Was ist des Menschen Himmelreich, gleich nach seinem Willen?
Die Widerspruchsfreiheit. Wenn mein Mann mir nicht widerspricht, oder gar „Ja Schatz, du hast recht“ sagt, dann breitet sich das wohlig stimmige Gefühl einer natürlichen Ordnung bei uns aus. Herrlich.
Aber noch himmlischer wird's, wenn alles andere, das ich wahrnehme und erkenne, sich mittels meiner moderaten Hirntätigkeit zu einem schlüssigen, widerspruchsfreien Ganzen fügen lässt. Entsprechend unangenehm sind wahrgenommene Widersprüche, Unverständliches, Brüche der Logik, die sogenannte kognitive Dissonanz. Qua Werkseinstellung beginnen in diesem Falle muntere mentale Klimmzüge, um Zusammenhänge, Muster, Logik zu entdecken oder zumindest einer Binnen-Logik entsprechend etwas zusammenzulöten, bis sich ein halbwegs stimmiges Konstrukt herauskristallisiert. Ich kann mir einen scheinbaren Widerspruch erklären — Welt wieder in Ordnung!
Doch welch Ungemach: „Diese Welt, die ewig unvollkommene, eines ewigen Widerspruches Abbild“, beanstandete schon Nietzsche berechtigterweise.
Elter 1 (ehemals "Mutter") Natur gab uns deshalb in weiser Voraussicht eine üppige Großhirnrinde zum Finden neuer Argumente, wir drapieren und gewichten sie neu, leugnen, erfinden, verdrängen, verändern Wertehierarchien. Torte ist gut für die Seele! Mein Großvater ist 95 geworden mit Gauloises! Unsere Trickkiste ist großartig ausgestattet, um wieder halbwegs wohlige Konsistenz herbeizuzaubern und logische Brüche zu kitten.
Nun zwickt's im Hirn vieler duldsamer Deutsch:innen jedoch momentan besonders arg, wenn sie eine Ballung massiver Widersprüche erkennen: Einerseits möchten wir unseren gewohnten Lebensstandard nebst Sicherheit, Freiheit und Grundgesetz mindestens erhalten, andererseits wird von der Politik mit der Motorsäge am eigenen Ast gesägt, dass die Späne nur so fliegen — Energie, Verwaltung, Mittelstand, Landwirtschaft, Bildung, Kultur, Migration, changierende Corona-Maßnahmen und vieles mehr.
Vielleicht wählt man zum Beispiel eine Partei mit Wurzeln in der Friedensbewegung und sieht sie die Lieferung schwerer Waffen in Kriegsgebiete forcieren; der Pazifismus hat sich methodisch erstaunlich gewandelt neuerdings, Frieden schaffen mit schweren Waffen — aber das ist mein persönliches unmaßgebliches Binnen-Logik-Problem. Oder auch dass wir die Staatsführung Menschen mit frisch frisierten Lebensläufen und wasserpredigenden Weinliebhabern überlassen, die Selbstverachtung, Selbstverleugnung, Selbstzerstörung regelrecht zelebrieren, das ist kognitive Dissonanz par excellence für mich, für deren Linderung ich dringendst ein passables Erklärungsmodell benötige.
Beim Aufräumen fand ich ein solches just auf meinem Dachboden — Ich möchte einen aufgeräumten Speicher/Ich möchte nichts wegwerfen — ein zerfleddertes Reclam-Heftchen „Macbeth“ aus dem Englisch-Leistungskurs! In diesem epochalen Werk finden wir in erster Reihe eine wahrhaft starke weibliche Hauptfigur, die leider später dem Wahnsinn verfällt und sich zuletzt dramaturgisch und psychologisch folgerichtig suizidiert: Lady Macbeth.
Sie ist sich gewiss, dass die Regierungsgeschäfte am besten in den Händen ihres Gatten aufgehoben seien und ein dementsprechender Regime-Change, sagen wir mal, einige kleinere Opfer rechtfertigen würde (amtierender König, diverse Adelige et cetera). Ein Expertengremium orakelnder Hexen hatte es zudem prognostiziert. So motiviert und instruiert sie zielstrebig den anfangs zögerlichen Gatten und unterstützt mit Rat und Tat, bis die Krone endlich da sitzt, wo sie ihrer Ansicht nach hingehört. Leider erfordert auch die Aufrechterhaltung der neuen Landesregierung einige rollende Delegitimierer:innenköpfe, es wird eine unangenehm blutige Angelegenheit, die kaskadierend immer neue Maßnahmen erfordert.
