Momentan, also im Frühjahr 2025, wird die Zahl der Buddhisten in Europa auf drei Millionen geschätzt; davon leben circa 125.000 in Deutschland, wenn man die eingewanderten Buddhisten nicht mitrechnet. Angesichts der Bevölkerungszahlen ist das ein Klacks; angesichts der Tatsache, dass noch vor 50 Jahren der Buddhismus den meisten — von Hessejüngern abgesehen — als etwas Fremdes, fernöstlich Unzugängliches erschien, eine erstaunliche Menge. Vermutlich ist dieser Erfolg darauf zurückzuführen, dass es sich um eine religionslose Religion handelt. Erstaunlich nur, dass es noch keinen schwunghaften Tourismus nach Kalmückien gibt, der einzigen mehrheitlich buddhistischen Region Europas.
Mithin taucht die Frage auf: Was ist eine religionslose Religion? Bevor ich darüber nachdenke, möchte ich ergänzen, dass es das Phänomen Buddhismus, von dem ich spreche, im eigentlichen Sinn gar nicht gibt; eher handelt es sich dabei um ein Mem als um ein Phänomen. Denken wir bei dem Wort „Religion“ nämlich an Kirchen, Tempel, Schreine, Amulette, Weihrauch, Statuen, Prozessionen, Glaubenskämpfe und sonstige Erniedrigungen des Heiligen, dann kann der traditionelle Buddhismus damit locker mithalten. Bevor allerdings der Buddhismus in die Hütten und Paläste Europas einziehen konnte, mussten die christlichen Gespenster erst einmal daraus vertrieben werden.
Das Verschwinden der Götter
Seit Bonifatius die Donar-Eiche um 700 nach Christus, vermutlich sogar von eigener Hand, wohl in der Nähe des hessischen Geismar fällte, ohne dass ihn der Donnergott niederstreckte, hat sich unser religiöses Empfinden sprunghaft geändert. Der Gott, mit dessen Namen unser Donnerstag zusammenhängt, war der Gewitter- und Wettergott der Germanen, also eine Kraft, welche die Fruchtbarkeit der Erde aufrechterhielt. Diese Verbindung von Himmel und Erde, so bewies Bonifatius, brauchen wir nicht mehr; mit Bonifatius’ Untat wurde die spirituelle Verbindung des Menschen mit den Naturgewalten Geschichte. Bis es endgültig so weit war, dauerte es aber noch ein paar hundert Jahre. Zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert war die Christianisierung Europas vom Atlantik bis zum Ural weitgehend abgeschlossen, wenn man einmal von den tapferen Litauern absieht, die erst Ende des 14. Jahrhunderts ans Christenkreuz geschlagen wurden.
Die Einkerkerung Gottes
Wo die Germanen noch das Göttliche in der Natur erkannt hatten, waren seitdem die biblischen Buchstaben zum Gefäß des Heiligen geworden, über das die Mönche wachten und das keinem Profanen mehr zugänglich sein sollte. Man hatte es deshalb nicht nur in die Buchstaben eingekerkert, sondern zusätzlich in die lateinische Sprache, die kaum jemand beherrschte.
Damit war das Göttliche außen vor, und die ganz normale Demut des Menschen vor etwas Größerem, Mehr-als-Menschlichem hatte sich in Unterwerfung gewandelt.
Bis Martin Luther auftrumpfte und ein bisschen mehr Freiheit schaffte, wie zum Beispiel eigene Auslegung der nunmehr ins Deutsche übersder Ablassbriefe und der päpstlichen Autorität, Wahl der Bischöfe von unten.
Doch mit den protestantischen Liberalisierungen ging eine Vergötzung der Bibel einher, deren Worte — obwohl von Luther bei seiner Schnellübersetzung des Neuen Testaments innerhalb eines Jahres Flüchtigkeiten zwangsläufig waren — Heiligen-Status erreichten, und dies, obwohl spätestens seit dem 16. Jahrhundert und dem Wissen um den Codex Vaticanus klar war, dass die Bibel keine Niederschrift des Wortes Gottes war, sondern das Ergebnis eines historischen Prozesses.
Nichts wie weg!
Der Protestantismus war aber nicht nur mit einer religiösen Liberalisierung verbunden, er „reinigte“ das Christentum auch von seinem mystischen Beiwerk. Zwar akzeptierte Luther noch die Jungfrauengeburt Mariens, doch schon die Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin lehnten sie ab. Heidnisch anmutende Praktiken im Katholizismus wie das Räuchern — die Gebete steigen mit dem Rauch zu Gott —, die Taufe als Sakrament — geweihtes Wasser reinigt ein Baby von allen Sünden des Menschseins — oder die magische Verwandlung einer Hostie in den Leib Christi während einer katholische Messe wurden aufgegeben. Mystik als innere Gotteserfahrung jenseits des biblischen Worts löste sich in Luft auf. Übrig blieb — von den zahlenmäßig unerheblichen Pietisten, Quäkern und Herrnhutern einmal abgesehen — eine rationale Religion, aber immer noch eine mit eiferndem Wahrheitsanspruch.
