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Die Abschaffung der Humanität

Die Abschaffung der Humanität

Was eine Gesellschaft wert ist, zeigt sich vor allem in ihrem Umgang mit den Schwachen und Wehrlosen.

Ach, es begann ja schon viel früher, sehr viel früher. Damals nämlich, als die Menschen sich von Mutter Erde so konsequent verabschiedeten, dass die meisten diesen Begriff gar nicht oder nur noch spöttisch in den Mund nehmen; als sie sich von ihren Mitgeschöpfen, den Tieren, trennten und Fleischfabriken als selbstverständlich ansahen, keines Gewissensbisses wert; als sich die Deutschen zum Herrenvolk der Erde aufschwangen und zwölf kurze Jährchen lang sogar ihre „Rasse“ als den arischen Höhepunkt menschlicher Entwicklung begriffen.

Heute blicken die meisten Menschen skeptisch in die Zukunft, eher sehnen sie sich zurück; die einen nach der verlorenen Verwandtschaft, die anderen nach dem arischen Gipfel der Unbarmherzigkeit.

Schluss mit der abstrakten Herzlosigkeit

Das Thema der Umdefinierung des Menschlichen („Waffen für den Frieden“) ist in letzter Zeit vielfach behandelt worden. Ich möchte den Begriff des Menschlichen gerne aus seiner abstrakten Herzlosigkeit herauslösen. Auch meine ich, über das, was „menschlich sein“ bedeutet, lässt sich trefflich streiten, weniger übers Unmenschlichsein, für das wir nicht nur ein Händchen, sondern auch — und überraschenderweise — ein Gefühl haben.

Beispielhaft beginnen möchte ich mit einem Thema, das mir seit Urzeiten an den Nerven nagt, der „Abtreibung“. In der Diskussion, ob frau nun abtreiben dürfe oder nicht, wird munter und vermutlich noch in hundert Jahren darum gestritten, ob denn der Embryo schon Mensch sei oder noch nicht. Abgesehen davon, dass sich in dieser Diskussion biologisch Faktisches und Weltanschauliches vermengen und verknoten, scheint mir die Diskussion an einer entscheidenden Fragestellung vorbeizugehen: Wie können wir der potenziellen Mutter seelisch, moralisch, sozial und wirtschaftlich so helfen, dass sie die Frage nach einer Abtreibung möglichst aus ihrem Herzen heraus ungezwungen beantworten kann? Alles andere erscheint mir wie „Thema verfehlt“, letztlich unmenschlich. Ich könnte auch sagen: zynisch. In vorchristlichen, sprich vorpatriarchalen, Kulturen hatte man mit Schwangerschaftsabbrüchen keine großen Probleme. Das galt auch für die alten Ägypter und Griechen.

Humanität als Propagandabegriff

Und noch ein Argument spricht dafür, diese existenzielle Frage den Frauen zu überlassen: Mit gesetzlichen Normen scheren wir alle Schwangeren über einen Kamm. Doch weder Frauen noch irgendjemand sonst sind keine statistischen Nummern, auch wenn uns das so mancher Wahrheitsapostel glauben machen will.

Es gibt weder die Frau noch den Mann, den Deutschen noch den Amerikaner, auch nicht den Russen und den Ukrainer, Juden oder Palästinenser. Es gibt nur selbst gesponnene oder fremdauferlegte Glaubenssysteme, die für solche Vorurteile sorgen.

Aber ich schweife Grund ab. Zurück zum Thema: Humanität und Inhumanität sind keine klar abgrenzbaren Begriffe. Wer so tut, als wären sie es, bezweckt etwas damit. Meistens handelt es sich dann um Propaganda.

Solche Spielchen mögen wir nicht — eigentlich

Sich selbst etwas anzutun, das erscheint uns nicht als unmenschlich. Slasher, also Menschen, die sich „freiwillig“ selbst verletzen, würden wir nicht als inhuman bezeichnen, sehr wohl aber, wenn sie dasselbe mit anderen machen. Wenn ein Kind einen Käfer in seine Einzelteile zerlegt, weil es sehen möchte, wie er „funktioniert“, dann werden vermutlich die meisten Eltern diesem Kind beizubringen versuchen, dass man „das nicht tut“. Warum eigentlich nicht? Was juckt es uns, wenn ein Käfer mehr oder weniger lebt? Dennoch schreiten wir ein, weil wir intuitiv wissen, dass alles Lebende ein Ganzes bildet, dessen Ganzheit ihm das Leben selbst geschenkt hat.

Wer tötet, zerstört diese Ganzheit unwiederbringlich. Lebendes lässt sich nicht wieder zusammensetzen; das unterscheidet es grundsätzlich vom Mechanischen.

Übertragen wir nun das Verhalten des Kleinkinds auf einen 10-jährigen, 18-Jährigen und 30-Jährigen. Beim Dreijährigen schütteln wir noch den Kopf, beim 10-jährigen sind wir schon erschrocken, beim 18-Jährigen vermuten wir eine psychische Störung und dem 30-Jährigen gehen wir lieber aus dem Weg. Es könnte ja sein, dass er uns als nächste Testperson für seine Spielchen aussucht.