Die leichengepflasterte Dynamik des Geschehens nimmt eine Dimension an, die plötzlich doch die Schlafqualität der neuen Königin leiden lässt und sie entwickelt unter anderem optische Halluzinationen: Sie sieht Blutflecke auf ihren zarten Händen, die sich Wasser und Seife hartnäckig widersetzen. Sie schrubbt und schrubbt, kein Reinigungsversuch fruchtet, die Schuldgefühle lassen sich mit Händewaschen nicht entfernen. Spät, aber dafür umso gründlicher zerrüttend, sorgen quälende Gewissensbisse dafür, dass die Königin sich nach kurzer aufreibender Amtszeit entleibt und ihr auf diese Weise erspart bleibt, den großen Showdown, die Schlacht und das blutige Ende ihres Mannes erleben zu müssen und dass dahergelaufene Psychologen schlankerhand einen Effekt nach ihr benennen: den Macbeth-Effekt.
Dieser beschreibt die Tendenz, nach unethischem Denken oder Handeln Reinigungsrituale auszuführen, wie unter anderem auch über einen Herrn Pontius Pilatus kolportiert wird. Händewaschen zur Reinigung und Befriedung des geplagten Gewissens, zusätzliches Desinfektionsspray wirkt natürlich noch besser.
Die Forschung belegt diesen Effekt nur unvollständig, Therapeuten berichten jedoch häufig vom Zusammenhang zwischen Waschzwang und Schuldgefühlen. Angst vor Unreinheit, Krankheit, Tod, Ablehnung, Scham — es kann da einiges zusammenkommen, egal ob es um reale oder suggerierte Schuld geht.
Achtung, festhalten! Nun folgt eine gewagte Hypothese zur Lage der Nation:
Kann es sein, dass unsere deutschen Schuldgefühle, die die Nazi-Verbrechen hinterlassen haben, jetzt von der Enkel-Generation Sühne fordern? Wir beobachten die Zunahme psychischer Erkrankungen und Suizide, Selbstschädigung in ökonomischer, kultureller und sozialer Hinsicht, kollektive exzessive Reinigungsrituale. Gab es ein anderes Land, in dem Desinfektionsmittel über Monate ausverkauft war? Wir martern uns mit Maßnahmen, Isolation, Deprivation und kalten Duschen. Wir sind sehr findungsreich, was Ansätze für Schuldgefühle anbelangt: Oma-Mord durch Virenverbreitung, Klimawandel durch Kaminofen, Rassismus durch Genuss von Zigeuner-Schnitzel und Mohrenkopf — die Liste unserer Übeltaten wird zusehends länger und länger.
Ich frage mich: Sind wir die Enkel der Lady Macbeth? Holen uns etwa die Taten unserer Großeltern ein, erscheinen immer neue Blutflecke auf unseren Händen, was wir auch tun oder lassen, müssen wir uns schrubben bis auf die Knochen oder besser noch ganz von der Bildfläche verschwinden?
Eine transgenerationale Weitergabe der Selbstwahrnehmung als Täter-Volk scheint in uns regelrecht eingeschrieben.
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, das Gedicht ist von 1944. Verordnen wir uns gerade selbst eine „schwarze Milch“?
Mir scheint momentan eine Destruktivität um sich zu greifen, die den Kern unserer Menschlichkeit beschädigen könnte, wenn wir nicht rapido den inneren und äußeren Frieden, den Dialog und die Versöhnung priorisieren. Und bitte beachten Sie, dass ich eine Trennlinie zwischen „besonderer Verantwortung“ — in Worten und in Taten — und Sühne gezogen sehen möchte.
Gut, das mag Ihnen alles akrobatisch und weit hergeholt klingen, aber für mein Bedürfnis nach psycho-logischen Erklärungen ist es immerhin eine Option — welche zwar nun weder zu beweisen noch zu widerlegen ist, doch balsamiert sie immerhin mein von Ungereimtheiten gepeinigtes Gehirn.
Oder es ist doch ein blanker Blödsinn und SIE haben die Auflösung und lassen mir die meine trotzdem? Oder jeder von uns könnte ein bisschen recht haben, ohne den anderen zu erdolchen? Der deutsche Sonderweg ist einfach ein seltsames Phänomen, da ist das Entstehen seltsamer Erklärungsversuche durchaus erklärlich.
Oder sind wir gerade vielleicht mitten in einem Shakespearesken Drama — als Komparsen ...?
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