Wir leben in einer Zeit, in der das Ganze — das Leben, so wie wir es bisher kannten — auf dem Spiel steht. Lang bestehende ökologische, soziale und politische Krisen schaukeln sich in einer Weise hoch, die uns ratlos und ohnmächtig zurücklassen.
Um lebensbedrohlichen Situationen zu entkommen, hat die Evolution Mechanismen wie Kampf, Flucht, Verleugnung oder Unterwerfung in uns angelegt (1). Auch wenn diese Reaktionsweisen ein gewisses Maß an natürlicher Intelligenz enthalten, zeigen sie angesichts der Übermächtigkeit der aktuellen Probleme keinen Ausweg auf. Wie aber lässt sich unsere Handlungsfreiheit — der schöpferische Einfluss auf unser Leben und unser gesellschaftliches Miteinander — wieder zurückgewinnen? Antworten auf diese Frage finden sich unter anderem in der Existenzphilosophie, der Psychologie aber auch schon bei Platon.
Diese Antworten sind allesamt radikal. Sie gehen aufs Ganze. Sie erfordern unser ganzes Menschsein: das volle Spektrum unserer Kräfte, unsere Licht- und Schattenseiten. Sie fordern uns auf, nach dem Ganzen zu fragen: nach dem Sinn unseres Menschseins in der Welt und im Kosmos. Und sie rufen uns auf, angesichts ausweglos erscheinender Situationen nicht in Verzweiflung oder Nihilismus zu versinken, sondern radikal zu werden.
Radikal werden heißt: Ich dringe von den Oberflächen der Welt zu ihren Wurzeln — zum Ursprung aller Erscheinungen — und damit zum Wesentlichen vor, um mich auf das auszurichten, „was mich unbedingt angeht“ und zu erkennen, wer ich wirklich bin.
Die Entdeckungsreise zu unserem individuellen Lebenssinn und „wahren Selbst“ beginnt mit Platon. Der Mythos des Er am Ende seines Werks Politeia erzählt von der Seele, die sich in der jenseitigen Welt ihr Schicksal selbst auswählt, bevor sie das Licht der irdischen Welt erblickt (2).
Sie wählt ein Urbild oder Muster, griechisch parádeigma, das sie verwirklichen will, und legt damit ihren Lebensentwurf, ihr Los, griechisch kléros, selber fest. Dieses Los ist ihr Anteil an der umfassenden Weltordnung, ihre Bestimmung, ihre einzigartige Gabe an die Welt. Als Begleiter bekommt jede Seele einen Gefährten, einen Daimon, an ihre Seite. Er wacht darüber, dass sie ihre Bestimmung umsetzt. Die Idee eines Seelenbegleiters findet sich in vielen Kulturen. Bei den Römern war es ein Genius, im Christentum ist es ein Schutzengel und bei den Schamanen eine Tierseele. Für Poeten und Mystiker wird unsere Bestimmung als leise Stimme unseres Herzens vernehmbar. Und Michelangelo hatte die intuitive Begabung, im rohen Marmorblock das Seelenbild der Person zu erkennen, dessen Abbild er in Stein schlug. Bevor die Seelen nun ins menschliche Leben eintreten — so der Mythos weiter — gehen sie durch das „Feld der Vergessenheit“. Hier wird alles transzendente Wissen ausgelöscht, sodass der Mensch bei seiner Ankunft auf der Erde keine Erinnerung mehr an seinen Ursprung hat.
Der Mythos — ein Spiegel der Seele
Mythen wollen nicht informieren und uns mitteilen, wie sich etwas ereignet hat. Vielmehr verdichten sie innere Wahrheiten zu Bildern, Symbolen und poetischen Erzählungen (3). Lässt man sich auf diese Chiffren ein, können sie tiefe Erkenntnisse in uns wachzurufen. Platon würde sagen: Mythen können uns helfen, uns an das zu erinnern, was unsere unsterbliche Seele immer schon weiß (4). Viele Jahrhunderte später taucht die Idee einer einzigartigen menschlichen Bestimmung in einer anderen philosophischen Strömung auf. Die Existenzphilosophie, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, ruft den Menschen dazu auf, das zu verwirklichen was ihn „unbedingt“ angeht, um so die Einzigartigkeit seines Lebens — seine Existenz — zu verwirklichen (5)
In Freiheit wählt der Mensch sich selbst
Diese Existenz ist uns nicht von Natur aus gegeben. Sie ist Ausdruck unserer Willensfreiheit, unserer bewussten Entscheidungsfähigkeit. Im Laufe unseres Lebens, so der Existenzphilosoph Karl Jaspers (1883 bis 1969), wird der Mensch mit Grenzsituationen — mit tiefen Krisen und Erschütterungen — konfrontiert, die ihn an seine eigenen Grenzen bringen (6). In diesen besonderen Situationen ist die Erfahrung der Transzendenz möglich. Lässt sich ein Mensch darauf ein, kann er zu seinem „eigentlichen Sein“, zu seiner Existenz gelangen. Dazu aber muss er sich auf die Freiheit seines Willens besinnen und sich entscheiden, den „Sprung“ heraus aus der Verzweiflung „hin zum Selbstsein und zur Freiheit“ zu wagen (7).
