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Der Wunsch nach Unendlichkeit

Der Wunsch nach Unendlichkeit

Spätestens seit Corona wird Leben nur noch als die Abwesenheit des Todes verstanden — mit fatalen Folgen für unsere Lebendigkeit. Teil 2/3.

Endlichkeit, Unendlichkeit und subjektives Zeitempfinden: ein paar Meditationen und Bilder

Rainer Maria Rilke hat in seinem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ die neue Dissonanz des Zeitempfindens nicht zufällig anlässlich des Todes seines Großvaters geschildert. Er spürt als Kind, wie in der Todesstunde die Zeit geradezu ruckartig das Sterbezimmer durchdringt, aber einen Augenblick später verschwindet sie auch schon wieder und hinterlässt im Kind eine bedrohliche Leere, vielleicht auch das: einen Schock, der keine ruhig dahingleitende Zeit mehr zulässt. Das physikalisch ausgewiesene Gleichmaß der Zeit, wie der Physiker Newton sie zu Beginn der Neuzeit fasste, ist uns Modernen regelrecht entglitten, folgert Rilke.

Der Maler Vincent van Gogh hingegen hat ein frühes Bild von den „Kartoffelessern“ gezeichnet, die in ärmlichen Verhältnissen in einem engen Raum um einen Tisch sitzen. Wer den dunkelschattigen Raum sieht, in dem nur eine Öllampe Licht spendet, wird erkennen, dass in so einem Ambiente Leben und Tod, damit auch Endlichkeit und Unendlichkeit, ganz nah zusammenrücken und sich durchdringen. Der Tod und die Endlichkeit durchwirken geradezu den dunklen Raum. Sie werden zu existenziellen Bestandteilen des Alltags. Panik und der Wille zur Verdrängung werden sich in diesem von Müdigkeit durchsetzten Milieu nicht einstellen, auch keine religiöse Aufheizung der Gefühle steht zu erwarten.Ein Coronaszenario wäre hier vollkommen ausgeschlossen.

Auch nicht da, wo in dem Film von Akira Kurosawa „Die sieben Samurai“ ein alter Müller der drohenden Gefahr durch ein feindliches Herr trotzt und gebeugt vor seinem Wasserrad hocken bleibt und seinem sicheren Tod entgegensieht. Nicht aus Heroismus und Sturheit verharrt er dort, sondern aus einer sein ganzes Leben prägenden Zeiterfahrung heraus, in der seine Arbeit, die ihn umgebende Natur und das drehende Rad als Zeichen einer sanften „Wiederkehr des Gleichen“ ihn in eine Gelassenheit rücken lassen, eine Gelassenheit, die alle „Coronierten“ heute gar nicht mehr verstünden. Wenn die letzten zwei Jahre Coronadiskurs eines bewiesen haben, dann wie sehr die geschichtlich so reichhaltige Sprache des Lebens und des Sterbens zum Verschwinden gebracht wurde.

Das Dilemma in der Moderne

Der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal prägte vor 400 Jahren einen Satz, der uns vor Augen führt, was für ihn Unendlichkeit alles bedeutet: „Das ewige Schweigen der unendlichen Räume macht mich schaudern.“ Mögen wir diesem Satz zunächst auch keine besondere Aufmerksamkeit schenken — er wird verständlich aus einem historisch sich ankündigenden Umbruch der Welt des Glaubens und des Wissens. Mit Kopernikus und Galilei wurde der Kosmos entdeckt und damit eine vorher kaum vorstellbare Unendlichkeit des Raumes der Welt, in der selbst Gott als „Deus absconditus“ (der verborgene Gott) zu verschwinden drohte — jener Herrscher mit der einst schön gerundeten Schöpfung mit heilsgeschichtlichen Konstanten, in denen die der Zeit enthobene Ewigkeit die zentrale Rolle eines Endzwecks spielte.

Pascal vollzieht mit dieser räumlich ausgewiesenen Unendlichkeit, die nicht nur den Raum, sondern auch die moderne Mathematik entfesselte, auf seine Weise die Wende zur Moderne.

