Wandelnder Stolperstein
Sengen, brennen, schießen, stechen,
Schädel spalten, Rippen brechen,
spionieren, requirieren,
patrouillieren, exerzieren,
fluchen, bluten, hungern, frieren ...
So lebt der edle Kriegerstand,
die Flinte in der linken Hand,
das Messer in der rechten Hand —
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland (2).
Entgegen aller Propaganda hatten Regierungen noch nie Interesse an der Freiheit der ihnen anvertrauten Menschen.
Es ist kein Zufall, dass die freiesten und mutigsten Menschen zu jeder Zeit und in jedem politischen System in Gefängnisse gestopft wurden: Mumia Abu-Jamal, Julian Assange, Rosa Luxemburg, Nelson Mandela, Chelsea Manning ... und Erich Mühsam.
Gemeinsam war diesen Leuten, dass sie sich gegen verbrecherische Regierungen und Systeme wehrten.
Mühsams Kindheit und Jugend fielen ins Deutsche Kaiserreich (featuring Willi I, Kurzkaiser Fritz III und Willi II), ein solider Nährboden für einen denkenden Menschen, um einen revolutionären Geist zu kultivieren. Enttäuscht zeigte sich Mühsam vor allem von der vermeintlichen Arbeiterpartei SPD, mit der er als Schüler durchaus sympathisierte. Dass die heutige Kriegstreiberpartei und Schoßhündchen der Konzerne schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Seite der Mächtigen stand, bewegte Erich Mühsam zu seinem Gedicht „Der Revoluzzer“ von 1907.
Darin geht es um einen Lampenputzer, der mit den Revolutionären marschiert, aber nicht wirklich für deren Anliegen einsteht. Er scheut die Auseinandersetzung mit dem Bürgertum. Als gäbe es eine Befreiung der Unterdrückten ohne Einbußen für die Profiteure des Systems. Seither sind die Sozialdemokraten für Mühsam „Lampenputzer“.
Wenn wir ihn das Licht ausdrehen,
Kann kein Bürger nichts mehr sehen,
Laßt die Lampen stehen, ich bitt!
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit! (3).
„Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet“, schreibt Mühsam am Ende des Gedichts.
„Immer wieder übte Erich Mühsam in seiner pazifistischen und antimilitaristischen Grundhaltung scharfe Kritik, speziell an der SPD. Und immer wieder zeigte er auf, wie diese Partei sich mehr und mehr zu einer staatserhaltenden, nationalen, bürgerlichen und militärfrommen Organisation entwickelte“ (4).
Venskes hörenswerter 100-Minuten-Nachruf führt vor allem anhand von Mühsams Gedichten durch dessen Leben und Arbeit und bettet diese in den historischen Kontext ein — ergänzt von politischen Aufrufen und Ausschnitten der umfangreichen Tagebücher (5) sowie Mühsams im Jahr 1900 verfasster Satire „Das Lebensprogramm“ (6).
Bei aller Umtriebigkeit Erich Mühsams — auch als Teil der großstädtischen Boheme in Berlin und München — liegt Venskes Schwerpunkt auf Mühsams anarchistischem und antimilitaristischem Engagement, womit das Hörbuch bei all denen einen Nerv treffen dürfte, die sich nicht von der omnipräsenten Kriegspropaganda dahin manipulieren lassen, mit der deutsche Politik und Medien wieder einmal zum Krieg zu trommeln.
Überall und immer unbequem
Erich Mühsam war so ziemlich das Gegenteil eines dieser austauschbaren Mitläufer und Opportunisten, wie sie heute allerorts Karriere in der Politik machen. Doch vermutlich stellten Speichellecker auch damals den häufigsten und erfolgreichsten Politiker-Typus. Motto: Vorsprung durch Kriechen.
„Erich Mühsam war den Nazis, aber auch allen anderen Anhänger eines deutschen Obrigkeitsstaates als Jude verhasst, als Antifaschist, als Dichter des Klassenkampfes, als geistiger Anführer der Münchner Räterepublik.
