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Der Urschmerz

Der Urschmerz

Selbst wo keine groben Verfehlungen von Eltern erkennbar sind, können Kinderseelen durch Gleichgültigkeit und Vernachlässigung traumatisiert worden sein. Ein Exklusivabdruck aus „Der unerlöste Eros“.

Der geschichtliche Mensch hat in seinem Kampf gegen Liebe, Sex und Wahrheit eine solche innere Verletzbarkeit entwickelt, dass er nicht mehr aufhören konnte, die Verletzung an andere weiterzugeben. Eine Spirale des Schmerzes, des Verletztseins und des Verletzens wurde von Generation zu Generation, von Eltern an die Kinder weitergegeben. Oft ohne Wissen der Eltern. Haben denn die Eltern aller Kinder gewusst, was sie ihnen antun, wenn sie deren Liebesannäherungen ignorieren oder züchtigen? Weiß denn eine Mutter heute, wie sehr sie von ihrem dreijährigen Sohn verehrt und begehrt wird? Weiß denn ein Papa, wie sehr er für sein Kind Vorbild und Halbgott ist und wie sehr deshalb seine Handlungen hineinwirken in das Leben des Kindes? Sie wissen in den meisten Fällen nichts davon, weil sie entweder selbst so hart erzogen worden sind oder weil sie so verstrickt sind in ihre eigenen ungelösten Probleme, dass sie nichts mehr wahrnehmen können.

Wir brauchen für die Entstehung des Urschmerzes keine besondere Theorie aufzustellen. Es genügt, wenn wir zur Kenntnis nehmen, was bisher und bis heute mit Kindern geschieht in unzähligen Familien. Die unglaublichen und an Zahl absolut ungeheuerlichen Kindesmisshandlungen sind nur die Spitze des Eisbergs. Und dies alles in einem wohlsituierten Land wie Deutschland, dies alles im freien Westen. Kindesmisshandlungen sind eine offene, sichtbare Verletzung des Kindes.

Das traumatische Erlebnis, das mit dem Urschmerz verbunden ist, kommt aber noch viel öfter durch eine latente, dauerhafte Missachtung des Kindes durch Gleichgültigkeit und emotionellen Entzug, durch konsumistische Abfütterung und dergleichen.

Unsere Brave New World hat ihre eigenen Methoden entwickelt, um Kinder auf „sanftem Wege” für immer zu brandmarken.

Wer den Urschmerz erfahren hat, egal ob in der Kindheit oder später, versucht mit allen Mitteln, ihm zu entkommen und ihm nie mehr zu begegnen. Er wird instinktiv alle Situationen, alle Menschen und alle Ereignisse zu vermeiden versuchen, welche ihn an das Entsetzliche erinnern könnten. Er baut — ähnlich wie die befallene Stelle bei der Tuberkulose — einen Schutzwall um seine Wunde, damit niemand mehr daran rühren kann. Da diese Wunde fast immer im Bereich von Liebe und Sexualität empfangen wurde, liegt auch hier meistens der Schutzwall und die Vermeidungsstrategie der Betroffenen.

Man hat einmal geliebt, aber man wurde dabei so fürchterlich betrogen, enttäuscht oder bestraft, dass man sich nie mehr auf so eine Liebe einlässt. Dieser Schwur gegen die Liebe geschieht tatsächlich oft schon in früher Kindheit. Man muss die Gesichter von Zweijährigen gesehen haben, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen oder wenn sie die Welt der Erwachsenen nicht mehr verstehen können. Was für eine Macht der Verzweiflung — aber auch was für eine Macht des Willens steckt darin! Da werden Rachepläne geschmiedet in einem Alter, wo sich die Erwachsenen noch am süßen Stupsnäschen erfreuen. Wir sind, da wir alle aus ähnlichen, liebesfeindlichen Strukturen stammen, alle irgendwie gebrannte Kinder, und alle sind wir in der Liebe ganz besonders gebrannt.

Wo das Vertrauen eines Kindes auf die Gleichgültigkeit oder Geistesabwesenheit von Erwachsenen trifft, da entstehen immer Brüche in der Liebesentwicklung, die so leicht nicht mehr zu heilen sind.

Es prägen sich die sogenannten traumatischen Muster ein. Sie gelten für die meisten ein Leben lang und heißen etwa so: Sei vorsichtig, wenn du liebst. Lass dich nicht ein, denn wahrscheinlich wirst du doch betrogen oder verlassen. Es entsteht im Unterbewussten ein verhängnisvoller Film, der sich zusammensetzt aus Liebe, Verlustangst und Rache. Aus diesem grausamen Film ist die Liebeswelt unserer Gesellschaft bis heute mehr oder weniger zusammengesetzt.