Wer von uns heute auf das Schockerlebnis Pascals schaut, wird dessen Gefühl des Schauderns nicht unbedingt nachvollziehen können. Unendliche Räume und ein darin verschwindender Vatergott lassen auch keine Panik mehr in uns entstehen. Es wäre wohl eher das Gegenteil der Fall: Für uns verschwindet ja gerade der Raum im digitalen Global Village — was uns womöglich mehr beunruhigen könnte als dessen Entfesselung ins Unendliche, wie uns die Gemeinde der Science-Fiction-Fans bestätigt.

Geschichtlich festzuhalten bleibt diese Erkenntnis: Aus unterschiedlichen Gründen wurde vor 500 Jahren der mittelalterliche Weltbegriff infrage gestellt, wurden Endlichkeit und Unendlichkeit neu justiert. Das mag nach Ideengeschichte klingen, doch überformte die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und die moderne Individualisierung immer nachhaltiger.

Einem anthropologischen Realismus aber ist es zu verdanken, dass der Mensch diese Einsicht in seine Endlichkeit — natürlich dann ohne Gott — nur schwer verdaut, ist er doch ein intentionales metaphysisches Wesen, das den Tod als Endpunkt nicht akzeptieren kann, wenngleich er es realiter tut und tun muss.

Wenn also die Heilsgeschichte auserzählt scheint — und welcher Smartphonebesitzer glaubt noch an derlei Versprechungen (Himmel) oder Drohungen (Hölle) —, dann können bei diesem Widerspruch zwischen der Einsicht ins Unabänderliche und dem Drang nach einem „Irgendwie weiterexistieren wollen“ für ernsthafte Versuche nur Ersatzlösungen helfen, Lösungen, die im Leben selbst gesucht werden müssen.

Um nur zwei Optionen hier anzudeuten, die aber für die laufende Diskussion wichtig sind: Wir können mit Nietzsche und Goethe statt der zeitlich sich erstreckenden Endlichkeit den tiefen, ja abgründig intensiven Augenblick als Erlebnis der Unendlichkeit erfahren, eine Art Poesie pur, die sich aus den Ketten der Zeit sprengt. Diese Erfahrung fordert uns indes einen hohen Fantasiebonus und einen Heroismus ab, der wenig zeitgemäß anmutet.

Die Moderne ist nämlich immer noch steil auf Fortschritt und Optimierung ausgerichtet, was aber bezogen auf das menschliche Individuum beim Tod ein jähes Ende findet. Nichts ist absurder als eine Geschichte, in der ein allgemeiner Fortschritt innerhalb einer unendlich scheinenden Weltzeit auf das Schicksal des sterblichen Individuums stößt. Diese Gleichung will nicht wirklich aufgehen — schon gar nicht, wenn die heutige Gesellschaft ihre einstigen Vermittlungen durch nahe Naturerfahrung und symbolisch rituelle Formen des Austausches zwischen Leben und Tod aus dem Augen verloren hat.

Es bliebe dann nur noch eins — und genau das geschieht heute, vermehrt in den letzten Jahren:

Die alte Sehnsucht nach der Unendlichkeit des Daseins über den Tod hinaus wird umgebogen und umgelagert, indem man durch waghalsige Strategien die Unendlichkeit durch eine Verschiebung des Todes ins schier Unendliche der Zukunft erprobt.

Gemäß dieser Dynamik setzt sich ein ehernes Diktat, auf das wir immer wieder stoßen, in Geltung: Das Leben muss unbedingt verlängert werden; Lebenserhaltung stellt alles, was sonst im Leben gezählt hat, in den Schatten — Vielfalt, Wahrnehmung, Zufall und dazu Erzählbarkeit von Leben und Welt werden eingefroren. Wir sind auch hier im semantischen Umkreis von „Corona“ gelandet. Der Hintergrund für dieses Phänomen ist zurzeit geradezu hysterisch ausgeleuchtet und zugleich blind gerichtet gegen Alternativen.

Foucaults erschütternde These oder: Vom Individuum zum Patienten

Ein zweiter Aspekt, der das jetzige Schauspiel in all seiner Absurdität aufzeigt, ist ein medizingeschichtlicher. Der Philosoph Michel Foucault suchte nachzuweisen, dass der moderne Mensch seine eigentlich ihm zugeschriebene Individualität nicht einem Selbstakt oder einer Selbstfindung verdankt, sondern diese in den Kellern der anatomischen Pathologie generiert wurde. Da wurde definiert, dass Leben nicht durch sich selbst, sondern von den funktionslos gewordenen Organen bestimmt wird.