Und verhasst war er ihnen vor allem, weil er bis zuletzt an der Utopie einer befreiten Menschheit festhielt“, schreibt Henning Venske, der auch als Mitglied der 1989 gegründeten Erich-Mühsam-Gesellschaft (7) das Andenken des Dichters bewahrt.
Angetrieben von seinem unabhängigen Geist eckte Mühsam zeitlebens an — auch in den eigenen Lagern. „Den ernsthaften Anarchisten war Erich Mühsam zu sehr Boheme und dichtete zu unpolitisch, dem seriösen Literaturbetrieb trank er zu viel und vergnügte sich zu sehr.“ Seine Schwabinger Boheme-Zeit kommentiert Mühsam: „Das expressionistische Gelall dient allenfalls dem Modernitätsbedürfnis der Bourgeoisie.“ Zum unbequemen, bisweilen besserwisserischen Mühsam gesellte sich auch der Mühsam mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden:
„Jederzeit spürbar ist Erich Mühsams Abneigung gegen autoritäre Strukturen und seine tiefe Verbundenheit mit den sozial Benachteiligten. Und immer beschreiben ihn Zeitgenossen als einen herzlichen, großzügigen und gütigen Menschen“ (8)
Spott für alle
„Eine Revolution ohne Tanz ist eine Revolution, die sich nicht lohnt“, sagt der Anarchist V in der Graphic-Novel-Verfilmung „V for Vendetta“ (9). Mühsam sah es ähnlich, denn bei allem Einsatz für ein besseres Leben sollte man nicht vergessen zu leben. Sprich: tanzen, lachen, lieben. Und albern sein. Aus Mühsams Feder stammen deshalb auch Liebesgedichte und allerhand köstliche Schüttelreime:
Die Männer, welche Wert auf Weiber legen,
tun dieses leider meist der Leiber wegen.
An der Liebe Niederlagen
lässt der Dichter Lieder nagen.
Mit einem starken Schweden ringen,
Ist nicht so leicht wie Reden schwingen (10)
Nach einem Besuch des Monte Verità am Lago Maggiore, wo eine größere Ansammlung von Aussteigern sich an alternativen Lebensweisen versuchte, darunter Künstler, Pazifisten und Vegetarier, verspottete Mühsam die humorlosen Anhänger der gesunden Ernährung als „Kohlrabi-Jünger“, vor allem aber, weil sie später Geld machten mit ihrem Lifestyle.
„Der Vegetarismus wurde zu einer menschheitsbefreienden Idee aufgepustet. Und als die Beteiligten aus dieser recht irrelevanten Weltanschauung ihre sozialen Träume nicht verwirklichen konnten, versuchte man es mit der ganz unmöglichen Verquickung eines ethischen Prinzips mit einem kapitalistischen Spekulationsunternehmen. Wie in solchen Fällen immer musste die Ethik hierbei den Kürzeren ziehen“ (11)
Sich fügen heißt lügen
Meinungsfreiheit stand bei Regierenden und ihren Institutionen nie hoch im Kurs. Mit 17 flog Erich Mühsam von seiner Schule in Lübeck wegen „sozialistischer Umtriebe“. Für Mühsam wohl eher Ansporn als Grund, klein beizugeben. Der Titel des Hörbuchs „Sich fügen heißt lügen“ ist eine Zeile des Gedichts „Der Gefangene“ von 1919. Da hatte Mühsam schon eigene Erfahrung gemacht mit der staatlichen Freiheitsberaubung: sechs Monate Festungshaft in Traunstein wegen „Verstoßes gegen das politische Betätigungsverbot und der Weigerung, am vaterländischen Hilfsdienst teilzunehmen“ (12).
Ich soll? Ich muß? — Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen beßre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen!
Das war’s — war’s das?
Interpret und Kommentator Henning Venske, geboren 1939, teilt mit Mühsam zwar keine Gefängniserfahrung, doch erarbeitete er sich in den 1970er-Jahren den Ruf als „Deutschlands meistgefeuerter Satiriker“, auch wenn Venske selbst dieses Prädikat für übertrieben hält. Immer wieder sprengten seine Beiträge den engen Meinungsfreiheitskorridor der staatshörigen Rundfunkanstalten, für die er arbeitete. Seine persönliche Freiheit fand er schließlich als Chef des Satiremagazins pardon und später als Kabarettist der Münchner Lach- und Schießgesellschaft sowie bei Solo-Auftritten.