Der Religionsphilosoph und existenzialistische Denker Martin Buber (1878 bis 1965) unterscheidet zwei Arten des Willens. Der „kleine Wille“ ist der von gesellschaftlichen Funktionen und Rollen, „von Dingen und Trieben“ bestimmte unfreie Wille. Um frei zu sein, so Buber, muss der Mensch seinen kleinen Willen dem „großen Willen“ opfern, indem er „vom Bestimmtsein weg auf die Bestimmung zu geht“. Der freie Mensch entscheidet sich immer wieder neu für seinen großen Willen und „glaubt an seine Bestimmung und daran, dass sie seiner bedarf“ (8).
„Er lauscht dem aus sich Werdenden, dem Weg des Wesens in der Welt; nicht um von ihm getragen zu werden: um es selber so zu verwirklichen, wie es von ihm, dessen es bedarf, verwirklicht werden will“ (9). Wie man dieses Lauschen auf die Bestimmung — auf das „aus sich Werdende“ — zu einer persönlichen und sozialen Praxis machen kann, zeigt der Aktionsforscher Carl Otto Scharmer in seiner Theorie U(10). Nicht nur die Philosophie, auch die Psychologie fragt nach der Einzigartigkeit des Menschen und seinem individuellen Lebenssinn.
Selbstwerdung in der Psychologie
In der Humanistischen Psychologie beispielsweise ist der Kern aller menschlichen Motivation die Tendenz zur Selbstaktualisierung. Sie ermöglicht die Selbstwerdung des Menschen und die Verwirklichung seines „vollen Potenzials“ (11). Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875 bis 1961) machte bei seiner analytischen Arbeit eine ähnliche Entdeckung. Er stellt fest, dass in der menschlichen Psyche ein Entwicklungsweg angelegt ist, der der Vermassung und Gleichschaltung des Einzelnen durch die Gesellschaft entgegenwirkt. Diesen innerpsychischen Prozess nannte er Individuation. Ist ein Mensch bereit, sich darauf einzulassen, dann fördert er dessen Lebensmuster — seine Einzigartigkeit und Ganzheit — zutage (12). Die Kräfte, die diesen Prozess antreiben, nannte Jung Archetypen. Das sind „unbewusste Motivationsstrukturen“, die die Weiterentwicklung anregen und über Symbole ins Bewusstsein treten (13).
Der Archetyp des Schattens beispielsweise konfrontiert uns mit all den Persönlichkeitsanteilen, die wir abgelehnt haben, und all den Erlebnissen und Ängsten, die in uns unerlöst geblieben sind. Lassen wir sie ins Bewusstsein, dann wird es möglich, sie zu bearbeiten, und zur Einheit der Person zu verbinden — so wie man die Scherben eines zersplitterten Gefäßes wieder zu seiner ursprünglichen Gestalt zusammenfügt.
Der Archetyp des Selbst ist eine übergeordnete psychische Instanz, die den Individuationsprozess steuert und zum Ziel führt. Er bringt alle Anteile der Persönlichkeit in Balance und ordnet sie um eine „transzendente Mitte“ an. Dieser Archetyp tritt über Symbole der Ganzheit wie einen Kreis, ein Muster, das um eine Mitte gruppiert ist, oder Symbole des Neubeginns wie der Geburt eines Kindes ins Bewusstsein.
Unus mundus — die Welt ist ein unauftrennbares Ganzes
In einen langjährigen Dialog zwischen Jung und dem Quantenphysiker Wolfgang Pauli (1900 bis 1958) kamen beide Wissenschaftler zu der Einsicht eines Unus mundus, einer Einen Welt (14). In dieser Weltsicht sind Geist und Materie, Inneres und Äußeres nicht voneinander getrennt, sondern korrespondieren miteinander. Eine unmittelbare Auswirkung dieses Einsseins war für Jung das Phänomen der Synchronizität, der sinnvollen Gleichzeitigkeit von psychischen und physischen Erscheinungen, die nicht über eine Kausalbeziehung verknüpft sind (15). In unserer Verstandeswelt — einer Welt getrennter Objekte, in der alles nach Ursache und Wirkung ab abläuft — müssen solche Erscheinungen als Zufälle abgetan werden. In einer Welt wechselseitiger Verbundenheit aber weitet sich der Bereich des Realen und Möglichen ins fast Unendliche.