Inhuman heißt: verächtlich zu allem Leben

Selbstverständlich spielt bei alldem noch eine Rolle, welcher Lebenswert unsere Gesellschaft dem jeweiligen Lebendigen zuspricht. Ein Käfer oder Wurm oder eine Fliege oder Spinne — na ja, ihr Tod oder sie zu töten, ist nicht okay, aber auch nicht weiter schlimm; und so geht es die Leiter des unwerten beziehungsweise werten Lebens immer mehr nach oben, über den Fisch, den Vogel, die Maus, die Katze, das Pferd bis eben zum Menschen. Wer eines der Tiere, die auf einer höheren Stufe der Leiter stehen, oder gar einen Mitmenschen zerlegt oder für seine persönlichen Zwecke tötet, den verurteilen wir intuitiv. Interessanterweise gelten für Kopfschlächter, Henker und Soldaten weltweit Ausnahmeregelungen; aber sie berufen sich ja auch auf „höhere Zwecke“.

Doch das ist hier nicht Thema. Spannend an den bisherigen Überlegungen finde ich die Tatsache, dass sich unser Gefühl für menschliches oder unmenschliches Verhalten nicht nur auf Untaten gegenüber Menschen bezieht, sondern gegenüber allem Leben. Human benimmt sich also, wer Leben respektiert, inhuman, wer verächtlich damit umgeht beziehungsweise es zerstört.

Wenn wir uns nun fragen, weshalb es unmenschlicher ist, einen Hund bei lebendigem Leib zu zerlegen als einen Fisch oder einen Wurm, dann landen wir unweigerlich bei dem Argument: Weil der Hund dem Menschen ähnlicher ist.

Wären die Wale keine Säugetiere, sondern Fische, würde man längst nicht so viel Aufhebens um sie machen. In diese Argumentationskette heimlich eingebaut ist die Hierarchie: der Mensch als die Krone der Schöpfung. Oder andersherum betrachtet: Mit Beginn der „Humanität“ war das Ende der „Geschwisterlichkeit“ eingeläutet.

Humanität als Ergebnis kulturellen Trainings

Weil Humanität kein natürliches Empfinden ist, sondern ein kulturell definiertes und uns beigebrachtes, lässt sich ihre Definition auch ohne große Mühe modifizieren. Das ist schon beim Status quo so. Stellen Sie sich folgende Hilfskonstruktion vor: Sie sind mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin in einer Berliner Fußgängerzone unterwegs und bleiben vor einer sehr verwahrlosten Bettlerin stehen. Nun stellt sich heraus, dass diese Bettlerin ausgerechnet die Mutter Ihres Partners beziehungsweise Ihrer Partnerin ist. Wäre Ihnen das jetzt egal? Ja, würde er oder sie nicht einmal einen Euro in die Bettelschale der Mutter werfen, dann würden wir ein solches Verhalten vermutlich als inhuman bezeichnen. Human angemessen wären jetzt offenes Entsetzen und eine spontane Hilfsbereitschaft, mögen sich beide einst auch noch so zerstritten haben.

Hingegen erschiene es uns völlig normal, an einer „Standard“-Bettlerin achtlos vorbeizugehen — wie wir dies regelmäßig tun. Ein solches Verhalten empfinden wir definitiv nicht als inhuman. Umso achtloser würden sich die meisten Menschen vermutlich verhalten, wenn die Bettlerin obendrein noch eine Rumänin wäre … Was wir als human empfinden und was nicht, wurde uns nun einmal kulturell antrainiert.

Wie schnell sich solche Inhalte verändern lassen, zeigte sich während der Corona-Epidemie. Jahrhundertelang hatte es als Gipfel inhumanen Verhaltens gegolten, seine Eltern alleine sterben zu lassen. Zwei Jahre staatlicher Propaganda hatten genügt, diesen Inhalt buchstäblich umzudrehen.

Die Absurdität des Arguments, man dürfe einen Sterbenden auf keinen Fall „anstecken“, fiel dabei nur wenigen auf. Interessant ist an dieser Stelle, dass dem Menschen als der Krone der Schöpfung noch eine Instanz übergeordnet wurde und wird: Wir gestatten nämlich dem Staat, uns die Inhalte humanen Verhaltens vorzuschreiben.

Biophilie — kann niemand ernstlich wollen

Humanität ist letztlich so relativ wie guter Geschmack, über den sich nicht streiten lässt. Für die Humanität gilt dies ebenso.

Die kernige US-Weisheit „Only a dead indian is a good indian“ lässt uns — ein wenig — zusammenzucken. Doch lässt sich diese Art der Wirklichkeitsbewältigung bis zum heutigen Tag als Grundhaltung auf alle kriegerischen Konflikte übertragen; ja, sie beginnt, sich, heimlich wie ein Bandwurm, als Normalzustand in unseren Gehirnen und Herzen einzunisten.

Unmenschlichkeit als Normalzustand, ja, als nationales Wohlgefühl, wie es sich über die Jahrhunderte immer eingestellt hat, wenn man einen Feind identifiziert hat. Da Humanität also so leicht zu missbrauchen ist, ergibt sich zugunsten ernst gemeinter Menschlichkeit keine geringere Forderung als die Abschaffung der Humanität. Was aber dann? Stehen wir dann ethisch im Regen?

Das muss nicht sein, jedenfalls dann nicht, wenn wir „Humanität“ durch „Geschwisterlichkeit mit allem Lebenden“ ersetzen, also nicht nur mit Käfern und Hunden, sondern immer auch mit Menschen. Da aber eine solche Biophilie, die Liebe zum Leben, eine Revolution unseres Verhaltens erforderte und zur Veränderung oder Abschaffung sämtlicher gesellschaftlichen Strukturen führen würde, kann das niemand ernstlich wollen. Oder etwa doch? Falls ja, bitte melden.


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