Das Kabarett hat Venske mittlerweile aufgegeben, das Denken zum Glück nicht.
In seinem Online-Tagebuch „Das war’s — war’s das?“ schreibt er:
„ARD und ZDF haben das intellektuelle Schankrecht: Sie reden die Leute besoffen. Fast alle Medien bemühen sich nach Kräften, genau die Propaganda zu produzieren, die sie beim Feind so vorbildlich nachzuweisen versuchen“ (14)
Und ganz im Sinn von Mühsam sagte Venske zum Ende seiner Kabarett-Karriere:
„Lasst euch weder von Angstmacherei anstecken noch von Rassismus und dem Hass auf Minderheiten und Schutzbedürftige“ (15)
Stolperstein
Erich Mühsam, der schon eine sehr genaue Vorstellung davon hatte, was auf ihn zukam, lange bevor Adolf Hitler im Januar 1933 sein Regime antrat, hielt im selben Jahr seine letzte Rede:
„Und ich sage euch, dass wir, die wir hier versammelt sind, uns alle nicht wiedersehen. Wir sind eine Kompanie auf verlorenem Posten. Aber wenn wir hundert Mal in den Gefängnissen verrecken werden, so müssen wir heute noch die Wahrheit sagen, hinausrufen, dass wir protestieren. Wir sind dem Untergang geweiht“ (16)
In der Nacht des Reichstagsbrandes vom 27. auf den 28. Februar 1933 verhaftete die SA zahlreiche Oppositionelle, darunter Carl von Ossietzky und Erich Mühsam — einen Tag vor dessen geplanter Ausreise. Elf Monate später wurde Mühsam ins KZ Oranienburg gebracht, dort gefoltert und schließlich am 10. Juli 1934 ermordet.
„Henning Venske erinnert an Erich Mühsam“ — live 2024:
•30. April, Hamburg, Alma Hoppes Lustspielhaus
•28. Juni, München, Lustspielhaus
•5. Juli, Lübeck, Theater Combinale
•15. Juli, Kiel, Metropol—Theater
Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.
Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) „Sich fügen heißt lügen.“ Henning Venske liest und kommentiert Erich Mühsam. GoyaLit 2024, 1 CD, circa 100 Min., https://www.jumboverlag.de/sich-fuegen-heist-luegen-henning-venske-liest-erich-muehsam/index.php?cNG=540d887c-f20c-11ea-948b-001c42406321&productId=3610
(2) Ausschnitt aus Erich Mühsam: Kriegslied (1917)
(3) Ausschnitt aus Erich Mühsam: Der Revoluzzer (1907)
(4) Die zitierten Kommentare stammen von Henning Venske und sind in dem Hörbuch enthalten
(5) Erich Mühsams Tagebücher gibt es online unter https://muehsam-tagebuch.de/tb/diaries.php sowie als als Buchversion beim Verbrecher Verlag https://www.verbrecherverlag.de/autor_innen/erich-muehsam/
(6) Die Satire „Das Lebensprogramm“ handelt von einem Juden, der beschließt, sein Leben exakt nach einem detailliert ausgearbeiteten Plan abzuspulen — einschließlich seines auf den Tag genau fixierten Ablebens, was zu sehr komischen Entwicklungen führt.
(7) https://erich-muehsam.de
(8) vergleiche (1)
(9) Der 2005 erschienene Film „V for Vendetta“ von James McTeigue basiert auf der gleichnamigen dystopischen Graphic Novel von Alan Moore und David Lloyd aus den 1980ern. Sie handelt vom Anarchisten V, der Ende der 1990er-Jahre gegen eine faschistische englische Regierung kämpft.
(10) vergleiche (1)
(11) vergleiche (1)
(12) vergleiche https://www.muehsam.de/appl/lebensdaten.php
(13) Ausschnitt aus Erich Mühsam: „Der Gefangene“ (1919)
(14) https://www.venske.de/daswars-warsdas-chronik/
(15) https://www.venske.de/vita/
(16) vergleiche (1)