„Wo das Ganze auf dem Spiel steht, brechen die Archetypen der Ganzheit auf.“
Was kann diese Aussage des Religionswissenschaftlers und Jung-Kenners Paul Schwarzenau (1923 bis 2006) für unsere Zeit, in der die Zerstörung von Natur und Kultur totale Züge annimmt, bedeuten? Liegt darin die Aufforderung, sich entspannt zurückzulegen, weil eine transzendente Macht es schon richten wird? Oder bedeutet es im Gegenteil: „Werdet wach, erkennt die schicksalhafte Qualität dieser Zeit, den Kairos! Nutzt die Gelegenheit, eurem Leben auf den Grund zu gehen, es in seiner Ganzheit und Fülle zu verwirklichen und ins Spiel zu bringen!
„Hinter dem Nebel unserer Verzagtheit liegt das Tor zu unserer Macht, Entscheidungen zu treffen und etwas zu erschaffen.“( Charles Eisenstein)
Werde ich es schaffen, meine Bestimmung zu verwirklichen und so meinen einzigartigen Beitrag zur Heilung der Welt leisten? Wird uns als Menschheit der Sprung aus dem Chaos auf eine höhere, geordnete Ebene des Seins und Bewusstseins gelingen? Für den US-amerikanischen Kulturphilosophen und Menschenrechtsaktivisten Charles Eisenstein sind diese Fragen ein Hinweis darauf, dass wir immer noch an eine Welt des Getrenntseins glauben. Wir sehen uns immer noch als unverbundene Einzelwesen, die in einem unabhängig von uns existierenden, uns stets fremd bleibenden Universum ihr Leben fristen müssen.
In seinem Buch Die schönere Welt, die unser Herz schon kennt, ist möglich stellt er dieser Welt der Separation die Welt des Interbeing gegenüber (16). Für ihn sind Fragen wie: „Werde ich es schaffen?“ oder „Werden wir es schaffen?“ ein Zeichen dafür, dass wir noch zu sehr an die Welt der Trennung glauben. Tauchen wir aber in die Welt der wechselseitigen Verbundenheit ein, so Eisenstein, dann verschwinden diese Fragen von selbst. Denn dann wissen wir:
Jede Veränderung in uns geht mit einer Veränderung in andern Menschen einher (17). Die „entmachtende Floskel der Separation“, so Eisenstein, besagt, dass wir es nicht schaffen werden, wenn sich nicht alle andern auch ändern, und dass es deshalb kaum eine Rolle spielt, was jeder von uns tun.
„Ich sage aber, dass tatsächlich alles an Ihnen liegt, ungeachtet dessen, was ich tue, und das alles an mir liegt, ungeachtet dessen, was Sie tun. (…) In der Welt, in der Sie getan haben, was Ihnen zukommt, werde ich auch getan haben, was mir zukommt“ (18).
Unserem Verstand müssen solche paradoxen Aussagen rätselhaft bleiben. Nimmt man sie aber als Koan, als einen Text, der sich nur intuitiv erschließt, dann führt er uns die Welt der wechselseitigen Verbundenheit, in die Welt der Nichtdualität (19).
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://hannavoss.de/gedanken/f/das-abc-meiner-arbeit-f-wie-fight-flight-freeze-fawn
(2) https://www.gottwein.de/Grie/plat/PlatStaat619b.php
(3) Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, Schaffhausen, Novalis Verlag, 1976, Seite 114 bis 115.
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Anamnesis
(5) https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Existenzphilosophie
(6) https://de.wikipedia.org/wiki/Grenzsituation
(7) https://www.nzz.ch/feuilleton/karl-jaspers-ein-philosoph-der-aufs-ganze-geht-ld.1460196
(8) Buber, Martin: Ich und Du. Stuttgart, Philipp Reclam junior GmbH, 1983, Seite 57.
(9) Ebenda, Seite 58.
(10)https://www.rubikon.news/artikel/das-flachland-verlassen
(11) https://www.carlrogers.de/persoenlichkeitstheorie-selbstverwirklichung-aktualisierungstendenz-universelle-formative-tendenz.html
(12) https://de.wikipedia.org/wiki/Individuation#Individuation_nach_Carl_Gustav_Jung
(13) Brumlik, Micha: C.G. Jung zur Einführung. Hamburg, Junius Verlag GmbH, 1993, Seite 51 bis 85.
(14) https://uni-tuebingen.de/fileadmin/Uni_Tuebingen/Fakultaeten/MathePhysik/Institute/ITP/Braeuer/Vorles/2015_SS_PAMP/03_Unus_mundus_S.pdf
(15) https://de.wikipedia.org/wiki/Synchronizit%C3%A4t
(16) Eisenstein, Charles: Die schönere Welt, die unser Herz schon kennt, ist möglich. Berlin und München, Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, 2020.
(17) Ebenda, Seite 325.
(18) Ebenda.
(19) https://de.wikipedia.org/wiki/K%C5%8Dan
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