken“ oder „schwierig“ anmuten kann, wirkt in deutscher Poesie unmittelbar ansprechend und ergreifend. Zu den berühmtesten Gedichten über die liebevolle Wechselwirkung der geistigen mit der irdischen Sphäre gehört Josef von Eichendorffs „Mondnacht“, wo er schreibt:

„Es war, als hätt‘ der Himmel
die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
von ihm nur träumen müsst.“

Im Schlussvers träumt sich der Dichter als ein notgedrungen erdgebundenes Wesen quasi himmelwärts:

„Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.‘“

Dieses „nach Haus“ suggeriert die Idee, dass die körperliche Existenz eine Art erzwungenes Exil in der Fremde sei.

Dennoch erscheint die Erde in der Darstellung Eichendorffs als ein schöner Ort, der durchlässig ist für Transzendenz. Hellhörige können dort, wenn es still ist, den Ruf aus der „Heimat“ vernehmen.

Als wäre das Gedicht nicht an sich schon ausdrucksstark genug, hat Robert Schumann dazu noch eine schöne, wie entrückt wirkende Musik komponiert. Da haben wir es „at its best“: das Land der Dichter, Denker und Komponisten.

„Eine Religion für Knechte“

Solche Themen könnten rein „schöngeistig“ und abgehoben wirken; die politischen Implikationen dachte ein am Zeitgeschehen des „Vormärz“ brennend interessierter Autor wie Heinrich Heine aber stets mit. So identifiziert Heine den in Religionen üblicherweise propagierten, polternd-dominanten, aus himmlischer Ferne auf den Menschen herabblickenden Gott als einen Popanz autoritärer Regime. Der Deismus — die Vorstellung eines von der Schöpfung getrennten Gottes — bezeichnet er als „eine Religion für Knechte“. Dagegen behauptete er eine Geistesverwandtschaft zwischen dem Pantheismus, der „geheimen Religion der Deutschen“, und der politischen Revolution.

Die Schnittmenge zwischen beiden besteht in einer deutlichen Aufwertung des Diesseitigen und Leiblichen. Diese widerspricht jeder Art von Körper- und Sexualitätsfeindlichkeit, ist in ihrem Wesen naturzugewandt und „tiefenökologisch“, kann zugleich als Anregung dienen, den Menschen auch als einem sozialen Wesen stets gut zu behandeln.

„Wir befördern das Wohlsein der Materie, das materielle Glück der Völker, nicht weil wir gleich den Materialisten den Geist missachten, sondern weil wir wissen, dass die Göttlichkeit des Menschen sich auch in seiner leiblichen Erscheinung kundgibt und das Elend den Leib, das Bild Gottes, zerstört (…) und der Geist dadurch ebenfalls zugrunde geht.“

Das humane Potenzial des deutschen Geistes

Vereinfacht gesagt: Wer zulässt, dass der Mensch in materielles Elend stürzt, lästert den Gott, der in ihm — wie auch in anderen Naturphänomenen — gegenwärtig ist.

Heine und andere Dichter und Denker gaben eine religiös unterfütterte Definition von Menschenwürde — wie es im Grunde auch eine Tier- und Pflanzenwürde gibt, weil alle Lebensformen aus romantischer Sicht nicht nur von Gott wie von einem himmlischen „Bastler“ angefertigt, sondern auch von ihm belebt und mit Geist erfüllt werden.

„Wir wollen keinen donnernden Tyrannen“, sagt Heine in Bezug auf das Gottesbild der Kirchen und legte sich in der Folge auch mit irdischen Tyrannen an.

So hat die „deutsche Religion“ in ihrer pantheistischen Gestalt zwar, wenn man so will, eine irrationale, weil nicht auf Beweise und Wissenschaft gründende Komponente; es wäre aber ein grobes Missverständnis, würde man sie ausschließlich als geistigen Nährboden für allerlei autoritäre Strömungen interpretieren, die sich in der Folge leider in der deutschen Geschichte zeigten. Der im pantheistischen Sinne religiöse Mensch schändet, demütigt und zerstört andere Lebensformen nicht, er ist ihnen liebevoll zugewandt, weil er in allem Geschaffenen quasi die Musik des Weltalls und den Atem Gottes spürt. Das ist ein in höchstem Maße idealistisches Konzept, das auf und gesellschaftlicher Ebene kaum jemals uneingeschränkt realisiert werden kann; es repräsentiert aber doch ein positives, humanistisches Potenzial des „deutschen Geistes“, an das jeder anknüpfen kann, der sich davon angesprochen fühlt.

„Religion“ ohne Dogmen

Aus der gefühlten oder auch philosophisch gedachten Einheit der Schöpfung kann im zweiten Schritt mühelos eine humane Ethik entwickelt werden. In seinem Text „Theosophie des Junius“ beschrieb Friedrich Schiller die Natur als „unendlich geteilten Gott“. Das „göttliche Ich“ habe sich „in zahllose empfindende Substanzen gebrochen“. Aus dem Bewusstsein der gemeinsamen Herkunft könne „Bruderliebe“ erwachsen, was wiederum an die berühmte, von Ludwig van Beethoven vertonte „Ode an die Freude“ erinnert.

