Dienstagnachmittag, 17 Uhr: Das Selbsthilfenetzwerk der Anonymen Unterverdiener (UA) hat nach Berlin eingeladen. Ich schalte mich per Zoom zu, und, wie sich bald zeigt, alle anderen auch. Nur die Gastgeberin ist präsent, alle anderen schalten sich von daheim zu — und dennoch sind wir binnen kurzem in einem sehr persönlichen Austausch: Ältere, aber mehr noch jüngere Teilnehmer und Teilnehmerinnen berichten (durchweg auf Englisch) über ihre Erkenntnisse und Fortschritte, ihre Ziele und Einsichten, über die Schritte, die sie machen, um aus dem chronischen Unterverdienen herauszukommen.
Alle versprechen, das dort Geteilte nicht weiterzuerzählen — ich gebe also keine Details wieder, kann aber konstatieren, dass ich es bedrückend fand: So viel zerknirschte Selbstkritik und so winzige Schritte zu einem anderen Verhalten! Wieso machen die heutigen jungen Menschen nicht lieber eine Revolution gegen das Geldsystem — anstatt immer den Fehler bei sich zu suchen?
„Underearners Anonymous® ist eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung vom Unterverdienen zu verhelfen. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Unterverdienen aufzuhören. Es gibt keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren, wir erhalten uns durch eigene freiwillige Zuwendungen. UA ist nicht verbunden mit irgendeiner Sekte, einer politischen Gruppe, Organisation oder Institution. Sie begibt sich in keine Kontroverse, noch unterstützt sie irgendeine Sache oder geht gegen sie vor. Unser primäres Anliegen ist es, mit dem zwanghaften Unterverdienen aufzuhören, nur für Heute, und anderen Unterverdienern zu helfen, dies auch zu tun“ (anonyme-unterverdiener).
Im Grunde ist es der alte Streit zwischen Marx und Hegel: Bestimmt das Sein das Bewusstsein oder das Bewusstsein das Sein? Produziert die kapitalistische Realität die Armut — oder produziert unser Armutsbewusstsein die Realität des Kapitalismus? Selbst in der wohlhabenden Schweiz sind 8,5 Prozent der Menschen „arm“, in Deutschland rund 16 Prozent — das heißt, sie können mit ihrem Einkommen ihren Lebensunterhalt nicht finanzieren. Liegt das an ihnen? Oder an einem ungerechten Geldsystem?
Ich würde sagen: an beidem. Hegel hatte recht. Marx aber auch. Wir leben in einem System, das Armut erzeugt. Aber wir halten das System aufrecht, indem wir an es glauben und mitspielen. Durch fehlende Selbstwertschätzung geben wir dem kapitalistischen System Macht über uns. Wir machen uns zu seinen Mitspielern — in der Rolle der Underdogs.
Doch wo wir nicht nur Opfer, sondern Mittäter sind, können wir ansetzen: Beenden wir unsere selbstzerstörerische Komplizenschaft mit dem System!
Aber auf was können wir sonst bauen? Die Antwort der UA lautet: auf Gott. Ich sage lieber Selbstliebe dazu. Denn die entscheidende Frage der Heilung vom Unterverdienen heißt: Bin ich es wert, in Wohlstand zu leben?
An meinem eigenen Beispiel: Ich lehnte Geld lange Zeit ab. Ich arbeitete viel auf Freiwilligenbasis und kam mit sehr wenig Geld aus. Im Grunde wollte ich nicht wissen, wie die Gesellschaft das bewertete, was ich zu geben hatte — und wollte auch nicht die Verantwortung tragen, die mit dem Privileg des Reich-Seins einhergeht. Darüber legte ich eine Arroganz gegenüber denen, die so eifrig dem Geld nachrannten. Ich wollte den ganzen Konsummist auch nicht, weder Sofagarnitur noch schickes Auto. Hatte nicht Jesus schon gesagt: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel kommt“?
Ich erkenne die Leidenschaft dieser Aussage. Aber bei vielen klingt das wie der Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind. In Wirklichkeit glauben sie unbewusst, dass sie es nicht schaffen oder nicht wert sind. Und sie tun — ebenso unbewusst wie zwanghaft — alles dafür, damit sich dieser Glaubenssatz bestätigt.
Zu den Symptomen der Unterverdiener gehören zu fantastische oder gar keine Ziele, chronisches Unorganisiert-Sein, Unzuverlässigkeit vor allem im Zeitmanagement, Borniertheit gegenüber Neuem, Selbsterhöhung, Verschuldung, Überarbeitung, Scham, eine längt fällige Lohnerhöhung anzusprechen und vieles mehr.
Die 12 Symptome des Unterverdienens
- Zeitindifferenz — wir verschieben, was zu erledigen ist, und nutzen unsere Zeit nicht, um unsere Vision und unsere eigenen Ziele zu erreichen.
