Eine prophetische Kapitalismuskritik nahm vor einem Vierteljahrhundert die Corona-Pandemieregime vorweg und zeichnete sie in düsteren Farben: Die Seuche ist überall, Menschen werden zwangsgetestet und -isoliert, in Leprosorien gesperrt. Die dekadente Oberschicht der USA feiert ihren High-Tech-Kapitalismus in futuristischen Supertürmen in New York, die rund um das World Trade Center (WTC) konstruiert sind (die Story ist von vor 9/11).
Zuallererst ist an der deutschen Ausgabe dieser Graphic Novel die Übersetzung von Jens R. Nielsen zu loben, der einen fast wissenschaftlich akkuraten Anmerkungsteil anfügt: Slangausdrücke werden nicht nur übersetzt, sondern in ihren Hintergründen und Anspielungen auf Musik, Filme, Politik und so weiter erklärt. Sogar Bezüge zur heutigen Zeit zieht Nielsen, wenn er in seiner Fußnote zu Seite 29 den Begriff „civil rights cause célèbre“, von ihm übersetzt als „Bürgerrechts-Cause-Célèbre“, erklärt.
Solch ein berühmter Rechtsstreit seien zum Beispiel die Dreyfus-Affäre, der US-Justizmord an Sacco und Vanzetti oder der Fall Julian Assange gewesen. Da hat einer mehr drauf als die Mainstream-Medien bieten, deren duckmäuserische Kommentare zur Rufmord-Kampagne nebst Schauprozess gegen Julian Assange diese Einordnung nicht wagten — allein die letzte Wendung, den handfesten Beweis, dass der „Vergewaltigungsverdacht“ gegen den Wikileaksgründer auf einer Justizintrige und gefälschten Protokollen basierte, hat Jens Nielsen nicht aufgenommen.
Die Story der Graphic Novel
Der gealterte Porno-Produzent Woycheck — eine Anspielung auf Büchners „Woyzeck“, wie man in einer Fußnote von Nielsen erfährt — und vermutlich Alter Ego des Schöpfers der Story, Jamie Delano, wurde von einer Moralreform durch eine „intellektuell-feministische Präsidentendynastie“ ins Elend getrieben. Im Schatten der Mauer jagt er antiquarisch gehandelten — natürlich verbotenen — Pornoheften nach, um sie gewinnbringend zu verkaufen.
Diesen ersten Teil „Lebensgier“ zeichnete Frank Quietly in teils düsteren, teils popfarbig bunten Bildern im Möbius-Stil. Gesichtslose Sicherheitstruppen in schwarzen Seuchenschutzanzügen sprühen gelben Desinfektionsnebel und stecken Passanten eines Keimträger-Zwischenfalls in Zwangsjacken:
„Laut Gesundheitsstatut 30BB/49 sind Sie als biologisches Risiko der Kategorie 1 eingestuft worden. Sie werden unter medizinische Beobachtung gestellt und zur Isolation in eine staatlich zertifizierte Quarantäne-Einrichtung überführt.“
Woycheck landet auf Ellis Island, wohin Infizierte deportiert werden, doch er kämpft sich zurück aufs Festland und sogar bis hinter die Mauer, wo die Elite von Mode und Hightech-Konsum besessen an den Bildschirmen arbeitet oder stupide im Laufen aufs Handy glotzt. Prophetisch.
Der zweite Teil, „La Tormenta“ (Der Sturm), spielt in Florida, wo Jack Atlanta als Privatdetektivin arbeitet, die Tochter von Woycheck. Atlanta kennt ihren Vater nicht, er ahnt nur, dass irgendwo eine Tochter von ihm leben soll. Sie ist lesbisch, trägt Schnurrbart und kämpft sich handfest durch eine karibische Macho-Kultur, mit futuristischen Hilfsmitteln wie einem „Schlangenbeißer“ („patentierte intravaginale Vergewaltigungs-Schutzvorrichtung“), der mit messerscharfen Giftzähnen nach dem penetrierenden Organ schnappt.
Alles ist treffend gezeichnet von Warren Pleece, in mediterranem Daniel-Torres-Stil (Comic-Klassiker „Opium“), der die Figuren in stolzer Haltung wie Pin-Up-Karikaturen zeigt. Florida, das heißt 2020 das von den USA unabhängige Nova Florida, ist eine Mafia-Diktatur, schmutzig, korrupt, verseucht und in Endzeitstimmung getaucht, ein guter Hintergrund für eine Dirty-Jackie-Detektivstory.
Ein Girl ist verschwunden, Jack wird, obwohl schwer süchtig nach illegalem Online-Sex, mit der Suche beauftragt und beginnt im Leichenschauhaus. Dort sieht sie das erste Opfer von El Escultor (deutsch: Der Bildhauer), einem perversen Serienkiller, der seine Opfer chirurgisch zu Tier-Mensch-Hybriden entstellt ... Eine bizarre, aber stimmige Dystopie, die schon vor einem Vierteljahrhundert Belehrungen in Sachen Transgender nicht nötig hatte, garantiert nicht jugendfrei.
Jamie Delano, 2020 Visions: Lebensgier & La Tormenta, Dantes Verlag: Mannheim 2020, 156 Seiten, 22 Euro (US-amerikanisches Original 1997)
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