Rüdiger Sünner hebt in seinem Buch „Das geheime Europa“ die Stärken einer von Künstlern im freien geistigen Austausch geschaffenen Spiritualität hervor, die niemals zu einer „Institution“ erstarrt ist. „Diese Künstler und Dichter bieten spielerisch und fragend neue Denkhorizonte an, ohne jemals letzte Wahrheiten zu behaupten oder religiöse Dogmen aufzustellen“, schreibt Sünner. Schließlich ist ein Gedicht, ein Musikstück immer nur ein Angebot an den Rezipienten, dem nachzuspüren, was ein Künstler erlebt und in seiner Sprache zum Ausdruck brachte.

Auch das philosophische Denken entfaltet sich frei, da es sich nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und deren Denkgrenzen fesseln ließ. „Die Überlegungen dieser Denker unterscheiden sich von den meisten esoterischen Wiederkunftslehren durch ihre Offenheit. Nie hat man das Gefühl, belehrt zu werden oder an etwas glauben zu müssen.“ Fragen nach der Weltseele würden in der deutschen Kultur „im Medium von Kunst und Poesie“ verhandelt. „Wir bekommen keine letzten Antworten. Das ist der aufgeklärte und undogmatische Zug dieser Spiritualität“, schreibt Rüdiger Sünner.

So zwingt uns klassische deutsche Kultur nicht einmal auf, an die Existenz eines Gottes glauben zu „müssen“. Wer möchte, kann alles als ästhetisches Spiel und poetische Fantasie genießen, um sich vielleicht unversehens im Zustand nicht klar benennbarer Verzauberung wiederzufinden.

Auf der Spur des „Weltinnenraums“

Es versteht sich von selbst, dass geistesgeschichtliche Tendenzen, wie ich sie hier dargestellt habe, nicht mit dem Ende der romantischen Epoche erloschen waren. Der Dichter Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926) etwa pflegte eine tiefgehende und eigenwillige Auseinandersetzung mit Religion, in der er die Einheit der Schöpfung, speziell der inneren und der äußeren Realität, zum Thema machte. Zum Beispiel in diesem bekannten Gedicht:

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.“

Rilke erreicht hier eine zeitlose Frische und Vieldeutigkeit des Ausdrucks, die sogar nicht-religiöse Menschen mitnehmen kann. Gerade weil er darauf verzichtet, zu „predigen“, und nicht schreibt: „In allen Wesen waltet Gott.“

Auch der expressionistische Maler Franz Marc (1880 bis 1916) war ein später Vertreter einer spirituellen Kunstauffassung, wie sie von Deutschen Geistesgrößen im 18. und 19. Jahrhundert vertreten wurde. Marc versuchte, Tiere in vollkommener Harmonie mit der sie umgebenden Natur darzustellen und dabei über ihre äußere Form hinaus auch ihr inneres Wesen durch Farben und Formen sichtbar zu machen. Er beschrieb das „pantheistische Sicheinfühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft“.

Gegenentwurf zum „Maschinenmenschen“

Letztlich ist die hier als „deutsche Religion“ skizzierte geistesgeschichtliche Richtung wohl nicht rein zeitgebunden. Sie ist auch nicht auf Deutschland begrenzt, weil das mit ihr ausgedrückte Lebensgefühl universell ist und auf eine dahinter liegende Realität verweist. Zumindest auf eine verbreitete Empfindung des Eingebundenseins in eine wie immer definierte geistige Welt, die immer wieder in verschiedenen Sprachen zum Ausdruck gebracht wurde.

So ist diese kulturelle Strömung auch das beste Gegengift gegen den transhumanistischen Alptraum eines Maschinenmenschen, welcher ein lebloses, sinnentleertes Weltall bewohnt.

Schon das 18. Jahrhundert kannte mit Julien Offray de La Mettries Buch „L’homme machine“ (Der Mensch als Maschine) derartige nekrophile Tendenzen, auf die Romantik und „deutscher Idealismus“ ja auch eine Gegenreaktion darstellten.

„Romantik“ in einem erweiterten Sinn scheint jedoch zum Glück nicht totzukriegen zu sein, wie auch ein Lied eines zeitgenössischen Künstlers mit dem etwas unpoetischen Namen Theodor Shitstorm beweist. In „Sie glaubt noch an Musik“ heißt es:

„Musik war da, bevor da irgendwas war.
Musik hat sie geborgen und geliebt und umarmt.
Musik hat sie gerettet aus dem Tunnel, aus dem Loch,
Aus der Kälte, aus der Hölle, und sie hört sie immer noch,
Wie sie alles durchdringt und verwandelt und belebt,
Wie sie überall klingt und sie in die Höhe hebt,
In den Himmel, zu den Sternen und zum Herzschlag der Welt.“


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