Es ist mehr als verständlich, wenn sehr viele Menschen sich unter diesen Bedingungen auf das Abenteuer der Liebe und des Eros erst gar nicht mehr einlassen. Sie wählen bestimmte Vermeidungsstrategien, mit denen sie ihr Lebensschiff intelligent um die Klippen der Liebe herummanövrieren. Sie wählen zum Beispiel einen Lebenspartner, den sie eigentlich nicht lieben und auch nicht sexuell begehren, der ihnen aber doch genügend Aktionsraum bietet, um nicht ganz zu veröden. Oder sie entwickeln eine hohe Sittlichkeit des Gebens und Pflegens gegenüber anderen, weil sie selbst ganz darauf verzichtet haben, zu empfangen, da ihr größter Wunsch ohnehin nicht in Erfüllung gehen kann. Oder sie fluchen von vornherein auf alles, was sie eigentlich lieben. Das ist heute offenbar eine besonders beliebte Methode. Ich habe sie am eigenen Leib erfahren und sehe sie auch bei anderen: Je mehr die Leute einen lieben und verehren, umso mehr sehen sie sich genötigt, ihn zu beschimpfen. Kontaktaufnahme durch Ablehnung ist das Motiv dieser rätselhaften Methode.

Man könnte lange fortfahren mit der Aufzählung dieser merkwürdigen Dinge. Ich habe in marxistischen Kreisen, in denen ich sieben Jahre lang gearbeitet und mitgedacht habe, den Verdacht nicht abschütteln können, dass viele der Genossen in dieser politischen Arbeit einen Schutz suchen vor ihrem eigenen Liebesproblem. Ich habe nach und nach gemerkt, dass es vielen eigentlich egal ist, in welcher Partei sie arbeiten. Ob Rot oder Grün oder Braun oder Schwarz, die Farben waren fast austauschbar wie das Hemd, solange der innere Schmerz nicht beruhigt war.

Es ist ungeheuer, wie sehr wir geprägt sind von den seelischen Verwundungen der Vergangenheit. Und wir werden erst eine positive Erneuerung schaffen können, wenn wir diese Zusammenhänge sehen und ihre Wahrheit anerkennen. Das ist eigentlich einfach, denn jeder sieht ja die Zusammenhänge, wenn er bereit ist, hinzuschauen.

Aber eben das ist es ja: Er muss bereit sein, da hinzuschauen. Er wird diese Bereitschaft aber erst haben, wenn er glauben kann, dass sich dann eine positive Auflösung und Veränderung ergibt. Solange da nichts in Sicht ist, wird er weitermachen wie bisher. Aber wer, wenn nicht er selbst, soll denn anfangen mit der Erlösung aus diesem ewigen Bann? Warten heute immer noch alle auf den Messias? Nein, sie warten nicht mehr, sie haben die Glieder bereits gestreckt. Und sie hassen alle, die doch noch Hoffnung haben.

Ulrich Horstmann hätte ein so schönes Prophetenwort für sie alle gesprochen in seinem Buch „Das Untier”, wenn es nicht diese wenigen Kontradiktoren noch gäbe, die immer noch darauf versessen sind, das Leben zu lieben, die Liebe zu schützen und den Kindern eine schönere Heimat zu geben. Solange es diese Menschen gibt, solange gibt es auch eine Auflösung für den Urschmerz. Denn der innere Film, der aus der Vergangenheit kommt, braucht seine eigene Nahrung, um weiterzuleben. Unter menschlichen Bedingungen, die neu sind, weil Liebe nicht mehr bestraft und mit Verlassenheit bedroht wird, hat er keine Nahrung mehr und wird nach einiger Zeit von selbst erlöschen.

Die Vergangenheit ist vorbei. Die Fortsetzung des Urschmerzes und seine Wiederbelebung in den aktuellen Liebesbeziehungen ist eine ewige Reproduktion der Vergangenheit. Ob die Menschheit heute weiterkommt oder untergeht, hängt nicht ab von ihren politischen oder religiösen Bekenntnissen, sondern davon, ob die Bewusstesten und Engagiertesten diesen inneren Teufelskreis durchschauen und durchbrechen.

Neu wird das Leben erst, wenn es befreit ist vom unbewussten Trauma der Vergangenheit und wenn wir Strukturen der erkennenden Liebe schaffen, in denen die Ursachen des Traumas beseitigt sind. Therapie heute ist nicht mehr nur die Auflösung des traumatischen Knotens, sondern immer auch die Arbeit an neuen Strukturen und neuen Möglichkeiten für eine Liebe ohne Angst und ein Leben ohne Lüge.


Dieser Text ist ein Auszug aus: "Der unerlöste Eros" von Diether Duhm. Hier können Sie das Buch bestellen: Verlag Maiga


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