Leben besagt seither, dass wir es aus der Negation der Dysfunktionalität aus Tod und Krankheit gewinnen. Aus mehr sonst nicht!

Verräterisch ist schon allein die klinische Sprache: „Die Leber kommt zur Obduktion“, befindet da ein Richter in Weiß. Oder in dieser erschreckenden Diktion: „Wann können wir den Toten denn endlich abstellen?“ Oder auch dies nach einer Reanimation: „Wir haben ihn wieder.“ Derlei Sprachgebung lässt stimmig erscheinen, dass wir als Individuen heute fast ausschließlich als Patienten auftreten und uns auch so fühlen — eine paradoxe Selbstzuschreibung, denn dieses so erzeugte Individuum widerspricht im Status des Objektseins gerade dieser Individualität aufs Schärfste.

Der Soziologe Dirk Becker, auf den wir später noch zu sprechen kommen, leitet daraus eine beunruhigende Vision ab, die bestechend scheint. Unter der Überschrift „Überwachte Gesundheit” notiert er: „Gesund ist man dann, wenn man nicht krank ist. Über Krankheiten, die man hat oder nicht hat, entscheiden Beobachter.“ Und weiter heißt es in lakonischer Abbreviatur: „Gesundheit ist in der nächsten Gesellschaft die Kontingenzformel schlechthin für menschliche Existenz. Niemand ist je wirklich gesund, sodass jeder Mensch Identitätsmerkmale frei Haus geliefert bekommt, die jedoch umso weniger zur Identität beitragen, je deutlicher sie als Krankheitsmerkmale definiert sind, die ganze Populationen kennzeichnen.“ Noch Fragen, was die Aktualität dieser Aussagen betrifft?

Dirk Becker markiert hier schon — übrigens ein Jahr vor dem Ausbruch der „Pandemie“ — den durch Corona eingetretenen Istzustand. Identität, Individualität und Leben werden in einem großen Aufwasch in purem Objektivismus ineinandergefügt. Heraus kommt ein fragmentiertes und gleichzeitig auf Totalität und Ideologie zielendes Programm der Überwachung, die unser Leben nachhaltig konditioniert.

Ein ästhetisierender Einwand vom Wesen des Menschen

Wer den Menschen in seinem tiefsten Wesen erkennen will, seine ihm durchaus bewusste Endlichkeit, sollte sich auf eines seiner Augen konzentrieren, am besten in der Perspektive einer handlichen Digitalkamera, die heute für interessierte Laien ohne allzu großen finanziellen Aufwand zu erwerben ist. Glücklicherweise kommt das Okular dem Auge sehr nahe und kann so auch seinen Fokus nur wenige Zoll unterhalb des oberen Wangenknochens auf das besagte Sehorgan richten. So etwas ging früher noch nicht.

So späht der Kameramann — und später auch wir — über eine blassrosa Wölbung unmittelbar in ein durchfurchtes, fast netzförmiges, vom Augenlid leicht verdecktes Gebilde, in einer erschütternden Größe und zugleich einer Hilflosigkeit, die noch an kreatürlicher Wucht gewinnt, da im Auge zugleich eine flackernde Unruhe aufkommt, die durch die zuckenden Pupillen wahrzunehmen ist — ein Spiel aus Licht und Schatten.

Der die Kamera führende Fachmann ermüdet indessen wegen der ungünstigen Stellung, die er bei seiner Arbeit der Aufnahme des Auges einnimmt. Er reißt schließlich gereizt die Kamera herum — und es ist genau dieser Augenblick, wo das Auge, das er zuvor im Fokus hatte, zum Augentier wird, wo durch die überrissene Bewegung der Kamera ein zuckendes Etwas — ja was nur? — in animalischer Verletzbarkeit sichtbar wird und sich dem Auge des Betrachters, demnach auch uns, die wir mehr sein wollen als Voyeure, ein Wesen offenbart, ein seiner Endlichkeit bewusstes Einzigartiges,vor dem sich alles Denken, Urteilen und Beabsichtigen achtungsvoll verneigen sollte.


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