Um dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen, verkündete der Vatikan 1870 — Trara! — das Dogma der — theologischen — Unfehlbarkeit des Papstes. Damit war nicht nur festgelegt, dass alle anderen Religionen fehlbar waren, es bedeutete auch, dass eine eigene Meinung in Glaubensfragen dem Katholiken offiziell nicht mehr gestattet war — und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der sich die bürgerliche Gesellschaft etablierte und wissenschaftliches Denken religiöse Wahrheitsansprüche längst in ihre Schranken wies.
Schon in der Französischen Revolution war die Trennung von Kirche und Staat gefordert worden; konsequent umgesetzt wurde die Laizität in Frankreich allerdings erst 1905. Waren die Kirchenaustritte im 19. Jahrhundert noch ein Rinnsal, so wurden sie im 21. Jahrhundert ein kirchengefährdender Strom: Im Jahr 2019 traten über 500.000 Menschen aus der katholischen beziehungsweise evangelischen Kirche aus — nichts wie weg. Und ungezählt sind die Millionen, die sich zu einem registrierbaren Kirchenaustritt noch nicht entschlossen, aber mit ihren Konfessionen nichts mehr am Hut haben.
Raum für Neues
Mit anderen Worten:
Die Menschen hatten und haben die Nase voll von der spirituellen Bevormundung. Der so geöffnete Raum religiöser Erfahrung lud regelrecht zur Neubesetzung ein.
Von Jean-Paul Sartre stammt in diesem Zusammenhang der Satz: „Ist einmal die Freiheit in einer Menschenseele erwacht, dann vermögen die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen.“
Als Erster sprang der persische Adlige Bahá'u'lláh in die Bresche und gründete die Bahai-Religion. Trotz schwerer Verfolgungen im Iran konnten die Bahais weltweit viele Anhänger gewinnen: bis heute circa 200 Millionen; Deutschland circa 6.000, Österreich circa 1.300, Schweiz circa 1.100. Der Erfolg war kein Wunder, denn die fundamentalen Grundsätze der Bahais hoben und heben sich von allen anderen Religionen spektakulär ab:
- Alle großen Religionen sind Teil einer fortschreitenden Offenbarung.
- Alle Menschen sind gleich und sollen friedlich zusammenleben.
- Männer und Frauen sollen gleichberechtigt sein .
- Wissenschaft und Religion sind vereinbar.
- Eine vereinte und gerechte Weltordnung ist anzustreben.
Eine noch breitere spirituelle Basis bietet der Buddhismus westlicher Prägung, bereinigt von den Riten der asiatischen Volksreligion. Anders als alle anderen Religionen legt er den Menschen nicht neue Formen der äußeren oder inneren Unterdrückung beziehungsweise neues Leid auf, sondern verbreitet in seinen Lehren die mögliche Befreiung von allem Leid.
Doch nicht nur dies: Zwar gibt es auch im — östlichen — Buddhismus Götter, aber keinen zentralen Schöpfergott mehr wie im Judentum, Christentum oder Islam. Die buddhistischen Devas (Götter) unterliegen wie alle Wesen dem Kreislauf der Wiedergeburt, können sich irren und sind nicht zwangsläufig erleuchtet.
Das ideale Ziel der spirituellen Entwicklung, die Erleuchtung, erreicht der Buddhist nicht, indem er von oben verordnete Regeln und Rituale befolgt, sondern indem er einen eigenen, inneren Weg geht. Damit bietet sich der Buddhismus als eine religiöse Orientierung für all jene an, die auch in anderen Religionen darauf beharrt hatten und deshalb höchst unbeliebt waren, dass man mit Gott nur durch einen Weg nach innen in Kontakt kommen könne: so die christlichen Wüstenväter und Wüstenmütter Ägyptens im 3. und 4. Jahrhundert oder berühmte christliche MystikerInnen wie Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Theresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, Jakob Böhme oder die „modernen“ Simone Weil, Thomas Merton, Pierre Teilhard de Chardin und Willigis Jäger, Benediktiner und 87. Nachfolger von Buddha Shakyamuni.
Auch die moslemischen Sufisten strebten und streben nach einer direkten, inneren Gotteserfahrung jenseits formaler Rituale. Die bei uns berühmtesten Sufi-Dichter sind Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī, bei uns meist nur „Rumi“ genannt, und Hafis, von dem schon Goethe schwärmte.