- Ideenabwehr — wir lehnen Ideen, die unser Leben oder unsere Karriere bereichern oder unsere Profitabilität erhöhen könnten, zwanghaft ab.
- Zwanghafter Drang, sich zu beweisen — auch wenn wir unsere berufliche Kompetenz schon bewiesen haben, sind wir getrieben, unseren Wert immer wieder neu zu beweisen.
- Hängen an nutzlosem Besitz — wir halten an nutzlosem Besitz, der uns nicht mehr dienlich ist, fest, wie an kaputten Geräten oder abgetragener Kleidung.
- Anstrengung/Erschöpfung — gewohnheitsmäßig überarbeiten wir uns, erschöpfen uns, dann „unterarbeiten“ wir oder hören gänzlich auf zu arbeiten.
- Verschenken unserer Zeit — zwanghaft bieten wir uns für verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten an oder verschenken unsere Dienste ohne klaren Nutzen.
- Unterschätzen und zu geringe Preise — wir unterschätzen unsere Fähigkeiten und Leistungen und haben Angst, nach Vergütungserhöhungen zu fragen oder nach dem, was der Markt trägt.
- Isolation — wir arbeiten alleine, auch wenn es uns besser täte, Kollegen, Partner oder Angestellte zu haben.
- Körperliche Beschwerden — manchmal, aus Angst, größer oder sichtbar zu sein, haben wir körperliche Beschwerden.
- Unpassende Schuld oder Scham — wir fühlen uns unwohl, wenn wir einfordern oder erhalten, was wir brauchen oder uns zusteht.
- Kein Follow-up — wir machen kein Follow-up bei Gelegenheiten, Angeboten oder Jobs, die profitabel sein könnten. Wir beginnen viele Projekte und Aufgaben und beenden sie oft nicht.
- Stabilitäts-Langeweile — wir schaffen unnötige Konflikte mit Kollegen, Vorgesetzten und Klienten und kreieren somit Probleme, die finanzielle Nöte auslösen können.
Wenn ein oder mehrere dieser Symptome auf Sie zutreffen, dann könnten Sie ein Unterverdiener sein. Das heißt gar nicht, dass Sie zu wenig oder zu schlecht arbeiten. Aber Sie haben sich Gewohnheiten und Glaubenssätze zugelegt, die das Geld davon abhalten, zu Ihnen zu kommen.
Die anonymen Unterverdiener sind in der Tradition der Anonymen Alkoholiker organisiert: Ein Selbsthilfenetzwerk, eher spirituell als politisch, orientiert an 12 Symptomen, Schritten und Werkzeugen. Man trifft sich regelmäßig — heute wohl meistens per Zoom, nennt sich nur beim Vornamen, liest einen oder mehrere der Schritte, Werkzeuge oder Symptome vor und zeigt sich voreinander in seinen Schwächen.
Wie bei den Anonymen Alkoholikern scheint Offenheit mit dem eigenen Zwangsverhalten wichtig für die Heilung zu sein: Sich von anderen darauf ansprechen lassen und es selbst ansprechen können nimmt ihm den Nimbus des Schweigens. Veränderung wird machbar.
Der andere Schritt besteht darin, an die höchste Stelle unserer selbst nicht mehr alte Gewohnheiten und Ängste zu stellen, sondern — Gott. Nein, die Anonymen Unterverdiener sind keine Sekte, auch keine Kirche. Die Anonymen Alkoholiker haben in den 90 Jahren ihrer Existenz hunderttausenden Menschen geholfen, religiös oder nicht. Gott — das ist für sie ganz pragmatisch das, was jede und jeder darunter versteht. Zwanghaftes Verhalten — ob Sucht oder anderes — kann nach den UA nicht aus eigener Kraft geheilt werden. Aber durch Einlassen auf die Kraft der Gruppe und die spirituelle Kraft.
Demut und Bescheidenheit finde ich durchaus hilfreich für eine Neukonditionierung. Es tut mit Sicherheit gut, aus dem Schutzmechanismus des Größenwahns auszutreten. Und dennoch habe ich erstmal Schwierigkeiten, den vielen Selbstvorwürfen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen zuzuhören. So verzichte ich, als ich gefragt werde, ob ich auch „meine Geschichte“ erzählen möchte. Ich wolle erstmal nur zuhören. Es wird kommentarlos akzeptiert — das fand ich angenehm.
Die 12 Schritte der Anonymen Unterverdiener
- Wir gaben zu, dass wir dem Unterverdienen gegenüber machtlos sind — und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
- Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, grösser als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.
- Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes — wie wir Ihn verstanden — anzuvertrauen.
- Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.
- Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.
- Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.