Millionen machen sich auf einen inneren Weg
Ein bedeutender Wegbereiter des Buddhismus im Westen war der 1898 geborene Ernst Lothar Hoffmann, der spätere Lama Anagarika Govinda, von dem Indira Gandhi Französisch lernte. Er gründete 1933 den international agierenden Orden Arya Maitreya Mandala, dessen Schirmherrschaft der König von Sikkim übernahm. Ab 1935 war er Generalsekretär der „International Buddhist University Association“. Govinda führte auf zahlreichen Vortragsreisen in den Buddhismus ein, nicht nur in Deutschland, sondern auch unter anderem in den USA, Kanada, Mexiko oder auf den Philippinen. Er starb 1985 in Kalifornien.
Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die zweimonatige Reise der Beatles 1968 nach Rishikesh in Indien, um die Transzendentale Meditation zu erlernen. Die dabei entstandenen Songs wie „Magical Mystery Tour“, „The Fool On The Hill“ oder „Hello, Goodbye“ wurden ebenso Hits wie der Fernsehfilm „Magical Mystery Tour“. Der gleichnamige Song war mehrere Wochen in den USA und England in den Top-Charts.
Welche aufregenden Wege die neue spirituelle Öffnung gehen kann, dafür ist der Rupert Lay ein gutes Beispiel, der sich unmittelbar nach dem Abitur dem Jesuiten-Orden anschloss und 1960 zum Priester geweiht wurde. Nachdem er sich mit Theoretischer Physik, Philosophie und Psychologie beschäftigt hatte, promovierte er über die sogenannten Transzententalien, also Begriffe wie „das Sein“, „die Einheit“, „die Wahrheit“ oder „die Gutheit“. Damit war die geistige Öffnung erreicht, die ihm schlussendlich ein Schreibverbot des Vatikans eintrug an das er sich nicht hielt. Lay sprach nicht mehr von Gott, sondern vom Göttlichen und von einer „gotthaltigen“ Welt.
Ein anderes beredtes Beispiel ist die Jüdin Ilse Ledermann, die als buddhistische Nonne Ayya Khema bekannt wurde. Nach einer Fluchtgeschichte von Berlin über Glasgow, Shanghai und San Diego und einer vorübergehenden Tätigkeit als Buchhalterin lebte sie mit ihrem Mann in einer spirituellen Gemeinschaft in Mexiko. Nach intensiven Meditationserfahrungen und Umwegen über Australien wurde sie Novizin des buddhistischen Theravada-Ordens in Sri Lanka. 1989 kehrte sie nach Deutschland zurück. Auf ihre Initiative hin entstand schließlich 1997 Metta Vihara, der „Aufenthaltsort der Liebenden Güte“. Er wurde zum Sitz des von ihr im gleichen Jahr gegründeten Ordens der westlichen Waldklostertradition.
Welchen Sog die fernöstliche Spiritualität entwickelte, zeigte die Bhagwan-Bewegung in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als Hundertausende sich auf den Weg nach Indien machten, um die Lehren des spirituellen, buddhismusnahen Philosophen Bhagwan Shree Rajneesh, später bekannt als Osho, zu hören. Weniger skandalträchtig als Bhagwan, der von der BILD-Zeitung wegen seiner freimütigen Haltung zum Sex-Guru ernannt wurde, war der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh [sprich: Tik Natan]. Ihm gelang nicht nur eine für den Westen verständliche Formulierung buddhistischen Lebens; ihm gelang es auch, den neu im Westen aufkeimenden Ökologiegedanken spirituell einzuweben.
Sein entscheidender und inzwischen weithin anerkannter Begriff dafür ist „Interbeing“, die Verwobenheit allen Seins, die ökologische, soziale und spirituelle Verbundenheit aller Wesen und Dinge. Ein typisches Beispiel seines Denkens ist die Meditation über Papier, das weit mehr sei als ein flaches, dünnes, beschreibbares Ding, sondern etwas, das den Regen, die Sonne, den Baum, den Holzfäller und viele andere Elemente, die zu seiner Entstehung beigetragen haben, in sich trage.
Thich Nhat Hanh verstarb 2022 im Alter von 96 Jahren. Zuvor hatte er über 100 Bücher geschrieben, die weltweit in über 40 Sprachen übersetzt wurden und Millionen von Menschen erreichten. Er war Gründer des spirituellen Zentrums Plum Village in Frankreich, das jährlich viele tausend Besucher anzieht. Vergleichbare Zentren wurden in über 50 Ländern gegründet, so in Deutschland das Intersein-Zentrum im Bayerischen Wald.
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