- Demütig baten wir darum, unsere Mängel von uns zu nehmen.
- Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
- Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut — wo immer es möglich war — es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.
- Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.
- Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott — wie wir Ihn verstanden — zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.
- Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an andere Unterverdiener weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.
Jedes Mal, nachdem jemand in dem Treffen einen Schritt, ein Symptom oder ein Werkzeug vorgelesen und berichtet hat, wie er oder sie damit gearbeitet hat, bedanken sich alle: Danke, Carla. Danke, Walter. Wenn das zu zögerlich kommt, erinnert uns der Moderator: Bedankt euch bitte bei Carla!
Ich fand das furchtbar formell — fühle aber auch, wie sehr sich Menschen nach Gemeinschaft und Wertschätzung sehnen. Teil einer Gruppe zu sein lindert bereits viele Krankheiten, Süchte und psychische Defekte.
Die 12 Werkzeuge der Anonymen Unterverdiener
- Zeiterfassung — Wir werden uns bewusst, wie wir unsere Zeit verbringen. Wir erfassen sie schriftlich, um unsere Wahrnehmung zu stärken, und uns auf unsere Ziele und die nötigen Handlungen zu konzentrieren.
- Meetings — Wir besuchen regelmäßig UA Meetings, um unsere Erfahrung, Kraft und Hoffnung zu teilen, und um uns und anderen bei der Genesung vom Unterverdienen zu helfen.
- Sponsorschaft — Wir bemühen uns aktiv um Sponsorschaft mit einer Person, welche die Zwölf Schritte in UA gearbeitet hat und bereit ist, uns in unserer Genesung anzuleiten.
- Besitzbewusstsein — wir entsorgen regelmäßig, was uns nicht mehr dienlich ist, um unseren Glauben an ein reiches Leben zu fördern und unsere Fähigkeit zu entwickeln, uns mit dem Benötigten versorgen zu können.
- Dienst — Dienst ist wesentlich für unsere Genesung. Durch Dienst an Anderen und an der UA Gemeinschaft behalten wir, was wir so reichlich geschenkt bekommen haben.
- „Goals Pages“ — Wir setzen Ziele für alle Bereiche unseres Lebens, schreiben sie auf, erfassen Fortschritte und belohnen den Erfolg.
- Action Meetings — Wir organisieren Action Meetings mit anderen UA Mitgliedern, um unsere Erwerbsanliegen zu besprechen und Aktionen zu entwickeln, die mehr Wohlstand in unser Leben bringen.
- Action Partner — Wir sind mit Action Partnern über unsere Erwerbsanliegen in regelmäßigem Austausch, um uns gegenseitig Rechenschaft, Beständigkeit und Unterstützung zu geben.
- Zahlungsfähigkeit — Wir machen keine Schulden, nur für heute. Schuldenmachen führt zu Unterverdienen.
- Kommunikation — Wir kontaktieren andere UA Mitglieder, um Unterstützung zu suchen, Isolation zu überwinden und unsere Selbstverpflichtung zum Handeln zu stärken.
- Literatur — Wir lesen Zwölf-Schritte-Literatur, um das Verständnis von zwanghafter Krankheit und dem Genesungsprozess zu vertiefen.
- Rücklagen — Geld zurückzulegen zeigt Vertrauen in die Zukunft und betont, dass Geld ein wichtiges Werkzeug für unsere Wohlstandsvision ist. Wir erstellen und folgen einem Rücklagenplan in dem uns möglichen Umfang.
Mir scheint, vor allem das Buddy-System ist ziemlich wirksam: Neue UA-ler suchen sich so genannte „Sponsoren“. Das sind erfahrenere UA-ler, die jeweils einen Anfänger begleiten, beraten und unterstützen. Die Aussicht, nach den ersten eigenen Schritten jemand anderem helfen zu können, ist sicher eine Motivation.
Ich stelle mir vor, wir könnten mit diesen Prinzipien eine Bewegung aufbauen, die nicht nur an der eigenen Heilung arbeitet, sondern am Systemwechsel — Selbsthilfe für die friedliche Umwälzung — was ist mein Beitrag? Darüber werde ich noch ein wenig nachdenken.
Ich werde berichten, wie meine Heilung vom Unterverdienen sich entwickelt — wer weiß, vielleicht steht am Ende meiner Heilung ja ein finanziell florierender Zeitpunkt, der krisensichere Jobs für seine Redaktionsmitglieder bietet? (Stellen Sie sich hier einen ironischen Smiley vor.)
Gerne ende ich mit diesem schönen Gebet, das wir am Ende im Chor gesprochen haben, dem Gebet der Gelassenheit. Wie gesagt: Man setze für Gott das Wort ein, das für einen stimmt.
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Ist Armut heilbar?“ auf Zeitpunkt.ch.
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